Das Leben auf der anderen Seite. Jörg Nitzsche

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Название Das Leben auf der anderen Seite
Автор произведения Jörg Nitzsche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020779



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ich netterweise natürlich übersehe. Ein Kassettenradio reicht aus zum Aufwachen und Träumen. Frauen brauchen keine aufgemotzte Stereoanlage. Während unsere Überraschung langsam auftaut, ich ihre Wohnung sehr nett finde, obwohl sie selbst mit der Wohnung eher unzufrieden ist, kommen wir mit unserer Konversation so langsam in's Alltägliche. Ich berichte von meinen heutigen Erlebnissen und muß sie allerhand mir unbegreifliche Sachen fragen. Immer wieder die Fragen, die mir schon den ganzen Tag im Kopf rumzwitscherten. Ich stelle fest, daß sie der Wende nicht gerade außergewöhnliche Bedeutung beimißt. Ich merke auch schnell, daß sie Probleme hat, mit denen sie nicht fertig zu werden scheint, oder ihr zumindest einige Kopfzerbrechen bereiten. Sind es Liebesprobleme mit ihrem Fußballerfreund vom BFC Dynamo, einer vom Stasi geförderten Fußballmannschaft. Ihr Zigarettenkonsum ist ein Beweis für ihre innere Unruhe. Mit meiner Anwesenheit hat das weniger zu tun, das fühle ich sofort. Sie erzählt mir von ihrer Schwester, die in einem Westberliner Hotel untergekommen ist, und sie selbst hatte im Kempinski ein Angebot. Aber es gefiel ihr alles nicht, sie braucht ihre vertraute Umgebung. Was sie jetzt sagt, erstaunt mich, "die Grenze hätte ruhig zubleiben können, ich habe alles gehabt, sogar gut gelebt. Vieles ist schlechter geworden.“ Ihre Resignation ist nicht gespielt, sie erzählt mir von westdeutschen Gästen in ihrem Restaurant, die schnell mal rüber kommen und die große Klappe riskieren. Die Ruhe ist futsch, überall, so verändert sich vieles zum Nachteil. Meine Petra ist gerade mal zwanzig Jahre alt, spricht aber schon wie eine, die schon ihr halbes Leben im Gaststättengewerbe gearbeitet hat. Vier Jahre arbeitet sie in diesem Metier allerdings schon. Und da heißt es immer, die DDRler kennen das Wort „arbeiten“ nur vom Hörensagen. Und was wird ihnen jetzt geboten – selbstgefällige Wichtigtuer aus dem Westen. Selbst der Kleinste kann hier mal Held sein, für einen Tag. Erinnert mich an den Song von Bowie. Und viele der Rübergemachten schauen schnell mal mit Westwagen in die Disko rein. Ein wichtiges Gesicht machen und Westscheine zählen, das vergrault viele, verständlich. Es gibt natürlich auch Frauen, die lassen sich auch etwas vormachen. Diese Veränderungen macht ihr vielleicht Angst. Ich sehe das naturgemäß ziemlich entspannt. Aber wie minderwertig müssen sich die Ostbürger dabei vorkommen. Beide deutsch, beide haben sie gearbeitet, nur einer fragt sich jetzt wofür. Fühlen sie sich reingelegt oder verraten? Das kann ich schon nachfühlen. Diese Diskrepanz ist auch für mich nicht zu übersehen. Petra ist heute auch erst wieder nach Hause gekommen. Sie hat nämlich über's Wochenende bei ihren Eltern außerhalb von Berlin gewohnt. Zu essen hat sie nichts. Ihre Nachbarin bringt uns etwas zu trinken. Ist wirklich eine sehr aufmerksame und nette Person. Lebt mit ihrem unehelichen Kind alleine. Petra möchte irgendwo hingehen. Jetzt, wo ich mich einen Moment hingesetzt habe, bin ich richtig müde geworden. Aber ich gebe nach. Essen wollen wir gehen, eine Kleinigkeit zumindest, irgendwohin wo es gemütlich ist. Ich denke, sie wird schon wissen, wo wir hingehen können. Wir müssen wieder einmal mit dem Bus fahren, denn ein Auto besitzt sie nicht. „Warum hast Du kein Auto?