Erzählen-AG: 366 Geschichten. Andreas Dietrich

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Название Erzählen-AG: 366 Geschichten
Автор произведения Andreas Dietrich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753171944



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in der Lage war. Die Mutter wollte eigentlich eine große Runde drehen. Das tat sie nicht.

      Die Mutter schob den Kinderwagen noch einige Meter. Dreihundert Meter später gab es einen Überweg zur anderen Seite. Diesen wollte die Mutter nutzen. Auf der anderen Seite standen Häuser. Dort war der Bürgersteig schneefrei. Die Hausbewohner waren ihrer Räumpflicht nachgekommen.

      Die Mutter lief an den Häusern vorbei. Bis zur nächsten Kreuzung war der Bürgersteig geräumt. An der Kreuzung musste die Mutter wieder Kraft aufwenden. Die Kreuzung war nicht geräumt. Zum Glück hatte die Mutter es nicht weit.

      Die Mutter bog nach links ab. Wenige Meter von der Kreuzung entfernt, standen links wieder Häuser. Der Bürgersteig war frei von Schnee.

      Einige hundert Meter später kam die nächste Kreuzung. Diese war schneebefreit. Die Mutter bog wieder nach links ab. Weitere hundert Meter später kam die dritte Kreuzung. Wieder bog die Mutter links ab.

      Die Mutter war fast wieder zu Hause. An der nächsten Kreuzung musste sie nur die Straße überqueren, dann links abbiegen und fünfzig Meter später war sie mit dem Kinderwagen wieder zu Hause.

      Die Mutter öffnete die Haustür. Anschließend schob sie den Kinderwagen in den Hausflur. Die Mutter holte ihr Kind aus dem Kinderwagen und ging in die eigene Wohnung. Dort kam das Kind in seine Wiege. Die Mutter ruhte sich von dem teilweise anstrengenden Spaziergang aus. Ob am nächsten Tag noch immer so viel Schnee lag?

      Zehnter Februar

      Es war vor vielen Jahren. Es war Mitte Februar und es war Winter. Wer hinaussah, erkannte es. Wer hinausging, spürte es. Wer auf den Kalender schaute, wusste es.

      Draußen lag Schnee. Überall. Wer aus dem Fenster sah, erkannte es. Auf dem Land und in der Stadt. Die Wälder waren schneebedeckt wie die Wiesen. Dächer und Bürgersteige besaßen eine dicke Schneedecke. Die Straßen waren nur teilweise geräumt. Es schneite immer wieder. Teilweise kam der Winterdienst nicht hinterher. Er konzentrierte sich auf die Hauptstraßen. Die Nebenstraßen mussten warten, bis der Schneefall nachließ.

      Draußen konnte der Schnee nur fallen und liegen bleiben, wenn es kalt war. Draußen war es kalt. Wer hinausging, der spürte es. Am Tage stieg das Thermometer höchstens auf null Grad Celsius. Die Regel waren maximal minus zwei Grad. In der Nacht sank das Thermometer natürlich noch weiter. Dann konnte es damals runter bis auf minus Zwölf Grad Celsius gehen.

      Damals hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Das Erste, was ich damals am Morgen des zehnten Februar sah, war ein Kalender. Auf dem Kalender stand ganz oben der Monat, also Februar. Darunter war eine große Zahl zu sehen. Die Zehn. Der Kalender war nicht in meinem Zimmer. Ich war nicht zu Hause. Ich war woanders.

      Ich musste erst einmal überlegen, wo ich war. Langsam wurde es mir klar. Ich war bei meiner besten Freundin. Ich war in ihrem Bett. Wie kam ich nur hier her?

      Ich erinnerte mich dunkel, dass wir gestern Abend in einen Club gingen. Meine Freundin kam zu mir. Von mir gingen wir zum Club. Gegen zwanzig Uhr waren wir dort. Im Club tanzten wir. Natürlich tranken wir auch Alkohol. Vielleicht lag es daran, dass ich mich an die letzte Nacht kaum erinnern konnte.

      Langsam kam mein Gedächtnis zurück. Langsam erinnerte ich mich, was in der letzten Nacht geschah. Ich sah zwar nur Bruchstücke, doch diese reichten halbwegs, um mich zu erinnern. Ich sah einen Moment, wie meine Freundin und ich Arm in Arm nach Hause gingen. Dann sah ich mich nackt. Nicht nur mich. Auch meine Freundin war nackt. Hatten wir etwa? Hatten wir etwa miteinander geschlafen?

      Ich hob vorsichtig die Bettdecke nach oben. Ich erschrak. Ich hatte nichts an. Mit großen Augen drehte ich meinen Kipf nach rechts. Meine Freundin lag dort. Genau jetzt öffnete sie ihre Augen. Sie wünschte mir einen guten Morgen. Erst dann sah sie meine großen Augen.

