Erzählen-AG: 366 Geschichten. Andreas Dietrich

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Название Erzählen-AG: 366 Geschichten
Автор произведения Andreas Dietrich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753171944



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Wäre da nur nicht die blonde Dame gewesen, die mich ansah.

      Ich sah ihr in die Augen und folgte dem Bus mit meinen Augen. Irgendwann war der Bus weg, doch die Dame blieb in meinen Gedanken. Sie hatte mich fasziniert. Ihre Augen waren so schön. Ich könnte nicht erkennen, welche Farbe sie hatten, doch meinem Herzen war eines bewusst: Die Augen waren Engelsaugen.

      Ich verliebte mich in die Dame. Klar, dass ich die nächsten Tage immer etwas früher als sonst losfuhr. Ich wollte rechtzeitig an dieser Ampel sein. Früh genug, um den Bus nicht zu verpassen. Früh genug, um die Dame nicht zu verpassen. Sie wieder anzusehen.

      Am siebenten Tag, an dem ich diese Strecke fahren musste, war ich besonders früh. Diesmal stand ich nicht an der Ampel. Diesmal stellte ich mein Fahrrad an einer Haltestelle ab, an der der Bus halten sollte. Als der Bus kam, stieg ich ein. Ich sah die Dame. Ich sprach sie an. Ich erzählte ihr, was ich die letzte sieben Tage getan habe. Dann stellte ich ihr eine Frage.

      Sie antwortete mit Ja. Wir trafen uns am folgenden Wochenende in einem italienischen Restaurant. Ich lud sie zum Essen ein. Sie lud mich zu sich nach Hause ein. Seit diesem Tag sahen wir uns jeden Tag. Wir wurden ein Paar. Ein Paar, dass auch noch nach dreizehn Jahren glücklich zusammen lebt. Und wenn nichts dazwischen kommen sollte – was ich sehr hoffe – so werden wir auch noch zweisam sein, wenn wir alt und grau sind.

      Fünfzehnter Februar

      Es war Winter. Nicht nur kalendarisch, sondern auch meteorologisch. Wir hatten Februar. Es musste draußen kalt sein. Es musste draußen Schnee liegen. Zu mindestens dann, wenn der Winter seinem Namen alle Ehre machen wollte.

      Die Kinder gingen nachmittags raus, wenn sie Schule hatten. Waren die Kinder zu Hause, so wie am Wochenende, gingen die Kinder schon am Vormittag hinaus. Sie machten eine Schneeballschlacht. Sie holten den Schlitten aus dem Keller und gingen rodeln. Einen kleinen Abhang gab es fast überall. Manchmal war der Abhang auch ein kleiner Berg, der zum Rodeln einlud. Wer keinen Schlitten besaß, baute einen Schneemann. Vielleicht auch mehrere. Sofern der Schnee reichlich war. Ohne Schnee konnte natürlich kein Schneemann gebaut werden.

      Während die Kinder in der Schule waren, während sie im Kindergarten waren, während die Kinder Zuhause bei ihren Eltern waren, war die arbeitende Bevölkerung unterwegs zur Arbeit. Vielleicht schon auf der Arbeit. Doch nicht jeder Erwachsene ging zur Arbeit. Manch einer lernte noch. Machte seinen Hochschulabschluss. Seinen Bachelor, seinen Master oder noch ganz altmodisch sein Diplom.

      Auch ich war damals zur Universität unterwegs. Sie lag in der nächsten größeren Stadt. Ein Auto besaß ich nicht. Einen Führerschein hatte ich noch nicht. Mit Fahrrad wäre es zu weit. Zu Fuß hätte es Stunden, wenn nicht Tage, gedauert. Mir blieb nur eine Lösung. Ich musste die Bahn nehmen. Glücklicherweise gab es in meiner Gemeinde einen Bahnhof. Zum Glück hatte ich es bis zum Bahnhof nicht weit. Ich musste nur wenige hundert Meter laufen. Zehn Minuten brauchte ich zum Bahnhof. Zum Glück war auch meine Universität mit der Bahn zu erreichen. Bis dorthin war ich eine Stunde unterwegs - mit Zug. Dann musste ich noch eine Viertelstunde mit der Straßenbahn fahren, ehe ich am Campus ankam.

      Ich war im ersten Semester und fuhr jeden Tag mit der Bahn. Kurz nach sieben Uhr musste ich los. Jetzt im Februar musste ich nicht mehr so oft zur Uni. Es war vorlesungsfreie Zeit. Trotzdem hatte ich genug zu tun. Bis Mitte Februar liefen die Prüfungen. Wer nicht lernte, konnte durchfallen. Auch ich lernte. Der Erfolg blieb nicht aus. Beruflich als auch privat.

      Es war der fünfzehnte Februar. An diesem Tag hatte ich meine letzte Prüfung. An dem Tag ging ich etwas früher los. Ich benötigte noch eine Fahrkarte. Eine Fahrkarte mit der ich zur Uni und zurückkommen konnte. Am Ticketschalter kaufte ich mir eine Fahrkarte für elf Euro fünfzig. Dann ging ich zum Bahnsteig Zwei. Von dort fuhr mein Zug immer ab, wenn ich zur Uni wollte.