“, frage ich sie, nicht ganz so ernst gemeint. „Wer hat hier schon eins. Und der Bus hält ja nun mal direkt vor meiner Haustür, oder fast davor“. Also los. Die Verkehrsvertriebe funktionieren hier genial zuverlässig. Länger als zehn Minuten wartet man hier nicht. Bei zwanzig Pfennigen, wie wird das bloß finanziert? Ich schätze mal, die drucken wahllos Geldscheine wie sie sie gerade brauchen. Ich weiß nicht wohin, aber sie macht das schon. Kann ich doch wohl erwarten, daß sie sich hier auskennt, oder? Verlegen schaut sie aus dem Busfenster, grinst mich wieder frech an. Ihr Lächeln gefällt mir, auch berlinert sie so wunderbar, daß es eine Wonne ist ihr zuzuhören. Sie glaubt jedesmal, wenn ich was Typisches wie "Icke" oder "wa" wiederhole, sie aufziehen will. Aber das ist nicht wahr. Ich bin nur begeistert von ihrer Aussprache. Das Berlinerische hört sich nicht so vulgär an wie andere Straßenslangs, eher niedlich. Das Berlinerische, dieses „icke“ mögen viele nicht gerne hören, ich aber liebe es. Petra berlinert mir da einen vor, zum dahin schmelzen. Det iss aber jemein - wirst Dir umgucken - und so einiges mehr! Zugegeben, ich muß sie ständig anstarren. Verärgert darüber versucht sie sich typisch frauenhaft aufzuregen. Richtig lachen kann sie scheinbar nicht. Sie schmunzelt vielmehr. Ich schaue immer in ihr faszinierendes aber auch sorgenvolles Gesicht. Sie tut mir leid und ich weiß eigentlich gar nicht warum. Was mag mit ihr nur sein? Friedrichsstraße, "laß uns aussteigen", ist alles, was sie ohne weitere Begründung sagt. Sie scheint zu wissen wohin sie will. Ich lasse alles geschehen ist es mir doch letztlich egal wohin es geht. Sie hat oder hatte wohl etwas mit einem Fußballspieler vom Berliner Fussball Club Dynamo e.V. Hatte ich in Bulgarien irgendwie, ohne mir viel Gedanken darüber zu machen, so nebenbei mit bekommen. Oder hat sie es mir direkt gesagt, ich weiß es gar nicht mehr genau. Da ich nur sie als einzige Ostberlinerin kenne kann ich eigentlich nicht viel über eine typische Ostberlinerin sagen. Doch insgeheim suchte ich wohl die typisch ostberlinerischen Lebensumstände und Geheimnisse dieser Stadt in ihr reflektiert zu sehen. Schräg gegenüber der Haltestelle ist ein Hotel, in das will sie. In's Metropol könnten wir doch auch. Es kommen nur Hotelgäste rein, teilt ein Boy uns freundlich aber bestimmt mit. Eine Widerrede ist unangebracht, aber ich kann mich wieder nicht beherrschen. "Was soll denn dieser Scheiß, warum ist das bei Euch so ein Mist?“, frage ich sie. Aber nicht aufbrausend, sondern eher in Gedanken vor mich her sprechend. Ich muß dabei denken, daß ich mich jetzt gerade auch wie ein Wessi benehme. Hier ist das für die meisten eben einfach so, kennen sie nicht anders, ist für sie in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne eine Antwort abzuwarten gehen wir wieder. Ich könnte mich über diesen Mist jetzt zwar echt aufregen, und mache Anstalten ein bißchen gespielt durchzudrehen. In Petra's Beisein will ich mich aber beherrschen. Sie ärgert sich ganz anders. Resignation spiegelt sich in ihrem Gesicht, als sie sagt "siehst Du, so ist das bei uns." „Irgendwo müssen wir doch hingehen können um was zu essen und trinken, oder?