Название | Anne und die Horde |
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Автор произведения | Ines Langel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738051940 |
Irgendjemand geht bei uns im Haus um und sammelt glänzende Dinge.
Der steinerne Kopf
„Anne, du schläfst ja fast ein beim Gehen.“
Mamas Worte rissen Anne aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Ihre Mutter stand im Eingang zu einem kleinen Laden. Die Türe hielt sie lässig mit einem Fuß geöffnet.
„Komm schon, wir sind da.“
Mit diesen Worten verschwand sie im Laden. Anne sah sich um. Mama hatte sie zu einem alten Steingebäude mitgenommen. Das Haus besaß einen olivfarbenen Anstrich. Neben der dunklen Holztüre war in einer Nische ein Frauenkopf aus Stein aufgestellt worden. Der Kopf wirkte sehr lebensecht, erschreckend lebensecht. Die Frau trug einen weißen Hut, von dem drei schwarze Federn abstanden. Ihr Gesicht war blass rosa, der Mund sehr rot. Er bildete ein stummes „Oh“. Sie hatte eine feine kleine Nase. Die Augen waren braun. Sie sahen aus wie Mandeln. Die Augenbrauen waren nach oben gezogen. Zusammen mit dem Mund gaben sie dem Gesicht einen Ausdruck von Überraschung. Unterhalb des langen Halses kam ein Teil der Schultern zum Vorschein. Die Frau hatte etwas Blaues an.
Vielleicht ein Kleid?
Anne schauderte. Ein ungutes Gefühl schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste, dass es Unsinn war, doch sie traute sich nicht, an diesem Kopf vorbeizugehen. Vorsichtig ging sie einen Schritt weiter auf die Türe zu. Sie ließ den Kopf nicht aus dem Blick. Als sie näher kam, konnte sie kleine Falten um den Mund und auf der Stirn erkennen. Anne schluckte, machte aber noch einen Schritt.
Sind das Wimpern?
„Anne, was trödelst du denn schon wieder?“
Mama hatte von innen die Tür geöffnet, um zu sehen, wo ihre Tochter blieb. Anne zuckte zusammen. Erschrocken sah sie ihre Mutter an. Wortlos zeigte sie auf den Frauenkopf. Mama sah in die gewiesene Richtung und lächelte.
„Ja, sehr schön, nicht wahr? “, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf das Bildnis.
Anne schüttelte den Kopf, doch Mama bemerkte es nicht. Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie hinter sich her in den Laden. Anne warf im Vorbeigehen einen letzten Blick auf den Frauenkopf. Sie hätte schwören können, dass die Mandelaugen sie ansahen.
Rasmus Merymend
Vom Inneren des Buchladens war Anne beeindruckt und eingeschüchtert zugleich. Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können. Das olivfarbene Haus hatte von außen nicht vermuten lassen, dass sein Inneres so groß war. Doch das musste es auch sein, denn jeder Zentimeter Platz war mit Büchern gefüllt. An den Wänden standen Regale bis unter die Decke. An die obersten Reihen kam man nur mit einer großen Leiter. Anne wurde es schon beim Hinaufsehen schwindelig. Schnell wandte sie den Blick ab. Im Raum verteilt standen kleine Schränkchen, die ebenfalls mit Büchern gefüllt und auf denen sie gestapelt waren. Unter der Decke hingen Körbe. Anne konnte nicht hineinsehen, doch sie nahm an, dass auch dort Bücher verstaut waren. Der große Raum wirkte völlig überladen und ungeordnet. Wie sollte man sich hier nur zurechtfinden?
Gegenüber der Eingangstür befand sich eine dunkle alte Theke. Sie reichte Anne bis an die Brust. Dahinter saß ein mürrisch dreinblickender Mann. Er war sehr dünn und groß, hatte eine Glatze und eine schnabelartige Nase. Es war schwer zu sagen, wie alt er sein mochte. Anne schätze, dass er älter war als Mama und Papa, doch sein Gesicht wirkte glatt und rosig. Zu Annes Erstaunen trug der Mann einen schwarzen Anzug und eine Fliege.
Vielleicht will er noch in die Oper, dachte Anne
Mama ging schnurstracks auf den Mann zu. Sie lächelte zurückhaltend und fragte dann.
„Arbeiten Sie hier?“
Der Mann sah sie an, als hätte sie die dümmste Frage der Welt gestellt.
„Wieso fragen Sie mich das?“, erwiderte er. Seine Stimme war hoch und näselnd.
Mama schien verdutzt. „Nun ja, Sie sitzen hinter der Theke.“
Der Mann stand auf und nickte. Er sagte nichts, zeigte stattdessen mit seinen langen Fingern auf die Theke, als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Mama folgte verwirrt seiner Geste. Sie dachte angestrengt darüber nach, was ihr der Fremde zeigen wollte.
„Ganz schön staubig“, sagte Anne, die sich ebenfalls die Theke angesehen hatte.
Mama wurde rot. „Anne!“, sagte sie schnellt und dann, „Kinder, Sie wissen ja…“
Der Mann nickte. Seine Augen richteten sich auf Anne. Sie sahen aus wie zwei Kohlenstücke.
„Oh ja“, sagte er, „Kinder sind ganz wundervolle Geschöpfe.
Mama nickte und lächelte. Anne wusste es besser. Dieser Mann hatte zwar gesagt, Kinder seien wundervoll, doch gemeint hatte er etwas ganz anderes.
Ruckartig wand sich der Mann Mama zu. „Zu Ihrer Frage, Gnädigste.“
Mama blinzelte und wurde schon wieder rot.
„Ich arbeite hier nicht nur, ich bin der Besitzer dieses fantastischen Buchladens. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Merymend. Rasmus Merymend.“
Daraufhin nahm er Mamas Finger und hauchte einen leichten Kuss auf ihren Handrücken. Zum dritten Mal lief Mama rot an. Nun sah sie aus wie eine reife Kirsche. Anne verzog angewidert das Gesicht. Dieser Merymend war ihr unsympathisch. Doch Mama schien von ihm sehr angetan zu sein.
„Oh“, sagte Mama verlegen, „Sie haben wirklich einen schönen Laden.“
„Nicht wahr“, bestätigte Merymend und entblößte beim Lächeln eine Reihe krummer, spitzer Zähne.
„Ich war nur so verwundert.“
„Verwundert Gnädigste, warum?“
„Nun, Sie sind so gut gekleidet, als wären sie auf einem Ball.“
„Das ist das mindeste, was ich meinen werten Kunden schuldig bin – und diesem Interieur.“
Ausladend wies Merymend mit der rechten Hand durch seinen Laden. Anne folgte der Bewegung. Dabei sah sie, dass der große Raum, in dem sie stand, noch nicht alles war. Rechts von der Eingangstüre, verborgen hinter Regalen, war ein Durchgang.
„Ich merke schon, Sie sind ein Mann der alten Schule“, sagte Mama und kicherte.
Herr Merymend nickte bloß und zeigte erneut sein Haifischlächeln.
Anne entfernte sich ein paar Schritte von den beiden Erwachsenen. Sie tat, als sähe sie sich interessiert um, während sie sich langsam auf den Durchgang zu bewegte.
„Merymend“,