Das Leben auf der anderen Seite. Jörg Nitzsche

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Название Das Leben auf der anderen Seite
Автор произведения Jörg Nitzsche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020779



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wie bei meinem ersten Berlin-Besuch. An allen Ecken werde ich bedrängt mit den Worten, tauschen ... tauschen ... Kannte ich bisher nur aus den Geschichten der Nachkriegszeit. Und von Versorgungsknappheit kann hier in Ost-Berlin nun wirklich nicht die Rede sein. Jedenfalls nicht so wie man es allerorten über die DDR hört. Da wurde wohl alles hier in der Hauptstadt gebunkert, um den vielen Touristen ein besseres Bild zu suggerieren. So war das sicher in den ganzen letzten 40 Jahren schon.

       Leipzig wartet auf mich, oder?

      So, Merseburg soll heute noch mein Ziel werden, und so wird es jetzt um 17Uhr auch langsam Zeit die Richtung anzupeilen. Hinter Petra’s Gaststätte sitze ich in meinem roten Flitzer und muß unwillkürlich an Petra denken. Ich weiß dieses Mal genau wo sie ist, nämlich keine 50 m Luftlinie von mir entfernt. Komisches Gefühl jetzt von ihr weg zu fahren. Ich gebe mir einen Ruck und erwache aus meiner Trance, und konzentriere mich auf die vor mir ausgebreitete Straßenkarte. Und es fällt mir auch nicht schwer mich zu orientieren weil ich auf jeden Fall südwärts abdriften muß. Ich versuche mir selbst noch auf den ersten Metern diese waschbrettähnlichen Rubbelflächen auf der Fahrbahn vor Einmündungen zu erklären, welchem Zweck die wohl dienen sollen? Ob man damit Kick-Starts verhindern will? Und dann bin ich auch schon auf der Transitautobahn A9 Richtung Merseburg. Leicht durchgefroren bin ich von meinem Trip aus Köpenick zurück gekommen, doch jetzt fühle ich mich in meinem Wagen wie in Abrahams Schloß. Der Reiz des Besonderen ist in Ostberlin schon vorhanden, gehen mir diesbezüglich während der Rausfahrt aus der Stadt noch so ein paar Gedanken durch den Kopf. Auch diese kuriose Erfahrung mit dem Mädchen weht mir immer mal wieder in den Kopf. Aber das Erlebnis bleibt so distanziert, ich fühle mich irgendwie unbeteiligt an dem Geschehenen. Ich lasse meinen Trip noch mal Revue passieren und komme zu der Erkenntnis, daß das Zentrum Ostberlins schon sehr international ist. Ich erliege dem diskreten Charme von einer Traurigkeit dieses Berlins. Für mich immer wieder erstaunlich und verwunderlich, daß sich die Menschen hier über ihr Los, eingesperrt zu sein, so im Klaren waren, und damit ja irgendwie gut leben konnten, allerdings auch mußten. Aber an eines habe ich die ganze Zeit nicht gedacht. Genau, die Alten, also die Rentner, konnten doch sowieso jederzeit in den Westen fahren. Und das ging natürlich von Ost-Berlin richtig schnell. Muß dabei auch an die Stasi-Spitzel denken, das hätte im Grunde jeder sein können. Na ja, nicht wirklich jeder, aber in den Köpfen jedes einzelnen hätte es jeder sein können. Aus Angst, oder sonstigen Begebenheiten kann er dazu gezwungen oder verleitet worden sein. Wenn man mir also sagt, wie beschissen es ist, daß noch so viele Spitzel draußen herum laufen, anderseits aber auch sagt, daß er trotzdem nicht um jeden Preis ins Gefängnis gehen würde, könnte für mich in diesem perfiden System jeder zum Spitzel geworden sein. All die kleinen Vollstrecker, Schreibtischtäter und Befehlsgeber der Vor-November-Zeit können jetzt schon hoffen ungeschoren davon zu kommen. Sie alle wollen von nichts gewußt haben und tun so, als hätten sie jahrzehntelang auf irgendeiner Südseeinsel gelebt, nur nicht in der DDR. Ich habe mir manchmal gedacht, wäre Honecker so clever gewesen und hätte sich nur ein Jahr vorher der BRD genähert um einiges in seiner DDR zu richten, dann wäre er womöglich heute als Held in die Geschichte eingegangen. Natürlich ist das ein törichter Gedankengang von mir, denn die waren leider nicht nur von ihrer unbegreiflichen Dummheit völlig erblindet, sie hatten natürlich auch immer noch den russischen Bruder im Nacken. Honecker wußte sicher instinktiv, wenn er das Ruder an den Westen abgeben würde hätte er nichts mehr zu melden gehabt. Aber – er wäre vielleicht ein Held geworden. Na ja, lassen wir diesen Gedankenblödsinn. Von den DDR-Autobahnen kenne ich bisher nur die Hamburg-Berliner Strecke, habe somit keine Ahnung wie frequentiert die Autobahnen generell in der DDR sind. Aber ich glaube, so was wie Staus kennen die hier nicht. Außer vielleicht, daß wegen eines Unfalls die Autobahn gesperrt werden müßte. Aber das kann eigentlich hier nie passieren, denn man bräuchte beinahe schon ein Fernglas um das nächste Gefährt zu sehen. Alleine die Strecke zum Berliner Kreuz ist irrsinnig lang. Entschuldigung, das ist ein Fehler. Ich weiß nämlich bis heute nicht, was das Berliner Kreuz sein soll. Die gesamte DDR-Autobahn scheint das Berliner Kreuz zu sein. Ich nämlich die Abbiege nach Leipzig. Total unsicher tucker ich vor mich hin und muß zwischendurch mehrmals anhalten um meine Karte zu studieren. Das ist echt zum Kotzen. