Das Leben auf der anderen Seite. Jörg Nitzsche

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Название Das Leben auf der anderen Seite
Автор произведения Jörg Nitzsche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020779



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Währungsunion, die Ablehnung des Milliardenkredits an Modrow, die Kohl gewähren wollte, die Fernseher, die zwar nur noch die Hälfte kosten, aber immer noch viel zu teuer sind durch das viel zu geringe Warenangebot und dabei im Vergleich zur Westqualität schon als antiquiert zu betrachten sind und viele weitere solcher Meldungen scheinen bei ihm wie Stromstöße zu wirken und seine Gehirnwindungen zum Glühen zu bringen. Es mangelt jedenfalls nicht an Meldungen an denen sich mein Onkel nicht seinen Aggressionsstau abbauen kann. Meine Tante und mein Onkel sind aber auch ehrlich empört darüber, daß sie über die ganzen Jahre so beschissen wurden. Die meisten Ost-Bürger haben solchen Beschiß wohl nicht einmal vermutet. Solche Gefühlsbekundungen sind für mich, zugegebenermaßen, schwer nachzuempfinden. Meine aktuellen Momentaufnahmen dagegen lassen mich alles in angenehmeren Farben erscheinen als sie wohl für viele hier wirklich waren. Leben doch gar nicht so schlecht hier, denke ich immer mal wieder. Schlecht gings denen da drüben nicht, sie haben wohl das notwendigste erhalten. Diese Lust sich künstlich aufzuregen damit scheint mein Onkel ein bißchen zu kokettieren, kommt es mir in den Sinn. So kommt es mir vor. Aber vielleicht steckt doch mehr dahinter. Ich hoffe ja inbrünstig, daß ich in den nächsten Tagen vieles von diesem Leben hier in der DDR hautnah miterleben werde. Nach dem reichhaltigen Abendbrot, daß man schon als Festmahl bezeichnen könnte, verspüre ich den Drang, noch ein bißchen meine Füße zu vertreten. Und so mache ich noch eine Runde in Richtung Bahnhof. Ich brauche Ihre Straße nur in östlicher Richtung verfolgen und komme so ganz automatisch zu den Schienen, so leitet mich meine Tante noch kurz. Auf der Straße spüre ich sofort wieder diese dicke Luft. Diese Kohle laste auf meiner Lunge wie ein gigantischer Lungenzug aus einer Havanna. Obwohl ich diesen Kohlegeruch wahnsinnig gerne riechen mag, warum weiß ich selber nicht, so ist das sonst im Allgemeinen einfach nur ein Geruch. Hier aber atme ich reinen Kohlenstaub ein, so kommt es mir vor. Aber abgesehen davon ist natürlich auch die Sicht hier ein undurchdringlicher Nebel, der mir alles nur schemenhaft darstellt. Was stellen Leuna und Buna eigentlich her? Ist der Scheiß in den Gerüchen mit eingebunden, oder rieche ich nur Kohle? Auch die Menschen, die mir irgendwo in Sicht kommen scheinen alle nur Schatten zu sein. Nur wenn sie auf mich zu kommen bekomme ich auf einen Meter Entfernung heraus, daß vor mir ist wirklich das Antlitz eines junges Mädchen oder eine älteren Frau. Und ich schaue jedesmal verwundert wenn es dann ein wirkliche Schönheit ist die an mir vorbei huscht, und wenn ich mich nach ihr umschaue, sie schon wieder nur noch ein dunkler Schatten ist, der sich langsam im Nebel auflöst. Erinnert mich an die alten Agententhriller, die immer gerne in nächtlicher Atmosphäre spielen, so daß der Täter im Nebel und auf den feuchten Straßen, wo einen das wenige Licht kurzzeitig blendet, nicht erkannt wird. Ein übrigens teilweise auch durchaus beklagenswerter Verlust an Reizen, denn nichts in der DDR, auch ihre Idyllen nicht, wird je wieder so sein, wie es mal war. Genug von diesem Abenteuer, wieder zurück lassen wir den Abend gemütlich bei Bier und Brause ausklingen, und die kommt sogar schon aus dem Westen. Beide müssen sie morgen recht früh aus den Federn, mein Onkel sogar schon um halb sechs. Ich mache mich kund in der Wohnung, wo ich mein eigenes Kinderzimmer habe. Das Bett ist schon bezogen. Leider muß ich das Fenster geschlossen halten, bin es eigentlich gewöhnt bei offenem Fenster zu schlafen. Aber die Luft da draußen ist echt der Hammer. Es gibt in der Wohnung nur einen bescheidenen, sehr engen Waschraum, mein kleines Gästezimmer, ein Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer. Bei normalen Ansprüchen und einer Miete von sage und schreibe DDR-Mark 56,— kann man sich kaum beklagen. Mein Zimmer ist ausreichend geräumig für einige Tage. Ich schlummere selig ein ohne eine Ahnung davon zu haben, daß ich morgen mein dunkelstes Kapitel meines gesamten DDR-Trips erleben werde.

