Das dritte Kostüm. Irene Dorfner

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Название Das dritte Kostüm
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738018509



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aber ist die Sprache ein wichtiges Fundament, um in der Gesellschaft integriert und darin anerkannt zu werden.“

      Die beiden Beamten waren sehr beeindruckt, nicht viele dachten und handelten wie Makarenko.

      „Was genau macht Ihr Verein? Wie muss ich mir Ihre Arbeit vorstellen?“

      „In erster Linie sind wir eine Anlaufstelle für Menschen aus unserer Heimat, die hier vollkommen fremd sind. Sie können sich nicht vorstellen, welchem Kulturschock man ausgesetzt ist, wenn man plötzlich hier in Bayern landet.“ Hans und Leo konnten sich das sehr gut vorstellen, selbst für Leo war die Umstellung von Ulm nach Mühldorf ganz schön krass. „Wie gesagt, helfen wir Ukrainern bei den Formalitäten. Wir bieten Sprachkurse an, organisieren Kindergartenplätze, helfen bei der Schulwahl, vor allem bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Darüber hinaus wollen wir der Bevölkerung unsere Kultur und unsere Mentalität näher bringen, das ist uns sehr wichtig, denn nichts wirkt angsteinflößender als das Fremde. Deshalb veranstalten wir regelmäßig Konzerte, Informationsabende, Straßenfeste und so weiter. Als der Krieg noch nicht in der Ukraine angekommen ist, haben wir gerne Reisen für unsere Freunde und Interessierte organisiert, aber das haben wir aufgrund der politisch schwierigen Lage vorerst zurückgestellt. Es macht uns traurig, dass sich unsere Heimat im Kriegszustand befindet.“

      2.

      Leo und Hans fuhren nach Altötting. Sie waren sich darüber einig, dass Makarenko ein sehr intelligenter und angenehmer Mensch ist. Beide nahmen sich fest vor, bei einer der nächsten Veranstaltungen teilzunehmen, die sie aus den Unterlagen lasen, die ihnen Makarenko bei der Verabschiedung in die Hand gedrückt hatte. Der hätte es nämlich sehr gerne gesehen, wenn sich die örtliche Polizei persönlich für ihren Verein interessierte. Dass Makarenko bereits eine Veranstaltung für seine Mitglieder gemeinsam mit den Mitarbeitern der Polizei im Hinterkopf hatte, ahnten die beiden nicht.

      Ihre nächste Anlaufstelle befand sich in Altötting in der Neuöttinger Straße, die nicht weit vom Kapellplatz entfernt war. Leo parkte den Wagen wie früher auch in der Nähe des Kapellplatzes, was Hans nicht verstand.

      „Warum fährst du nicht bis zur Neuöttinger Straße? Wir finden dort bestimmt in der Nähe des Hauses einen geeigneten Parkplatz, auch wenn heute Samstag und um die Uhrzeit bestimmt die Hölle los ist. Wir müssten nicht ewig weit laufen.“

      „Beschwer‘ dich nicht mein Freund, etwas Bewegung wird dir guttun,“ lachte Leo, der in Wahrheit nur aus Gewohnheit hierher gefahren war. Beide kannten sich auch aufgrund des letzten Falles hier gut aus und besonders Leo hatte ein sehr mulmiges Gefühl im Magen, als er die Magdalenenkirche passierte. Er hielt kurz vor dem Kapuzinerkloster, an das er keine guten Erinnerungen hatte. Das Gesicht von Bruder Benedikt tauchte für einen Moment vor seinem Gesicht auf und er wurde traurig, denn dieser Bruder starb nach einem entbehrungs- und arbeitsreichen Leben, kurz nachdem Leo mit ihm gesprochen hatte.

      „Trödel nicht rum,“ trieb Hans ihn an, der keinen weiteren Gedanken an die letzten Fälle verschwendete. Für ihn waren diese Fälle gelöst und längst vergessen, er hatte mit den Jahren gelernt, nur noch nach vorn zu schauen. Hans war grundsätzlich ganz anders als Leo. Er machte sich über andere Menschen kaum Gedanken, hing Vergangenem nicht hinterher – für ihn gab es nur das Jetzt und die Zukunft. Und die bestand darin, dass er sein Leben so lebte, wie er es für richtig hielt, ohne dabei andere zu verletzen. Nach dem gewaltsamen Tod seiner Doris vor über einem Jahr fiel er in ein tiefes Loch, aus dem er aber auch durch seine Einstellung unbeschadet wieder herauskam. Zum Glück, denn sonst wäre er für Lucrezia nicht offen gewesen, seine freche, vorlaute italienische Freundin, die er vor einigen Monaten während eines kniffligen Falles in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte. Er hielt seine Beziehung vor seinen Freunden und Kollegen noch geheim, da er sich die Sprüche und Bemerkungen lebhaft vorstellen konnte, denen er dadurch ausgesetzt wäre. Lucrezia war seiner Meinung und ihre italienischen Kollegen vermuteten zwar, dass sie einen Freund hatte, aber sie genoss es, sie im Trüben fischen zu lassen. Beide hatten mehrere Beziehungen hinter sich und waren keine Teenager mehr, aber durch diese Heimlichkeiten hatten sie fast das Gefühl, nochmal so jung und unbefangen sein zu dürfen.