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Abbiege nach Leipzig vor mir habe. Ansonsten ist wenig los. Gewundert haben mich die vielen Westautos mit DDR-Kennzeichen. Wie haben die das bloß gemacht? Sind sicher Firmenwagen. Tauschen in großen Mengen ist doch nur bei uns möglich, und das sehr ungünstig. Ostmark ausführen ist überdies verboten. Ich komme mir vor wie ein Moralapostel. Auf der Autobahn 9 in Richtung Leipzig mit seinen vereinzelten Schlaglöchern bringt in mir die Vorstellung hervor in ein Vergangenheitsidyll geraten zu sein. Na ja, scherzhaft gemeint. Ich muß immer wieder schmunzeln, wenn ich diese Propaganda-Texte auf irgendwelchen riesigen Transparenten sehe wie „Wir lieben das Leben“ oder „Wir haben gut lachen“. Die Herren Krenz, Honecker und Konsorten müßten eigentlich ganz schön bekloppt sein, wenn die das geglaubt haben, bzw. geglaubt haben daß die Bevölkerung das glauben würde. Die Zeit ist hier aber ebenfalls nicht stehengeblieben, sie ist nur in eine andere Richtung gegangen. Wer sagt, hier sähe es aus wie vor fünfzig Jahren hat vollkommen recht. Denn die holprige, relativ leere Autobahn von Berlin nach Leipzig ist noch immer die unter Hitler aus Betonplatten gebaute Straße. Richtig neue Straßenbelege gibt es so gut wie nirgends. Nach gut drei Stunden Fahrt trudel ich in Merseburg ein. Jetzt muß ich nur noch die Carl-Schorlemmer-Straße finden, da wohnen meine Verwandten nämlich. Einen Stadtplan von Merseburg habe ich nicht, und dunkel ist es auch schon wieder. Merseburg wirkt regelrecht wie eine riesige Räucherkammer. Frage ich mir nur was man hier räuchert, die Menschen? Merseburg ist ein Ort, der von Chemie komplett eingekesselt ist. Buna und Leuna, die beiden berühmten Plastewerke haben schon zu Beginn dieses Jahres traurige Berühmtheit erlangt. Gerade am 9. Februar ist im Schkopauer Buna-Werk das bisher schwerste Unglück in der Geschichte des DDR-Chemiekombinates geschehen. Ein Carbidofen explodiert und drei Arbeiter verglühten regelrecht. Ihre Leichen waren nicht mehr zu identifizieren. In beiden Werken ist alles total überaltert. Selbst auf meiner Vorbeifahrt bekomme ich ein Gefühl von den absurden Zuständen in diesem Werken. Die Häuser und auch die Bäume in Schkopau sind teilweise komplett weiß getüncht, wie in einer Schneelandschaft komme ich mir vor. Hier ging es stets um Planerfüllung um jeden Preis. Daß aber Anwohner in einer lebensfeindlichen Umgebung wohnen oder Arbeiter unter grausamen Arbeitsbedingungen leiden müssen wird hier wissentlich in Kauf genommen. Und die Merseburger können sich je nach Windrichtung glücklich schätzen, mindestens von einem Werk beehrt zu werden. Das ist so ein Flecken, das ich gesucht habe. Alt und dreckig ist hier wirklich alles. Das Laternenlicht hat es nicht leicht mich in dieser von Kohlenruß geschwängerten Luft die Wege oder den Asphalt vor Stolperfallen zu warnen. Und die Luft ist hier echt erbärmlich. So erbärmlich, daß ich das Autofenster und alle Lüftungen schließen muß. Ich frage einen Schatten auf der Straße nach dem Weg. Verhältnismäßig schnell finde ich dann doch meine, bzw. die Straße meiner Verwandten. In der Tat, die Menschen kennen hier die unmöglichsten Winkel, würde ich sie nach dem Namen ihres Nachbarn fragen, müßten sie wohl erst grübeln. Ich muß jedenfalls nicht blödsinnig im Kreis herum fahren. Gut kennen tue ich meine Verwandten natürlich nicht, wie auch. Gegen acht Uhr erreiche ich meine sichtlich überraschten Verwandten, die ich gar nicht über mein heutiges Erscheinen vorbereitet habe. Wir kennen uns natürlich, aber ich weiß eigentlich nicht wie familiennah sie mich überhaupt betrachten. Für mich sind sie jedenfalls Onkel und Tante. Ich fühle mich auch gleich wie zu Hause, trotzdem versuche ich mich nicht gleich so zu benehmen. Vielleicht geraten sie sonst in Panik weil sie denken ich könnte mich auf längere Zeit hier einnisten. Ich komme zum Glück nicht ungelegen nur 1 Tag zu früh. Dafür fühle ich mich gleich sehr wohl bei ihnen. Ihre Wohnung ist allerdings total überheizt. Der Kohleofen erzeugt zwar eine sehr angenehme Wärme, aber für mich doch etwas zu ungewohnt warm. Die Kohle müssen sie sich jedesmal per Eimer aus dem Keller nach oben holen. Das ist in der DDR allgemein so üblich. Sie kennen es nicht anders. Mein Onkel kann sich dergestalt ganz besonders über die Mißstände der DDR aufregen, daß es eine Wonne ist ihm zuzuhören. Von unseren Familientreffen kannte ich das schon. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund, denn es gab immer genug Diskussionsstoff für ihn. Und das ist auch heute nicht anders. Da die Glotze wohl neben der Nahrungsaufnahme zur absoluten Existenzgrundlage gehört und dementsprechend immer läuft kann man dem Bombardement an neuen DDR-Nachrichten