Nächstes Treffen Adria. Johanna Kemme

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Название Nächstes Treffen Adria
Автор произведения Johanna Kemme
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753189789



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-regalen, die vor ihnen Sitzenden porträtieren und die Silhouette dieser schönen Stadt immer wieder aus den verschiedensten Perspektiven malen.

      Auf einmal legt sich die Nacht über Florenz wie ein feines, dunkles Tuch und als hätten sie sich verabredet zum Einbruch der Dunkelheit, erscheinen plötzlich überall bunte Gestalten: Clowns, Zauberer, Straßenmusikanten. Schon haben sich die ersten Menschen im Halbkreis um sie formiert. Ein jeder möchte möglichst viel von dem, was ihm nun präsentiert wird, mit den Augen verfolgen können. Der eine jongliert, erst nur mit bunten Bällen, dann bringt er mit dem Fuß einen Kegel nach dem anderen in die fliegenden Bälle hinein. Der andere steht still, ganz still vor einer Wand. Hinter der dicken Schicht Farbe auf seinem Gesicht ist kaum mehr eine Mimik zu erkennen. Nur seine Augen bewegen sich, folgen den Menschen, die gehen. Bis diese Augen plötzlich ein Kind fixieren, es anstarren mit bösem Blick. Das Kind, ängstlich geworden ob der starrenden Augen, greift schnell nach Mutters Hand. Da löst sich die Gestalt plötzlich aus ihrer Starre und greift nach jemandem, der gerade erst an ihm vorbeigegangen ist. Einem, der sich darüber aufgeregt hat, dass der mit der Maske das Kind so erschreckt hat vielleicht. Von hinten angetippt, bleibt dieser so unverhofft Berührte erschrocken stehen, starrt nun seinerseits den maskierten Tipper an, während dieser ihm freundlich lächelnd die ausgestreckte Hand zum Drücken hinhält. Überall stehen sie nun, um die Leute zu amüsieren, stets den Hut, die Schachtel oder ähnliches neben sich, Behältnisse für ihren Lohn.

      Auf einem kleinen Platz, der nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt sein kann, steht ein junger Mann mit halblangen, dunklen Haaren auf einem winzigen Platz. An einem bunten Gurt schräg über seinen Schultern hängt eine Gitarre vor seinen Bauch. Den Koffer, in dem er sein Instrument transportieren kann, hat er vor seine Füße gelegt, den Deckel nicht zugeklappt. Unentschlossen schaue ich auf die vier, fünf jungen Leute, die sich vor dem Koffer im Schneidersitz auf den Boden niedergelassen haben. Der Straßenmusikant unterhält sich so angeregt mit einem von ihnen, dass er vergessen zu haben scheint, wozu er das Instrument in seinen Händen hält. Ich bleibe kurz stehen, warte, aber da nichts passiert, lasse ich mich von der Menschenmenge weiterschieben. Erst als ich schon in der angrenzenden Gasse bin, höre ich doch noch den Klang der Seiten. Gezupfte Töne, die schon kaum mehr wahrnehmbar sind durch die Geräuschkulisse, die mich umgibt. Sanft ertönt nun auch die Stimme des Musikanten mit einem mir bekannt vorkommenden, französischen Lied, wie ein zarter Ruf, dass ich bleiben möge. Ein wenig schüchtern lächelt mich der junge Mann mit der sanften Stimme an, als ich mich vor ihn zu den anderen setze. Die aufgerollte Isomatte, in welche ich meinen Schlafsack gestopft habe, lege ich neben mich. Auch der Straßenmusiker scheint nicht hier zu wohnen, spekuliere ich beim Anblick des kleinen Rucksacks, der hinter ihm an der Hauswand lehnt. Die zwei Mädchen rechts neben mir singen leise mit. Drei Späthippies haben sich mit dem Rücken an die Hauswand an der Seite gelehnt, wippen mit ihren Füßen zum Rhythmus hin und her. Sie machen den Eindruck, als würden sie hier leben, als wäre das ihr Stammplatz hier, ihr Draußen-Zuhause.

