Название | Das Leben auf der anderen Seite |
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Автор произведения | Jörg Nitzsche |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738020779 |
Auf dem Todesstreifen steht eine Aufschrift:
„Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Habe ich ein Buch, daß für mich Verstand hat,
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,
einen Arzt, der für mich Diät beurteilt,
usw.
so brauche ich mich ja nicht selber zu bemühen.
Das ist ein Extrakt von Immanuel Kant - Text über Aufklärung (1724-1804): "...Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit ..."
Man muß schon über den tieferen Sinn nachdenken, um sich vorstellen zu können was in dem Schreiber vorgegangen ist als er diesen Text an die Mauer schrieb. Ich gehe wieder zurück zu meiner Scharnhorststraße, und stehe direkt vor Haus-Nr. 6-7. Hier befindet sich die Deutsche Post mit ihrer Betriebsschule der Bezirksdirektion Berlin, die namentlich „N. D. Psurzew“ gewidmet ist. Warum auch immer sie den Namen dieses greisen Minister der damaligen UdSSR an diese Postdirektion vergaben, wenigstens ist Nikolaj Psurzew passender Weise Postminister (Minister des Post- und Fernmeldewesens) der Sowjetunion gewesen. Gut 30 Jahre lang, bis zu seinem 75.Lebensjahr hatte er den Posten inne, 5 Jahre später, 1980, ist er mit 80 Jahren gestorben. Warum schreibe ich das eigentlich. Vielleicht interessiert das einen ja wirklich – irgendwann mal. Ich komme nun an den Hauszeilen vorbei, die hier am Invalidenfriedhof anschließen. Und lese wieder so ein Schmarrn von Honecker:
Alles für das Wohl des Menschen, das Glück des Volkes
für die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen
Da sind die Häuser, die direkt zur Mauer stehen und sie sind tatsächlich bewohnt. Die müssen doch tatsächlich in den Westen schauen können. Was muß das für ein Gefühl gewesen sein, und wieder kommt dieses schaurige Gefühl in mir hoch, welches mich schon eben auf dem Turm überkam. Das ist schon beklemmend nur darüber nachzudenken. Aus dem Heckfenster eines Trabis winkt mir ein Kind zu, auf der anderen Straßenseite laufen zwei Frauen mit einer Vorschulkindergruppe. Die Kinder, denke ich, werden aufwachsen wie wir. Von der DDR werden sie später nichts mehr erzählen können. Ein schöner Anblick, ich erinnere mich noch, wie ich damals in Hamburg-Osdorf in die Grundschule ging. Wir machten auch eine Menge Ausflüge, zum Beispiel in die Harburger Berge oder in die Haseldorfer Marsch. Das waren noch so unbekümmerte Zeiten. Wie schwierig wird doch alles im Alter. Während ich so in Gedanken bin, nehme ich aber trotzdem dieses grau in grau um mich herum wahr. Kinder, die hier auf gewachsen sind kennen nichts anderes. Die mattfarbenen Trabis und die bunten Kinderjacken bringen einen unbedeutenden Kontrast in dieses Alltagsbild. Ah, ich erreiche die Nr. 5. Häh, eine Wäscherei, eigenartig. Da sind ein paar Baracken. Da soll sie wohnen? Ich stehe vor ihrer Toreinfahrt. Mir grummelt der Magen, nicht vor Hunger sondern vor Aufregung. Ich werde die Männer da mal fragen, die gerade von ihrer Pause aufbrechen wollen. Wieso schauen die mich mit so einem verbissenen Gesicht an? Lachen ist nicht. Auf meine Frage kommt prompt berlinerisch "hier wohnt keener". Kopfschütteln als zusätzliche Aussage schlurfen sie retour zu ihrer Arbeit. Kann nicht wahr sein, denke