Das Leben auf der anderen Seite. Jörg Nitzsche

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Название Das Leben auf der anderen Seite
Автор произведения Jörg Nitzsche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020779



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auf diese Wachtürme mit ihren Kindersoldaten darin kann ich nichts Militärisches ausmachen. Dafür geradeaus ein total zerklüftetes Feld. Oder besser Felder, die zwar bearbeitet aussehen, aber gleichzeitig auch eigenartig unbewirtschaftet. Ich bin nun am zweiten Wachturm vorbei und erblicke südöstlich, die Sonne erhebt sich hinter meiner linken Schulter, ein Ruinenplateau. Ich vermute aus dem zweiten Weltkrieg übriggeblieben, und seitdem nicht mehr begangen worden. Komische Atmosphäre jetzt gerade, wie die Ruhe nach einem Sturm. Könnten Bunker gewesen sein. Ich bin ein bißchen nervös. Durch den Frühtau ist alles sehr feucht, etwas nervig mit meinen Sportschuhen. Trotzdem zieht mich die Neugier immer weiter. So eine Barackensiedlung ist gleich dahinter zu sehen, vielleicht sind das diese klassischen DDR-Datschen. Ob die bewohnt sind? Ich versuche mich durch Verhaue und abgestellte Holzzäune durchzuzwängen, als plötzlich ein Hund auf mich zu sprintet und einen Höllenlärm macht. Eine verrückte Gegend ist das hier. Zum Glück bekomme ich den Zaun noch rechtzeitig zu sonst hätte ich den Köter jetzt am Hals. Ich fühle mich beim Anblick um mich herum an den Film Mad Max erinnert. Ich will wieder umdrehen, aber wie das immer so ist, noch einen Schritt weiter und noch einen und plötzlich lande ich dann doch bei diesen Bunkern. Tunnelartige Betongaragen, aufgeteilt in kleine Parzellen, rundum mit Beton verkleidet, wobei die Dachplatten, 10-15cm dick, teilweise schräg in den Tunnelgang eingefallen sind, oder zerplatzt sind und nun eingebrochen in diesen Gängen liegen. Alles mit Gras und Pflanzen zugewachsen. Dieser Gang führt direkt zu einem anderen zweistöckigen Betongebäude, dessen eine Hälfte ebenfalls eingefallen ist, und aus diesen Betonresten schauen völlig wirr hunderte von zentimeterdicken Stahldrähte heraus. Das ist alles sehr undefinierbar hier, aber auch nicht wirklich interessant. Keine Ahnung was das mal gewesen sein soll. Vielleicht ja mal ein Schutz vor Raketentests im 2. Weltkrieg, oder irgendwelche Schützengräben. Unbefriedigter Dinge ziehe ich wieder ab, langsam gen Heimat. Langsam und vorsichtig auch, weil ich sonst verdammt nasse Füße bekomme. Schon die ganze Zeit habe ich das Gefühl verbotenes Territorium zu begehen. Vor der Wende hat sich bestimmt keiner hergewagt. Ich komme wieder an diesen Baracken vorbei, da hausen doch welche? Irgendwie alles total schräg hier. Wieder auf diesen Sandweg gelangt, etwa zwischen beiden Wachtürmen mache ich dann diese blöde Sache, über die ich gar nicht nachdenke. Ich hole meine Leipzigkarte heraus, um mir den Weg zu überlegen, wie ich nachher zu den beiden nach Leipzig finde. Zur Tarostraße muß ich und in aller Seelenruhe suche ich den Stadtplan ab. Die russischen Heinzis können das natürlich sehen. Und Fotos zur Sonne hin mit ein paar Wohnhäusern im Vordergrund machte ich auch noch. Ich bin kaum ein paar Meter an dem letzten Turm vorbei, als ich plötzlich irgendwelche Laute vernehme, die ich richtungsmäßig zuerst gar nicht orten kann. Immer wieder