Das Barnabas-Evangelium. Irene Dorfner

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Название Das Barnabas-Evangelium
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738053623



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interessiert. Er suchte seine Familienangehörigen und machte, dass er so schnell wie möglich von hier wegkam.

      Eine Bombe auf seinem Weihnachtsmarkt! Diese Tatsache ließ den Bürgermeister während der restlichen Tage Dauer des Marktes nicht in Ruhe. Er konnte erst wieder durchatmen und ruhig schlafen, als der Weihnachtsmarkt offiziell beendet wurde und alle Budenbetreiber den Haberkasten verlassen hatten. Von da an war der Bürgermeister in ständiger Verbindung mit Krohmer. Natürlich wusste er, dass er nervte. Aber schließlich hatte ein Verrückter seinen Weihnachtsmarkt bedroht und dieser Typ musste unbedingt aus dem Verkehr gezogen werden. Auch Tage nach Ende des Weihnachtsmarktes kursierten über den vermeintlichen Bombenanschlag die wildesten Gerüchte. Nächstes Jahr waren Wahlen. Es würde für ihn sprechen, wenn er den Mühldorfern den Täter präsentieren könnte – und diese Chance wollte und musste er nutzen. Was interessierte es ihn dabei, ob er Krohmer auf die Nerven ging?

      6.

      Hans Hiebler war am Boden zerstört. Die Beerdigung seiner Rita, die nicht in Altötting, sondern in deren Heimatstadt Basel stattfand, war sehr ergreifend. Obwohl Hans nicht ein Familienmitglied, einen Freund, Bekannten oder Nachbarn kannte, hatte es sich herumgesprochen, dass er mit der Verstorbenen vor deren Tod zusammen war. Von allen Seiten wurde ihm kondoliert, wurde er umarmt oder man sprach mit ihm. Er schämte sich und fühlte sich fehl am Platz, denn eigentlich kannte er die Frau erst wenige Wochen und wusste nicht viel von ihr. Was war ihre Lieblingsfarbe? Hatte sie Geschwister? Wie wuchs sie auf? Alles Dinge, die man erst mit der Zeit vom anderen erfuhr. Zeit, die ihnen nicht gegeben war.

      Rita war offensichtlich sehr beliebt gewesen, was Hans den Abschied noch schmerzlicher machte. Er musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Seit seiner Ankunft gestern in Basel wurde er überall auf Rita und deren schrecklichen Tod angesprochen. Alle wussten, dass er bei der Kriminalpolizei war, Rita hatte es allen erzählt. Davon wusste er nichts. Sie war stolz auf ihren neuen Freund gewesen. Beinahe jeder erkundigte sich nach dem aktuellen Ermittlungsstand, vor allem Ritas Familie, die förmlich an seinen Lippen hing. Was sollte er sagen? Dass sie bis jetzt absolut nichts hatten? Dass eine Bombe ohne Zünder auf einem anderen Weihnachtsmarkt deponiert wurde? Stattdessen gab er Phrasen von sich, wofür er sich schämte. Noch am Abend der Beisetzung packte er seine Sachen und fuhr nach Hause. Aber was sollte er dort? Wieder allein in seiner Bude sitzen und Trübsal blasen? Aber wo sonst sollte er hin? Sein Weg führte ihn zu seinem Freund und Kollegen Leo, dem es auch nicht gut ging. Seine Lebensgefährtin Viktoria Untermaier hatte ihn vor wenigen Wochen wegen einem lukrativen, interessanten Job in Berlin verlassen. Seitdem war Leo nicht mehr derselbe. Er zog sich zurück und lachte kaum noch. Hans hatte lange versucht, ihm beizustehen und ihn zu trösten, aber Leo ließ es nicht zu. Jetzt waren sie beide in einer ähnlichen Situation.

      Als Hans auf den Hof seiner Tante fuhr, auf dem Leo den obersten Stock gemietet hatte, war Tante Gerade mit dem Hofhund Felix gerade beim Holz holen. Nachdem er sie schweigend umarmt hatte, trug er den schweren Korb ins Haus. Die 74-jährige Tante Gerda war eine Seele von Mensch. Hans kannte niemanden, der sie nicht mochte. Sie wusste Bescheid.

      „Wie geht es Dir? Wie war die Beisetzung?“

      „Frag nicht. Ist Leo da?“

      „Er sitzt in seiner Wohnung und leidet. Seit Viktoria weg ist, hat er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen.“

      Tante Gerda sah ihrem Neffen hinterher. War es eine gute Idee, wenn zwei Trauerklöße beieinandersaßen? Sie wusste in solchen Dingen auch keinen Rat und hoffte darauf, dass bei beiden der Schmerz mit der Zeit leichter werden würde. Tante Gerda heizte den Kachelofen ein, denn sie hatte noch viel zu tun. Ihre Walkinggruppe hatte einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt auf Schloss Tüßling, an dem sie Schmalzgebäck und Glühwein verkauften, dessen Erlös Flüchtlingsfamilien zugutekommen soll. Wie die Tage zuvor auch gab sie in der Küche ihr Bestes.