      Nach nur zehn Minuten Marsch standen sie vor dem alten Haus in der Neuöttinger Straße, an dessen Tür nur eine schlichte, handgeschriebene Tafel mit dem Hinweis auf den russischen Verein angebracht war. Sie klingelten und klopften. Früher war das ein Einzelhandelsgeschäft gewesen, dessen Besitzer entweder aufgaben, oder keinen Nachfolger hatten, der das Geschäft weiterführen wollte. Leo war aufgefallen, dass es vielen Geschäften hier so zu gehen schien, denn alte Läden, die nach oder sogar noch vor dem Krieg voller Euphorie und Hoffnung geöffnet und geführt wurden, waren in den letzten Jahren geschlossen worden und standen leer. Aber so ist nun mal der Lauf der Zeit. Wenn man sich gegen die Konkurrenz nicht durchsetzen kann oder keinen geschäftstüchtigen Nachfolger hat, muss man gezwungenermaßen den Laden dicht machen.

      Ein älterer Mann mit grauem Haar und Schnurrbart öffnete endlich vorsichtig die Tür. Leo und Hans stellten sich vor und bemerkten sofort das Misstrauen, das ihnen entgegenschlug.

      „Herr Zwetkow? Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf, das ist mein Kollege Hiebler. Wir haben unseren Besuch telefonisch angekündigt.“

      „Richtig, Sie haben mit mir gesprochen. Mein Name ist Sergej Zwetkow. Ich heiße Sie herzlich willkommen, bitte kommen Sie herein.“

      Sie folgten dem Mann durch das leere Ladengeschäft in das Treppenhaus, das nur mit einer nackten Glückbirne beleuchtet war. Leo roch den Duft vergangener Zeit und konnte sich lebhaft vorstellen, welches geschäftige Treiben hier früher stattgefunden haben durfte. Die Stufen der Treppe waren stark abgenutzt und er stellte sich vor, wie viele Generationen hier Tag für Tag auf- und abgegangen sein mussten. Zwetkow bot ihnen in einem der oberen Räume in einem mit alten Möbeln bunt zusammengewürfelten Zimmer Platz an. Das hier war so gar nicht mit dem ukrainischen Verein in Mühldorf zu vergleichen. Zwetkow bemerkte wohl, dass Leo sich nicht gerade begeistert umblickte.

      „Entschuldigen Sie bitte den Zustand des Hauses. Wir sind erst vor wenigen Monaten Besitzer dieser Immobilie geworden und sind vorerst nur notdürftig eingezogen. Wir hatten anfangs noch nicht die Mittel, alles hübsch zu renovieren. Aber die Gelder sind aufgrund großzügiger Spenden jetzt verfügbar und die Handwerker sind bestellt; in vier Wochen geht es los. Danach werden Sie das alte Haus nicht wiedererkennen. Die frühere Besitzerin war eine Damenschneiderin, die leider kinderlos verstarb. Die Erben haben sich viele Jahre um die Immobilie gestritten, bis sie schließlich versteigert wurde. Natürlich ist der Zustand nach der Zeit nicht sehr gut, aber wir haben wenig dafür bezahlt und freuen uns darauf, dass wir in absehbarer Zeit einen schönen Ort der Gemeinsamkeit haben werden, den wir dringend brauchen. Altötting hat sehr viele russische Zuwanderer, die unsere Hilfe und die Gemeinschaft Gleichgesinnter brauchen, mit denen sie ihre Freizeit verbringen können.“

      „Verstehe ich nicht,“ sagte Leo, der keinen Sinn darin sah, dass sich Menschen aus dem gleichen Land auf der ganzen Welt immer zusammenrotten müssen, auch wenn sie sich nicht mochten. Egal, in welchem Land er bisher war, überall wurde er von Deutschen angesprochen und man erwartete, dass man sich zusammentat. Wenn man sich gegenseitig unterstützt und die Eingewöhnung leichter macht, dann macht das Sinn, aber nur für die Freizeitgestaltung?

      „Wir Russen sind hier Fremde und werden in Bayern nicht gerne gesehen. Es wird bestimmt weitere Generationen und viel Arbeit der Politiker benötigen, bis wir dazugehören. Auch wenn wir hier arbeiten und Steuern bezahlen, gehören wir doch nicht dazu. Es wird zwar immer Toleranz und Integration gepredigt, vor allem, wenn irgendwo schreckliche Übergriffe auf Migranten stattfinden. Aber im wahren Leben, im täglichen Miteinander sieht das immer noch ganz anders aus. Schon allein der Name stempelt uns als Russen ab, und wenn man dann noch einen Akzent in der Sprache hat, hat man verloren. Die Deutschen sind eben noch nicht so weit.“

      Leo ärgerte sich über diese Einschätzung, auch wenn Zwetkow wahrscheinlich aus persönlicher Erfahrung sprach. Trotzdem konnte er das nicht einfach so stehen lassen.

      „Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck von uns Deutschen haben. Aber das ist kein