Название | Das Leben auf der anderen Seite |
---|---|
Автор произведения | Jörg Nitzsche |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738020779 |
Pünktlich zur Leipziger Messe, es sind etwa zwei Wochen vergangen, mache ich mich erneut auf den Weg in Richtung Berlin. Die Zeit dazwischen habe ich genutzt, um meine Eindrücke zu verarbeiten. Ich habe die Bilder von Petra nun auch in Farbe vergrößern lassen. Es gefällt mir zwar in Farbe besser, ein paar Freunde von mir finden sie aber eher häßlich. Eigenartig wie unterschiedlich Geschmäcker sein können. Von Manfred hatte ich zudem die Adresse einer Freundin in Dresden erhalten. Ein paar kleine Geschenke sind für meine Verwandten in Merseburg reserviert. Das liegt ganz nah bei Leipzig wie ich neulich auf der Karte gesehen habe. Hatte ich vorher echt keine Ahnung wo Merseburg genau liegt. Vor kurzen hatten sie auch uns besucht, und mich bei dieser Gelegenheit gleich eingeladen. Die Leipziger Messe hat mich am meisten interessiert. Es ist allerdings auch so ziemlich das einzige, was mir zu Leipzig aktuell einfällt. Man abgesehen von den Friedenskundgebungen im letzten Herbst, und meinen beiden Studentinnen aus Bulgarien. Ich habe mir vorgenommen, mir einen Blick hinter die Kulissen in der Provinz zu verschaffen und so den Grauschleier hinter allen den Gerüchten lüften. Was sich hinter dem voran gegangenen Satz genau verbirgt, weiß selbst ich nicht genau. Ich bin echt extrem gespannt, was mich in den nächsten zwei Wochen erwartet. Irgendwie witzig, wir haben schon jeden Quadratmeter auf dieser, unserer schönen Erde, erobert. Entweder touristisch oder der Bodenschätze wegen. Haben wir wirklich? Nein, denn jetzt können wir doch tatsächlich eine ganz neue und fremde Welt entdecken: Die DDR. Wir kennen England oder Italien, ja selbst Amerika und Australien besser, als Thüringen und Sachsen oder Mecklenburg Vorpommern. So nah, und doch so unzugänglich waren die Länder. Diese ganzen Schikanen, denen man nicht nur an den Grenzen ausgesetzt war, haben solche Ideen gar nicht erst zu Ende denken lassen. Nun können wir Dresden, Leipzig, Warnemünde oder Erzgebirge angucken. Das alles ist von einem auf den anderen Tag möglich geworden, geht die DDR unter. Erwarten tue ich eine DDR, die nach dem ganzen Trubel wieder in ihr altes Verhaltensmuster zurück gefallen ist. Soll heißen, daß nach der friedlichen Revolution und der damit verbundenen politischen Wende ein Volk wieder in seinen ganz eigenen normalen Alltag zurück gefunden hat. Denn ich möchte das Ursprüngliche der DDR-Lebensqualität entdecken. Mir graut im Geheimen vor dieser Ochsentour zumal ich unter Umständen schon heute ganz bis nach Merseburg durchfahren muß. Da bei mir alles sehr spontan abläuft, konnte ich mich bei Petra nicht vormelden, wie sie erbeten hatte. Also wieder ein Überfall mit der vagen Hoffnung, dieses Mal vielleicht bei ihr übernachten zu können. Ich fahre dieses Mal jedenfalls gleich mit dem Auto nach Ostberlin rein, was sonst, und auch in ihre Straße. In Ost-Berlin dann aber zu ihr zu finden verläuft ziemlich chaotisch. Einmal fahre ich in eine Sackgasse, die direkt am Todesstreifen endet. Dann in die Kastanienallee, wo ich nach dem richtigen Weg frage. Ich bin erstaunt wie freundlich und hilfsbereit sich die Menschen umdrehen um mir den Weg zu weisen. Eine graue Straße, in der viele alte Menschen wohnen, die dieses Jahr das erste Mal seit 1933 wieder frei wählen dürfen. Ob diese Menschen hassen oder traurig sind über die vielen verschenkten Jahre? Sie sind so freundlich, kann sein, daß sie glücklich sind, wenn sie jemanden weiterhelfen können; glücklich sind, weil sie das gute in uns Westlern vermuten, oder einfach nur ein bißchen Hoffnung haben. Das Schicksal hat ihnen weitaus schlechter als uns mitgespielt. Aber ist es nicht auch unfair von mir den Menschen hier eine Lebensunzufriedenheit zu unterstellen, vielleicht sind sie doch glücklich mit ihrem Leben. Ich würde fast sagen hier ging es doch allen, oder besser, fast allen gleich gut. Bei uns sieht man doch am ehesten, was man alles nicht hat aber gerne haben würde, um zu einer der elitären Gruppen dazu zugehören. Nach dreißig Minuten sinnloser Gurkerei komme ich endlich an. Heute ist so ein super Wetter, dadurch ist ein bißchen dieser geheimnisvolle Schleier dieser Stadt gewichen, aber den Flair des "Anders seins" versprüht Ostberlin allemal noch. Insbesondere die Straßen abseits des Propaganda-Berlins vermitteln