      Ich musste einige Minuten warten. Die Fahrkarte erhielt ich schneller als ich dachte. Ich plante immer mehr Zeit ein. Den Zug verpassen wollte ich nicht. Er fuhr nur einmal in der Stunde. Den Zug verpasste ich an diesem Tag auch nicht.

      Zum Glück. Sonst hätte ich meine Frau nie kennengelernt. Ich stieg damals in den Zug. Nahm wie immer Platz. Nach einiger Zeit kam die Schaffnerin. Sie hatte hellblondes kurzes Haar. Doch noch bevor ich sie sah, hörte ich sie. „Die Fahrkarten bitte“ rief sie. Ich suchte meine Fahrkarte und wollte sie der Schaffnerin zeigen. Sie schlich sich von hinten an und überrumpelte mein Herz. Als ich die Schaffnerin sah, raste mein Herz. Ich hatte mich auf den ersten Blick verliebt. Da ich wusste, dass ich die Schaffnerin eventuell nie wieder sehen würde, sprach ich sie während der Kontrolle an. Ich lud sie zu einem Kaffee ein. Sie nahm die Einladung an. Nach unserem zweisamen Treffen waren wir ein Paar. Ein Paar, das heute verheiratet ist und ein Kind hat. Ein zweites Kind wird folgen. Da sind wir uns sicher. Sehr sicher. Die Frage ist nur noch wann.

      Sechzehnter Februar

      Ich bin über zwanzig. Meine Ausbildung habe ich hinter mir. Ich war sechs Jahre in der Grundschule. Ich war nicht der Beste. Ich war nicht der Schlechteste. Ich befand mich im Mittelfeld.

      Nach der Grundschule ging ich ab der siebenten Klasse auf die Realschule in meinem Ort. Dort machte ich die Fachoberschulreife. Wieder war ich nicht der Beste. Wieder war ich nicht der Schlechteste. Ich war wieder einmal im Mittelfeld. Anschließend begann ich meine dreijährige Ausbildung. Mein Ausbilder hat mich danach übernommen. Seit drei Jahren arbeite ich nun als vollwertiger Mitarbeiter hier.

      Meine Arbeitsstelle liegt nicht im dem Ort, in dem ich auch lebe. Dort, wo meine Freunde und meine Familie leben, arbeite ich nicht. Es ist auch kein Katzensprung bis zur Arbeit. Es sind geschätzt vierzig Kilometer bis dorthin. Ich könnte mit dem Auto fahren. Doch noch habe ich weder Auto noch einen Führerschein.

      So war ich mit Bus und Bahn unterwegs. Früh morgens lief ich eine Minute zur Bushaltestelle. Der Bus brachte mich zum Bahnhof. Ich musste nur die Straße überqueren und schon stand ich auf dem Bahnsteig. Zehn Minuten später fuhr der Zug. Mit diesem war ich rund zwanzig Minuten unterwegs. Dann noch fünf Minuten laufen und ich war auf Arbeit.

      Nachmittags dann dasselbe Spiel. Nur umgekehrt. Ich lief erst fünf Minuten bis zum Bahnhof. Dort wartete ich zirka zehn Minuten. Dann kam mein Zug. Zwanzig Minuten später stieg ich wieder aus dem Zug aus. Ich lief zur Bushaltestelle und wartete etwas mehr als zehn Minuten. Dann kam mein Bus an. Sieben Minuten später war ich zu Hause.

      So ging es montags bis freitags. Nur wenn ich Urlaub hatte, blieb ich Zuhause. In meiner Ausbildungszeit war es ähnlich. Nur wenn ich zur Berufsschule musste, war der Weg etwas anders. Doch nicht viel. Meine Arbeitsstelle und die Berufsschule waren nur einen Kilometer voneinander entfernt.

      Ich fuhr also beinahe täglich mit der Bahn. Ich sah viele Menschen. Frauen und Männer. Senioren und Kinder. Manche Leute sah ich zweimal. Manche nur einmal. Manche traf ich unregelmäßig wieder. Eigentlich war es mir egal, wie oft ich wen sah. Es waren fremde Menschen für mich.

      Doch heute sah ich jemand, den ich gerne wiedersehen wollte. Sie fiel mir auf, als ich fast zu Hause war. Ich wollte den Zug kurze Zeit später verlassen, weil ich Zuhause war. Sie war ebenfalls fast zu Hause. Sie verließ vor mir den Zug. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn wir beide nicht in der oberen Etage des Doppelstockwagens gewesen wären. Als ich die ersten Treppenstufen hinab ging, sah ich sie.

      Ehrlicherweise muss ich sagen, sie war nicht die Schönste. Das meine ich auch heute noch. Doch trotzdem hatte sie etwas. Irgendetwas zog mich an. Irgendetwas war da. Ich wusste nur nicht was. Ich wusste, dass ich sie wiedersehen möchte. Ich wusste, dass ich jeden Tag an sie dachte.

      Ist es Liebe? Habe ich mich in sie verliebt? Aber müsste ich dann nicht sagen können, dass sie wunderschön ist? Ich kann es nicht. Es gibt schönere Frauen. Frauen, die schöneres blondes Haar haben. Frauen, die schönere blaue Augen haben. Kann dies wirklich Liebe sein? Wenn es nicht Liebe ist, was ist es dann? Ich denke an sie. Ich träume von ihr. Ich lächele, wenn ich sie im Zug sehe. Das muss doch Liebe sein, oder?

      Siebzehnter Februar

      Heute