“. Worauf sie "das ist nicht wie bei euch, wo man sich an einen freien Tisch setzt, hier mußt du vorbestellen". Ich frage mich gerade, wieso wir überhaupt losgegangen sind. Nicht mal eine Kneipe (?), murmelte ich leise fragend vor mich hin. Sie sieht hinreißend aus. Wie ein Engel, wenn nicht diese Nase wäre. Am schönsten ist sie wenn sie sich ärgert. Sie flucht doch nicht etwa? Nicht ganz klar ist mir, ob sie sich jetzt für diesen Vorfall schämt, oder ob ihr das auch schon immer auf die Nerven ging. Was würden manche Westbürger jetzt für einen Aufstand machen. Wahrscheinlich den ganzen Laden zusammen schreien, da kenne ich einige. Ich habe mich wieder beruhigt und tippel einfach neben ihr her. Es ist dunkel, die Gesichter der Stadt verblassen, die Dynamik des Berliner Alltagslebens geht in einen spürbaren langsameren Gang über, um dann vollends in einen kaum vorstellbaren Tiefschlaf zu enden. Es ist unbegreiflich, eine Weltstadt ohne einen Hauch von kulturellem Leben. Das spielt sich bestimmt irgendwo im Verborgenen ab. Statt dessen eine Leichenstarre die beinahe unheimlich wirkt. Alles nur noch Schatten, die an uns vorbei flitzen. Ist jetzt gar nicht so viel anders als in Wismar. Und wieder einmal stehen wir in der Prachtstraße Unter den Linden, und mehr zufällig ins Grand-Hotel in der Friedrichsstraße. Macht einen passablen Eindruck. Und wow, wir bekommen einen netten Platz zugewiesen. Untermalt wird die gediegene Atmosphäre mit gedämpften Klavierklängen. Doch, hier kann man sich wohlfühlen. Die Preise sind in Ostmark, etwa 1:1, und das ist schon direkt teuer. Für 22,- Mark der DDR würde ich gerne satt werden, und 12,- Mark für das Glas Wein ist auch ganz nett. So vergeige ich 100,- Mark, was für mich knapp 25,- DM sind, mich also auch nicht vom Hocker haut. Was in Bulgarien den Anfang nahm, und mir jetzt auch wieder ganz extrem auffällt ist, daß die Ost-Mädels, mir ist normalerweise jede Verallgemeinerung zuwider, trotzdem - eine sonderbar undankbare Art an den Tag legen. Mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit nimmt sie alles entgegen, aber auf einen Dank warte ich vergebens. Das muß hier einfach normal sein, auf uns Westdeutsche wirkt das jedenfalls unhöflich. Was mich aber auf dem Hocker hält, um bei dieser Redewendung zu bleiben, sind meine Ausgaben, die sich finanziell in Grenzen halten. Doch richtig übelnehmen tue ich es ihr natürlich nicht. Verhalte ich mich etwa schon wie ein verliebter Gockel, lasse ich mich von Gefühlen blenden. Nein, es ist einfach nur meine blöde Art, immer viel zu gutmütig zu denken. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, und, als hätten die Grenzen nie existiert, verabschiedeten wir uns bis recht bald. Ein Privattaxi will sie sich nehmen. Und tatsächlich hält ein Wagen. Ich lerne wieder etwas dazu. Privattaxis sind hier gang und gebe, werden aber, so glaube ich, nur geduldet. Ich bin ein wenig skeptisch als sie zu dem Fremden einsteigen will. Noch einen Abschiedskuß und sie ist in die Nacht verschwunden. Allein mit meinen Gedanken und den unendlich neuen Eindrücken gehe ich in meiner ureigenen langsamen Gangart zum Brandenburger Tor. Es sind nur etwa dreihundert Meter.