ich du er sie es. null DERHANK

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Название ich du er sie es
Автор произведения null DERHANK
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847616733



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sie gerade dafür ein bisschen zu mögen sich bemüht. »Lange waren die Straßen von L ungepflastert gewesen«, las ich Clara ein fast dreihundertjähriges Zitat aus meinem END vor, »sodass man ohne Stiefeln nicht zum Kirchhof, kein Einwohner zur Kirche, kein Kind an die Schule, kein Nachbar zum anderen hat kommen können, ohne bis über die Schuhe durch Koth und Wasser platschen zu müssen«. Wie schön war O gewesen!

      L dagegen eine sich gewerbetreibend verschandelnde Kleinstadt. Von wegen 'Stadt', kaum jemand zu sehen trotz so viel Straße und Hinweisschildern für dieses oder jenes Unternehmen, nur ein Blechmann, dem der Lack aus dem Gesicht blätterte, und der den molekulartrophologischen Selbstbedienungsmarkt bewarb. Alles so trostlos, und an den Häusern, besonders den älteren, figürliche und architektonische Verschlimmbesserungen derart, dass wir ein ehrlich verschlafenes Nest tausendmal bevorzugt hätten.

      Auf dem Weg zur Herberge war eine alte Bahnlinie zu queren, was nur durch den Bahnhof ging, der so verkommen war, dass wir den Eingang nicht fanden, den Eingang für den Eingang des Friseurs hielten, denn da war nur Friseurwerbung angebracht und kein Hinweis auf die Bahn und keiner, den man fragen konnte. Und ging man dann doch hinein, war das ein echter Grusel, diesen Bahnhofshallenversuch, diese menschenleere Unterführung der Gleise, diese Verwahrlosung zu betreten.

      Und dahinter? Wie fühlt man sich bei der Ankunft in der deutschen Tristesse, wie sie öder nicht sein kann? Die Tristesse heißt L, heißt Shopping, heißt Hauptstraße: eine baumlose, überbreite, mit zweigeschossigem, gedrungenem, sich nicht aufgeben wollendem Gebauten, an den Rändern ein weiterer Molekulartrophologiemarkt, was sonst, und ein Elektrofachartikelgeschäft und etwas wie eine Boutique oder ein aufgegebenes Sonnenstudio, vielleicht auch was ganz anderes, Hauptsache billig und zieht einem die letzte Mark oder den letzten Dollar aus der Tasche, seit der letzten Währungsunion ist es ja egal, woher oder aus welcher Zeit die Penunzen stammen, Cash as Cash can, ein dafür praktisch ensembliertes Konglomerat dieser ganz speziellen Armeleuteeinzelhandelei, kein störender Baum, und sogar der Friedhof war praktisch, ganz und gar praktisch angelegt: In L hatte sich die Mode durchgesetzt, die letzten Ruhestätten vollflächig mit großplattigen, hochglanzpolierten Granitmonolithen abzudecken. Die Toten, einmal unter die Erde gebracht, braucht niemand mehr besuchen; das spart Kosten und Aufwand, glänzt immer und hält ewig. Was es ja ruhig kann: Schenkt man den Nachrichten Glauben, sind diese Gräber die letzten der Menschheit, steht die Wissenschaft kurz davor oder schon dahinter, vollständige Scans und Back-ups eines jeden Menschen durchzuführen, zumindest soweit es das Einkommen zulässt, womit sich also zukünftig jederzeit und beliebig oft wiederauferstehen ließe und ergo das, was man bis dato als 'sterbliche Überreste' bezeichnet hat, womöglich bald tatsächlich nur noch ein 'Überrest' ist, für den es keiner Grabstätten mehr bedarf: ein ausgedienter Körper zum Wegwerfen, wie die abgelegte Haut einer Schlange, oder ein leerer Kokon, ein amputiertes Glied oder aber Leichnam eines Menschen ohne Geld, ein sozialdarwinistisch weggemendelter Menschenrest also, bei dem auch früher nie jemand auf die Idee gekommen ist, ihm posthum Respekt zu zollen.

      25.

      Thomas lacht, immer wieder, über irgendeinen Witz, oder über diesen Ort oder über den Friedhof, der ihm wie ein übler Scherz erscheint, er ist geradezu trunken von einem bitteren, beinahe zynischen Sarkasmus, aber deine Beine tun so weh, dass dir das entgeht, das Witzige daran, mit dem er seine Traurigkeit überspielt, nur er redet, zeigt hierhin und dorthin und lacht dich überdreht an, was sicher aufmunternd gemeint ist, während ihr das beklemmende, dicht an dicht gereihte Feld aus blanken, steinernen Platten durchquert, die dich an die Metalltafeln des Römerschlachtdenkmals denken lassen. Und daran, dass Willi es besser hat, mit seinem altmodischen Zierpflanzengrab, und daran, wie Thomas bei den Tafeln hinter dir gestanden ist, und daran, dass du das nicht vermengen willst, Willis Grab und diesen lebendigen Thomas, und daran, dass dein widerspenstiger Kopf es aber trotzdem vermengt, und du dir den Wunsch nicht einmal mehr verwehrst, er, Thomas, möge doch bitte endlich endlich still sein und einfach nur den Arm um dich legen und dich einmal halten. Doch als ihr gemeinsam das Gasthaus betretet, er in seiner modisch schillernden Abenteuererkleidung, du in deinem altmodischen Filz, da spürst du schon beim Anblick der Wirtin, dass manches nicht so werden wird, wie du es dir erhofft hast.