Schreie, bis ich feststelle, daß dieser Späher auf dem Turm dieses Gekreische von sich gibt. Er ruft so ein blödes Zeug, was ich nicht verstehe, bis ich mich umdrehe und bemerke, daß seine Kalaschnikow auf mich gerichtet ist. Da erschrecke ich schon. Er will mir klarmachen, daß ich meine Kamera auf den Boden legen soll. Ich bin wenigstens so resolut und tue es nicht. Lieber tue ich so, als verstehe ich ihn nicht. Ich denke an abhauen, aber wenn er nun wirklich schießt. So stehe ich ziemlich ratlos da, und wanke mit Unentschlossenheit. Er benutzt so ein Telefon mit so einer Drehorgel, und quakt etwas in den Hörer. Sein Blick dabei konzentriert auf mich gerichtet. Währenddessen kreuzen drei weitere Kinder mit Gewehr im Anschlag auf. Ich rechne damit, gleich wieder abduften zu dürfen. Mit gespielter Coolheit lauf ich parallel mit den dreien am Zaun zurück bis wir an einem Tor ankommen. Es ist vielmehr so ein klappriges Metallzauntor, welches mit einem ordinären Schloß verbunden ist. Jetzt bin ich angeschissen, denn jetzt bin ich nämlich richtig drin in dem militärischen Bereich. Bei mir geistert schon der Gedanke von wochenlangem Eingesperrt sein. Und keiner kann mir helfen, denn keiner weiß ja was vorgefallen ist. Mit drei Waffenläufen im Rücken geht es weiter auf einem betonierten Doppelstreifen entlang. Umlaufen wir den halben Komplex bis wir eine Baracke erreichen. Der Komplex ist etwas größer als ich zuerst gedacht habe. Es ist trotzdem nur eine kleine Kaserne. Alles ist ziemlich heruntergekommen. Die meist jungen Soldaten auf die ich treffe, sehen aus, als sind sie schon seit Monaten in einem Stellungskrieg. Auf die Situation nicht vorbereitet, erwartete ich eher Freundlichkeit, als wie ich tatsächlich behandelt werde. Total ernste, um nicht zu sagen verbissene Gesichter, wütend, als hätten sie ernsthaft einen Spion ausfindig gemacht. Daß die Russen sich dabei wie komplett Gestörte verhalten, kann natürlich nur mir so erscheinen, der so etwas höchstens aus James Bond Filmen kennt. Alles Lächerlich, aber eben doch das wahre Leben. Die Russen sind vielleicht nicht unbedingt asozial, sie wirken nur wie Steinzeitmenschen. Nach dem Kriege in Deutschland wußten angeblich manche nicht wofür Wasserhähne gut sind. Wie kann Wasser aus der Wand kommen, oder sie benutzten eben Toiletten als Spülung für ihre Speisen. Aber vielleicht sind das auch alles nur Gerüchte. Oder sie haben tatsächlich ins Waschbecken geschissen und ihre Hände im Klosett abgespült. Meine Tante hat direkt Mitleid mit ihnen. Das kam wohl nicht oft vor. Die meisten spielten das Spiel nur mit, wirklich sympathisieren mit den Russen taten nur wenige DDR-Bürger. Es gab ja auch kaum Kontakte, und gewollt sowieso nicht vom großen russischen Bruder. Meine Sachen werden durchsucht, ich werde etwas unsanft behandelt. Mist, muß ich die Sachen später desinfizieren? Es wird wieder telefoniert, und mir stehen Gesichter gegenüber wo ich denke die fangen gleich an zu grunzen und zu muhen. So bescheuert gucken die aus der Wäsche. Merkwürdigerweise denke ich aber im gleichen Moment was für arme Schweine. Tun die mir wirklich leid? Was für ein Leben führen die? Diese Menschen scheinen hier rechtlos zu sein, nur befehlsausführende Figuren, die mir da gegenüber stehen. Nicht das kleinste Anzeichen in ihren Gesichtern, daß irgend