      Nach kurzem Anklopfen ging Hans einfach in Leos Wohnung, die nur selten abgeschlossen war. Leo stand wortlos auf, holte ein Glas und schenkte Rotwein ein.

      „Die wievielte Flasche ist das?“

      „Warum interessiert dich das? Bist du meine Mutter? Wenn ich genug intus habe, kann ich wenigstens schlafen. Wie war die Beerdigung?“

      „Wie soll sie schon gewesen sein? Rita hatte eine riesige Familie und einen noch größeren Freundeskreis. Was denkst du denn, wie man sich fühlt, wenn von allen Seiten kondoliert wird und man sich nach dem Ermittlungsstand erkundigt.“

      „Sie wussten, dass du bei der Kripo bist?“

      „Rita hatte es allen erzählt. Jeder wusste von mir und es war schrecklich, dass ich zusammen mit der Familie im Mittelpunkt stand. Man hatte sogar einen Platz in der ersten Reihe für mich reserviert. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Ich kannte Rita kaum! Wir waren erst kurze Zeit zusammen und ich muss ehrlich sein: Sie war nicht meine große Liebe und ich denke nicht, dass wir eine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Schon der große Altersunterschied wäre irgendwann zum Problem geworden, das sehe ich realistisch. Ich habe die Zeit mit ihr genossen, wohlwissend, dass wir keine Zukunft haben würden. Hätte ich das alles den Trauergästen sagen sollen? Ich komme mir so schäbig vor!“

      „Kann ich mir vorstellen. Mach dir keine Vorwürfe. Jede Geschichte fängt irgendwann an. Gut, du kanntest sie kaum. Aber du warst dabei, als sie getötet wurde. Das wird dich auf ewig mit ihr verbinden. Glaub mir, du wirst sie niemals vergessen können.“

      „Ich bin schuld an dem, was passiert ist. Ich wollte auf den Christkindlmarkt.“

      „Hör auf damit! Tu dir das nicht an! Für das, was passiert ist, kannst du nichts – und damit Basta!“

      „Gut. Aber nur, wenn du ebenfalls aus deiner Trauer um Viktoria endlich rauskommst und wieder anfängst, das Leben zu genießen. Die Frau ist weg, sie hat sich für die Karriere und gegen dich entschieden. Kapier das endlich! Und hör endlich auf, diesen billigen Fusel in dich reinzuschütten,“ sagte Hans angewidert, als er am Rotwein genippt hatte. „Hast du nichts Gutes im Haus?“

      Jetzt musste Leo lachen. Auch ihm schmeckte der Rotwein nicht und er schüttete die Reste regelmäßig in den Ausguss. Er kaufte den Wein an der Tankstelle in Altötting. Dort war der Einkauf für ihn einfacher und angenehmer: Keine Menschenmassen und keine lange Wartezeit. Hans war ein Genussmensch, was sich nicht nur auf Frauen bezog. Er aß gerne gut und trank auch gerne etwas Gutes. Leo stand auf und holte die Champagnerflasche aus dem Kühlschrank, die er zu seinem 50. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

      „Champagner?“

      „Den habe ich für einen ganz besonderen Anlass aufgehoben. Ich finde, das ist jetzt ein besonderer Anlass.“

      Weit nach Mitternacht war die Flasche leer. Sie sprachen lange und das gegenseitige Verständnis und das offene Ohr taten beiden gut. Hans machte es sich auf der Couch bequem und Leo konnte nach vielen Wochen endlich wieder gut schlafen.

      7.

      Hans und Leo fuhren nacheinander auf den Parkplatz der Polizeiinspektion Mühldorf. Direkt vor dem Eingang parkte eine rote, ziemlich ramponierte Ente, die über und über mit Aufklebern versehen war.

      „Welcher Idiot parkt denn so bescheuert? Frankfurter Kennzeichen!“

      „Ich glaube kaum, dass es dieses Fahrzeug von Frankfurt bis hierher geschafft hat. Sieh dir die Aufkleber an, die halten diese Klapperkiste nur noch notdürftig zusammen.“ Leo warf durch die völlig verschmierten Scheiben einen Blick ins Innere. „Auf der Rückbank sitzt ein alter Teddybär, daneben liegt eine Reisetasche.“

      „Sieh mal auf den Beifahrersitz! Der ist total zugemüllt!“, rief Hans.

      „Der Besitzer ist bestimmt irgendein Ökofuzzi, der mit dieser Parkweise nur provozieren möchte. Ich informiere die Kollegen. Wenn das Fahrzeug in den nächsten zehn Minuten nicht weg ist, sollen sie die Karre abschleppen lassen.“ Leo war wütend. Auch wenn man die Polizei nicht mochte, konnte man sich