      26.

      Natürlich könnte sich Yukiko in der Nacht exklusiv ihrem FRIEND widmen, derweil ihr FRIEND über Nebenroutinen die sieben Aufrechten glücklich macht, es also ganz allein und selbstständig die weniger selbstständigen Maschinen bedient - die zum Gucken wie die zum Anfassen wie die, die alle erdenklichen sensuellen Dinge tun. Aber Yukiko hat den genetisch disponierten Anspruch, die Sache von ganzem Herzen, also mit Leidenschaft und hundertpro engagiert anzugehen, was sie nicht müsste, was auch ohne ihr physisches Dazutun nicht minder gut funktionieren würde, ihr physisches Dazutun das Überflüssigste an der Sache überhaupt ist, da Hanas Simulationen multipler Orgasmen den Herren die physischen wie die virtuellen Hirnwindungen regelrecht pürieren würde.

      Was sie sich verdient haben. Doch vorher ein mannhafter Drink am langen Tresen, und Yukiko mitten unter ihnen und die Wirtin mimend (auch das Teil ihres zeitvertraglichen Geschäfts, wie überhaupt die Besetzung von Führungspositionen im Tagelohn sehr im Kommen sind). Da ist zum Beispiel der kleine dunkelhaarige Dicke, der sich einen Tatarenschnurrbart hat wachsen lassen, was mit annähernd 50 trotz guter Grundkonstitution weniger tatarisch aussieht, als vermutlich gewollt, der kleine Dicke hat das Glück, neben ihr zu stehen und gibt ihr dafür in typischer Einsamer-Wolf-Manier ein intimes Geheimnis preis, ins linke Ohr geraunt, dass er sein Leben lang Schlachten schlägt, Quartalsschlachten für seine Firma, Akquisitionsschlachten, Abrechnungsschlachten, Zahlenschlachten mit Blut, Leib und Seele gewissermaßen ausgefochten, was Yukiko verrückt vorkommt, wie so einer sich im Geiste in einem historisierten Kampfgetümmel wähnen kann, mit Lanze und Schwert um sich schlagend, mit dem Schild über dem Kopf feindliche Attacken abwehrend, und selbst Schlachtplan für Schlachtplan umsetzend; jedes Geschäft eine neue Front, jeder Wechsel eine Attacke, jede eingegangene Zahlung ein Sieg, während er doch nur an einem Schreibtisch sitzt, ein Pad bedient und bestenfalls zwischendurch videophoniert. Verrückt, wie so einer all diese Kämpfe aus den Zahlenkolonnen herausabstrahiert, die seinen Screen ausfüllen wie das unsterbliche Pac-Man-Spiel. Obwohl nichts Figuratives darin ist, an Ziffern, nichts, was auch nur eine Form hat, keine Helden, keine Fighter, Monster, nichts, und ihm dennoch jeder Heller und Pfennig ein Soldat ist, einer der loszieht ins Gefecht, und der - »bring the Boys back home!« - heimzuholen ist. Jede Rechnung, die der Tatarenbart schreibt, ist eine Legion, und jede Zurückweisung, jede Kürzung in Wahrheit ein Gemetzel. Yukiko hat Mühe, sich die Zahlen als Krieger vorzustellen, eine Fünf ist einer, ebenso die Hundertacht, und die Zwölftausend auch, und als der Mann wehmütig wird, weil ihm eine große Schlacht einfällt, da nimmt sie ihn vollumfänglich in den Arm, »100.000 Fälligkeiten«, zischt er ihr ins Ohr, »Hunderttausend, die den Feind, den verhassten 'Kunden', in die Zange nehmen sollten, im Sturm, und dann das Sperrfeuer, das Fallen, das Sterben, das fürchterliche Streichkonzert, von manchen Einheiten kamen weniger als die Hälfte zurück, dezimiert, schlimmer als dezimiert, und der Vorstand hat geschrien 'Quintili Vare, eurones redde!'» Und am Ende hatte man keine 20.000 eingenommen und mehr als 80.000 verloren. Das erzählt der Tatarenbart Yukiko und Yukiko hört ihm zu und beneidet ihn fast, ihn, den Tatarenbart, der die wunderbare Gabe innehat, mit diesem algorithmischen Nichts ein lebenslanges Game zu spielen! Er kommt ins Schwärmen, der noch lange nicht alte Mann, und es beeindruckt Yukiko sich vorzustellen, wie er mit Anzug und gelockerter Krawatte, mit über dem Hosengürtel hängenden Bäuchlein, das Jahr für Jahr runder geworden ist und sich nicht mehr einziehen lässt, wie er, während er über den Velours-Flur geht, zum Kaffeeautomaten, vorbei an offenen Großraumbüros, in denen andere sitzen und arbeiten, wie er zu diesen seinen Mitstreitern geht, ihnen aufmunternd auf die Schultern klopft und er sich mit ihnen in einem ausgebombten Schützengraben wähnt, wie er »durchhalten!« sagt, gemeint ist ein Termingeschäft, aber in seinem Kopf ist es der Granatbeschuss feindlicher Artillerie, ringsum Explosionen und umherspritzende Schrapnells, und wie er beim Weitergehen an seinem Bart zwirbelt und Pulverrauch riecht und die Schreie der Gefallenen in seine Ohren gellen, und wie er aber sich davon nicht überwältigen lässt, wie er weitergeht, zum Automaten, und wie er, während Brühkaffee in seinen Plastikbecher tropft, nach Rache schreit, und