einen schweren Duft, nicht den einer weiten Welt. Möglicherweise die originale Berliner Luft, die man früher schon einmal in Flaschen kaufen konnte. Das ist kein Witz, auch Berlin hat seine Originale gehabt. Gerade weil mich das Alte so fasziniert, habe ich mir als einzigen Programmpunkt Köpenick vorgenommen. Alles andere will ich auf mich zukommen lassen. Ich treffe Petra überraschenderweise an. Sie muß leider heute arbeiten, und auch sonst ist mit ihr nicht gut Kirschen essen. Sie muß in ihrer Wohnung reine machen. Ich störte da natürlich. So gehe ich eine Zeitlang noch mal an die frische Luft. Aber dann reicht es mir, ich will heute noch was sehen, und wenn sie sich pingelig anstellt, dann ist das ihr Problem. Ich also wieder hoch, sie macht gerade Kaffee und wir unterhalten uns wie alte Freunde. Eine irgendwie geartete Spannung gibt es zwischen uns keine mehr. Das liegt aber an ihr. Sie hat bisher alles, was ich so erzählte, mit Gelassenheit aufgenommen. Kein Interesse für die Lebensumstände im Westen, geschweige denn für meine Interessen. Insofern bleibt es bei einer nüchternen Unterhaltung. Hat wenig Pepp die Frau. Nur zum Anschauen, das ist mir doch zu wenig. Aus allem, was sie aber so von sich gibt, höre ich Zweifel jeglicher Art. Ein Mensch voller Zweifel? Ob sie mit ihrem Leben nicht klar kommt, kann ich nicht beurteilen. Zu wenig läßt sie mich in sich hineinschauen. Mein Verdacht, daß sie womöglich auf den Strich geht, bzw. sich in feinen Hotels den Männern anbietet, erhärtet sich ein bißchen. Darauf spreche ich sie natürlich nicht an. Da sie sich mir auch nicht offenbart, kann ich ihr letztlich auch keine Hilfe anbieten. Was soll's, zwischen uns wird sich sowieso nie etwas abspielen. Jedem das seine. Ostberlin ist dem Westen sicher immer näher gewesen, als der Rest der Republik und doch, wenn ich gerade diesen Moment mit Petra erlebe, scheint mir da eine unüberwindbare Kluft zu existieren. Wir vereinbaren, daß ich in etwa zwei Wochen auf der Rückfahrt vorbeischaue, mich ansonsten telegrafisch melde. Was anderes ist in der DDR eh nicht zweckmäßig. Dieses Telefonnetz ist schon echt ein Kreuz. Ich fahre Petra noch zu ihrer Arbeitsstätte, dieses Mal finde ich mich auf dem Hinterhof der Meeresgaststätte, der Anlieferung, wieder. Ich werde hier auch parken, überlege ich kurzfristig. Während sie also durch die Personaleingangstür verschwindet, esse ich noch meine Stulle von Zuhause, und hänge meinen Gedanken nach. Auch über die Bekanntschaft mit Petra, mit dem Ergebnis sie als eine von vielen abzutun. Petra ist ein Mensch in deren Inneres ich nicht hinein zu gucken vermag. Einer Maske ähnlich, würde sie sie ablegen, könnte ich den Grund ihre Verletzlichkeit möglicherweise erkennen. Sie entweicht mir aber jedesmal bei meinen Versuchen hinter ihre Fassade zu schauen. Vielleicht ein Schutz, vielleicht aber auch ein Problem für sie, sich ausgerechnet einem Wessi zu offenbaren. Immerhin habe ich noch gar nicht überlegt wie stark die sozialistische Anti-Kapitalistische Propaganda in ihrem hübschen Kopf gewütet hat. In der Schule mit Staatsbürgerkunde, in der FDJ mit ihren bekannten Parolen, da könnte einiges hängen geblieben sein. Petra hat sich in diesem System eingerichtet wird es mir schlagartig bewußt. Ich hab das Autofahren satt und ziehe die S-Bahn auch schon deshalb vor, um einmal mit ihr gefahren zu sein. Berlin Alex in Richtung Erkner nach Köpenick. Die Ausschilderung ist sehr ungünstig.
Zwanzig Pfennige konnte ich gerade noch verkraften. Das ist genauso teuer wie einmal pinkeln, geht es mir erneut durch den Kopf. Das Wetter hat total umgeschlagen, richtig ungemütlich ist es mit einem Mal, kalt und mit leichten Schauern vermischt. Im Grunde nicht das Schlechteste, wenn man etwas besichtigen möchte. Es ist mir direkt unangenehm an der Bahnhofskasse zwanzig Pfennige zu bezahlen, da kann man ja gleich schwarzfahren. Es macht Spaß mit der S-Bahn zu fahren, die Leute zu beobachten wie sie ein und aussteigen. Es ist einfach alles spannend für mich, weil neu und anders. Ich versuche in allem etwas Besonderes zu sehen. In der S-Bahn ist alles heil. Zwar alt aber heil. Keine Bezüge mit dem Messer aufgeschlitzt oder Scheiben mit der Sprühdose bekleckert. Immer wieder komme ich dabei auf so kuriose Gedanken wie ob diese Menschen auf den Sitzen mir gegenüber glücklich sind, wo sie wohnen, ob der Mann da eine Familie hat. Ob sie wissen, daß die Grenzen seit vier Monaten auf sind.