etwas von Freude oder glücklichen Momenten widerstrahlt. Andererseits wirken sie auch nicht so auf mich, als daß sie mir was antun wollen sondern so als würden sie gerne mit mir in Kontakt treten. Vielleicht liegt das an meiner ruhigen, nicht feindseligen Art. Ich weiß selbst nicht warum, aber wirklich genervt bin ich ob meiner aktuellen Lage nicht. Leichtes Zucken in ihren Gesichtern als Zeichen der Ratlosigkeit als ich ihnen zulächele. Deutsch versteht keiner von ihnen. Ich will wissen, was da jetzt passiert. Meine Sachen liegen im anderen Teil des Raumes, der nur mit einer halbhohen Glaswand abgegrenzt ist. Russisch verstehe ich wiederum nicht, und so kann ich an ihren Mimiken nur deuten, daß wohl selbst die höher gestellten Soldaten gerade überlegen was sie mit mir anstellen sollen. Mir schwant böses. Es sieht hier alles sehr einfach aus. Auf einer einfachen Bank sitze ich. Hoffentlich dauert es nicht so lange. Ich habe Angst um meinen Film. Warum lacht hier keiner. Fürchterlich ernst die Truppe. So vergeht eine halbe Stunde, bis sie sich bequemen mit mir in einer Russenkutsche aus dem Lager zu einer Kommandantur zu fahren. Auf der Fahrt sehe ich eine Truppe im Stechschritt paradieren. Machen unsere doch auch oder? Viel anders als bei uns wirkt es hier zwar auch nicht, hat hier nur eine viel trostlosere Aura. Während ich so schaue, schlägt es mir permanent ins Hirn, mein Gott, wie behämmert sind die bloß. Die Kommandantur liegt sogar in der Carl-Schorlemmer-Straße, nur hundert Meter von meinen Verwandten entfernt. Beruhigt mich geringfügig. Nun ist es acht Uhr. Seit einer Stunde bin ich erst unterwegs. Wir marschieren in eine Bruchbude, die so bestialisch nach Urin stinkt wie ein städtisches Pissoir, welches seit Monaten nicht mehr gereinigt wurde. Dazu immer diese asozial erscheinenden Gesichter. Zum Glück habe ich schon gefrühstückt, auf nüchternen Magen wäre mir der Anblick schlecht bekommen. Nun, sie besorgen mir einen Dolmetscher, einen russischen Lehrer, der Deutsch in der Schule lehrt wie ich später von ihm selbst erfahre. Dann ist da noch eine Art Sekretärin, die einen ganz netten Eindruck macht. Sie ist auch durchgehend anwesend, kann auch gut deutsch, aber wohl nicht gut genug. So wird also dieser Dolmetscher herbeordert. Als er auftaucht macht er zuerst einen auf knallhart und energisch. Er ist aber genau das Gegenteil, wie ich schnell feststelle. Die blödesten Fragen stellt er mir, vor allem dreimal den gleichen Mist. Gut, ich bin für die natürlich erst einmal ein Spion. Das ist mir nicht durchgehend bewußt. Ich verklickere ihm, daß ich eigentlich nur privat unterwegs bin, und eben auch gar nichts militärisches gesehen habe. Schon durch mein westliches Auftreten, anders als bei DDR-Bürgern, dazu meine ungewöhnlich braune Hautfarbe die ich in den letzten Wochen bekommen habe, all das verwirrt die Russen sichtlich. Sie bleiben größtenteils auf Distanz zu mir. Repressalien werde ich nicht mehr ausgesetzt sein. Aber die Zeit zieht sich ganz schön hin, und meine anfängliche Abenteuerlust weicht dann doch so allmählich einer ausgeprägten Genervtheit, die ich auch zum Ausdruck bringe indem ich den Russen Beine mache. Das hört sich zwar lächerlich an und ist auch eher scherzhaft gemeint, denn natürlich haben sie mich noch in ihrer Hand. Aber ich fang langsam an mich zu