       Mein Erlebnis beim russischen Militär

      Ich habe insgesamt doch recht schlecht geschlafen, mich die gesamte Nacht von einem Ohr auf das andere gewälzt. Ich mußte das Fenster dann doch mal öffnen, aber dann wurde es höllisch laut, weil die Russen mit ihren schweren Militär-Brummern direkt vor meinem Fenster lang pesen. Die Motoren haben eine unwahrscheinliche Lautstärke. Selbst normale Dieselfahrzeuge sind hier viel schlechter abgedämpft. Also mußte ich das Fenster auch aus diesem Grunde wieder schließen. Ich stehe daher viel zu früh auf. Es ist 6 Uhr am Dienstag Morgen und ich stehe nicht gerade stramm, aber schlafen ist einfach nicht mehr möglich. Meine Tante ist leicht verwundert mich schon jetzt zu sehen, sie liest sich wie jeden Morgen durch ihre Bücher, bis sie selber los muß. Wir frühstücken zusammen, es gibt aufgewärmte Brötchen die mir ausgezeichnet schmecken. Für's Frühstück nehmen sich die beiden viel Zeit, und haben auch morgens immer gut aufgedeckt. Diese Auswahl an Konfitüren und Käse ist überwältigend. Wenn ich ahnen könnte was mir heute noch bevor steht könnte ich das hier fast als eine Henkersmahlzeit mir zuliebe verstehen. Vielmehr, so haben sie mir gestern Abend schon erzählt, ist Essen für sie Luxus gewesen, den sie sich immer gerne geleistet haben. So gehört zum Beispiel Käse zu einer ihrer Leidenschaften. Auch jetzt am Morgen strahlt mir eine ausgezeichnete Käseauswahl entgegen. Ich habe noch nie Harzer am Morgen gegessen. Ich hatte immer gedacht, mir würde schon beim bloßen Anblick am frühen Morgen davon schlecht werden. Schmeckt aber ausgezeichnet. Auch alles andere schmeckt mir gut, der Kaffee kommt außerdem von mir. Meine Tante empfiehlt mir, da das Wetter super zu werden scheint, mich in den Straßen umzuschauen. So nimmt die Geschichte ihren Lauf. Warum habe ich bloß die Kamera mit genommen? Im Nachhinein hätte ich mich Ohrfeigen können. Draußen dagegen strahlt mir schon die Sonne angenehm ins Gesicht, und nach kurzem Brainstorming laufe ich ohne Plan und Gedankenlos die Carl-Schorlemmer-Straße zum anderen Ende hin. Auf linker Seite der Straße, wo auch mein Onkel und meine Tante wohnen, stehen einige Reihen hintereinander diese gleichen zweistöckigen Mietskasernen. Dann, vielleicht dreihundert weiter hausen die russischen Soldaten mit ihren Familien. Schön verwahrlost, denke ich beim Vorübergehen. Das ist auch so ein Kakerlakenvolk welchem jeglicher Sinn für Wohnkultur abgeht, denke ich so vor mich hin. Wieso haben die keine Kultur? Die konnte sich aufgrund der vielen Revolutionen scheinbar nicht mehr richtig entwickeln. Dabei gab es im 19.Jahhundert eine bemerkenswerte Musik- und Kulturszene in St. Petersburg und Moskau. Die Menschen aber kamen selten zur Ruhe und das ist auch heute noch so. Wenn ich den Sozialismus als eine Kultur bezeichnen müßte, dann ist es eine Kultur der eigenen Selbsterniedrigung. Wie sonst soll man diese asozialen Bedingungen an ihren eigenen Landsleuten verstehen. Propagieren sich gerne auf Weltniveau und hausen wie die Schweine. Ich weiß nicht ob das ein Gag von meiner Tante war aber sie meinte mal, daß hier neu stationierte Russen nicht wußten wozu Toiletten dienen sollten und wuschen statt dessen ihr Gemüse im Schnellwaschgang darin. Dafür hatten sie ursprünglich die Waschmaschinen genommen, die jetzt auf der Straße landeten weil sie überflüssig wurden. Ne, das ist nun wirklich ein Scherz von mir. Die Straße endet mit einem Mal und führt als Sandweg weiter. Alles was sich meinem Blick vor mir eröffnet wirkt recht befremdlich, etwas Verbotenes zu tun übermannt mich. Längs des Sandweges stehen linksseitig noch Schrebergärten und gleich im Anschluß erblicke ich ein mit Stacheldraht umzäuntes Militärgelände. Erkennbar an dem Wachturm der gut 30m von mir entfernt steht. Eine Soldatenmarionette in Form eines jugendlichen Soldaten darin, dem der Dreck seit Wochen auf der Haut zu kleben scheint. Er beachtet mich kaum. Der ausgetretene Feldweg verläuft direkt am Zaun entlang. Ich gehe geradeaus in Richtung Westen bis zur nächsten Ecke wo das Militärgelände in diese Richtung ebenfalls endet. Da hinter Zaun und Wachturm noch eine unüberschaubare Mauer steht, kann ich die Ausmaße des Geländes nur erahnen, aber es scheint nur ein kleines quadratisches Gelände zu sein. Von der besagten Ecke sehe ich in einiger Erfahrung die nächste Ecke des Militärgeländes und einen weiteren Wachturm. Ich denke mir nicht viel dabei, und bewege mich unbekümmert in Richtung Süden weiter an diesem Zaun entlang. Zwischendurch muß ich zwar gelegentlich größere Schritte unternehmen um irgendeiner Unebenheit auszuweichen, aber allgemein ist es ein gut ausgetretener Weg. Weiter weg höre ich Düsenjäger starten, das muß der Russische Militärflughafen sein von dem mir mein Onkel erzählt hat. Das Militärgelände zu meiner Linken wirkt dafür auch etwas klein zum Landen und Starten. Das Schild vor dem Zaun – Spruch ist nur auf Deutsch: „Sperrgebiet – Unbefugten ist das Betreten, befahren und die bildliche Darstellung verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft.“ Meine Gedanken kreisen währenddessen nach Leipzig, zur Messe aber hauptsächlich zu Corina und Catharina die ich heute besuchen will. Obwohl es im Grunde auf den einen oder anderen Tag nicht wirklich ankommt. Meine beiden Begleiterinnen aus Bulgarien. Wir haben uns schon mehrmals geschrieben und sogar angemeldet