      Sie wunderte sich darüber. „Du weißt wohl nicht, was letzte Nacht geschah. Warum wir beide nackt sind“ sagte sie. Ich bejahte es. Dann sagte meine beste Freundin mir das, was ich schon ahnte. Sie und ich hatten miteinander geschlafen. Sie erzählte mir jedes Detail. Sie konnte sich an alles erinnern.

      Ich erschrak noch mehr. Ich hatte zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen! Das wäre ja normal, wenn ich männlich wäre, aber ich bin doch eine Frau. Ich stand doch bisher auf Jungs und Männer. Sollte sich das jetzt geändert haben? Sollte ich jetzt lesbisch sein?

      Nein, das konnte nicht sein. Der Alkohol war Schuld. Ohne Alkohol wäre ich nicht nachts im Zimmer meiner besten Freundin gelandet. Ich hätte sie nicht geküsst. Ich hätte sie nicht entkleidet. Ich hätte nicht mit ihr geschlafen. Ich wäre am elften Februar nicht nackt im Bett meiner besten Freundin aufgewacht. Der Alkohol ist Schuld. Ganz sicher, oder?

      Elfter Februar

      Eins plus Eins macht Zwei. Doppelt hält besser, das weiß jedes Kind. Auch ich wusste es. Nur bekam ich das mit dem Eins und Eins nicht wirklich hin.

      Damals als ich in der Schule war, hatte ich eine Freundin. Eine feste Freundin. Nachdem ich die Schule wechselte, lernten wir uns in der dritten Klasse kennen, es war nicht die Liebe auf den ersten Blick. Wir mochten uns zwar von Anfang an, doch Liebe war es nicht. Noch nicht.

      Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Wir lernten gemeinsam und verbrachten auch außerhalb der Schule Zeit miteinander. Das lag wohl auch daran, dass sich ihre und meine Eltern kannten. Oft kamen ihre Eltern zu uns oder wir zu ihnen. Ab und zu ging es auch ins Kino. Nicht alle waren dabei. Sie und ich waren dabei. Unsere beiden Eltern nicht immer. Entweder waren ihre Eltern dabei oder meine. Entweder war ihr Vater dabei oder meine Mutter.

      Einmal durften wir alleine ins Kino gehen. Wobei durfte nicht das richtige Wort war. Eigentlich war geplant, dass sie, ich und meine Mutter ins Kino gehen sollten. Doch meiner Mutter kam etwas dazwischen. Wir hatten keine Lust, deswegen das Kino sausen zu lassen. Wir hätten Zuhause bleiben müssen. Wir hätten kaum gewusst, was mir machen sollten. Kino klang besser. Viel besser.

      So gingen sie und ich allein ins Kino. Etwas Geld bekam ich von meiner Mutter spendiert. Es sollte für die zwei Kinokarten reichen. Popcorn war auch noch drin. Am Kino angekommen, konnten wir uns entscheiden. Zwei kleine Portionen Popcorn oder eine große? Zwei kleine ergaben nicht den Inhalt der großen. Es war weniger. So entschieden wir uns gemeinsam für eine große Popcorntüte.

      Nachdem ich alles bezahlte, gingen wir in den Kinosaal. Das Kino war groß. Es gab sieben Kinosäle. Unser Film, den sie aussuchte, lief nicht in Kino Eins. Auch in Kinosaal Zwei oder Drei lief er nicht. Wir mussten in den letzten. Im siebten Kinosaal lief unserer Film. Wir nahmen Platz. Sahen uns die Werbung an. Dann folgte der Film.

      Während des Films naschten wir vom Popcorn. Unsere Hände griffen in die Popcorntüte. Unsere Hände berührten sich. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal sahen wir uns an. Wir lächelten uns an und plötzlich war da etwas zwischen uns. In diesem Moment funkte es zwischen uns. Wir wurden ein Paar.

      Sie war meine erste Freundin. Sie war meine einzige Freundin. Bis heute. In der achten Klasse gingen wir getrennte Wege. Wir blieben Freunde. Doch mehr lief zwischen uns nicht mehr. Sie war ein schönes Mädchen. Sie blieb eine schöne Frau. Sie hatte immer wieder einen Freund. So lange wie mit mir hielt es aber nicht. Nach spätestens zwei Jahren war in der Regel Schluss.

      Ich fand keine neue Freundin. Mittlerweile bin ich zweiunddreißig. Ziemlich alt. Ob ich noch einmal eine Freundin finde? Ich weiß es nicht. Ich tue eigentlich nichts dafür. Ich müsste in Clubs und Diskotheken gehen. Dort könnte ich jemanden kennenlernen. Dort könnte ich eine Freundin finden.

      Ich könnte mich auch bei einer Partnerbörse anmelden. Dort mein Glück versuchen. Doch dafür habe ich nicht wirklich das Interesse. Dort alles von mir preiszugeben und doch vielleicht nicht die Eine zu finden. Ach, nein, da gehe ich morgen lieber in einen Club.

      Zwölfter Februar

      Nicht noch einmal werde ich mich auf Dich einlassen. Da bin ich mir sicher. Mit Dir bin ich fertig. Endgültig.

      Ich