      Mir fallen die Fotografien von den Zerstörungen ein, welche im II. Weltkrieg und bei dem Rückzug der Deutschen Wehrmacht 1944 in dieser schönen Stadt angerichtet worden waren. Ich hatte sie auf meinem Weg durch die Stadt gesehen. Schwarz-weiß sehe ich die Bilder von den Brücken vor mir, die in unzählige Teile gebrochen im Arno liegen und das Foto von dem Glockenturm, der einzig unversehrt in mitten von Trümmern steht, als hätte Gott seine Finger im Spiel gehabt. Wer hatte alle diese Fotographien wohl gemacht? Und wer war auf die Idee gekommen, sie in Passepartouts aus fester Pappe zu rahmen und sie den Touristen zwischen lauter alten Büchern zum Verkauf anzubieten? Diese Fotos waren mir wie Mahnmale vorgekommen. Mahnmale gegen den Faschismus, den Krieg, die Judenverfolgung. Mahnmale gegen all den Wahnsinn, den Menschen angerichtet haben vor nunmehr fast vierzig Jahren.

      Gedankenverloren lausche ich der Stimme, die schon ein weiteres Lied angestimmt hat. Straßenmusiker gibt es ja viele. Dieser hier aber, finde ich, hat nicht nur eine selten schöne Stimme, er beherrscht sie auch wirklich perfekt. Kräftiger erklingt diese nun bei dem zweiten Lied, das er anstimmt, lauter. Das muss auch so sein, weil er die Seiten jetzt schlägt. Hinter uns bleiben die Menschen stehen, bilden eine schützende Wand um uns herum. Der letzte Akkord ist kaum verklungen, da applaudieren sie schon. Und einige, die weiter wollen, versuchen, sich zwischen uns Sitzenden hindurchzudrängeln, damit sie ein paar Münzen in den offenstehenden Gitarrenkoffer unsere Musikanten werfen können.

      Der Platz zu eng, zu sehr Durchgangsort, als dass hier ein großes Publikum zusammenkommen könnte. Schade, fühle ich, denn dieser Musiker hätte ein paar mehr Zuhörer sehr wohl verdient. Schade auch, dass er hier in die Ecke gestellt nicht wie auf anderen Plätzen davon profitieren kann, dass die Töne von den mehrstöckigen Häuserfronten zurückgeworfen werden.

      Von unten blicke ich in sein singendes Gesicht. Sanfte Züge hat der dunkelhaarige Mann, den ich mal auf um die zwanzig schätze. Und große, große Augen, wenn er mal seinen Kopf zu uns herunterneigt. Endlos scheint sein Repertoire zu sein, als hätte er sämtliche „Liederkisten“ komplett auswendig gelernt. Ob es die wohl auch in Italien gibt? Diese auf Umweltschutzpapier gedruckten Heftchen im DIN A5 Format, in denen sich stets eine große Auswahl an Liedern findet, handgeschrieben oft die Noten, die Texte dazu mit einer Schreibmaschine darunter getippt? „All, we are saying“, stimmen plötzlich viele Umstehende in den Refrain mit ein, ohne dass ich überhaupt mitbekommen habe, dass er dieses Stück gerade spielt. „Is give peace a chance!” Es klingt immer beeindruckend, wenn mehrere Menschen gemeinsam ihre Stimmen erheben, besonders aber an einem Ort draußen, der nicht explizit bestimmt ist dafür. Der junge Mann mit der Gitarre hat sie wohl gar nicht dazu aufgefordert, aber bei solchen Songs ergibt es sich eben. Mein Blick schweift durch die Menge hinauf zu den Menschen, die hinter mir stehen. Weiter oben sind in dem dunklen Himmel tatsächlich ein paar Sterne zu sehen. Ich beginne, leise mitzusingen, wann immer ich kann, wann immer ich den Text beherrsche.

      Ein untersetzter Typ mit scheinbar endlos langen, dunklen Haaren, die er offen trägt und die, wenn er sitzt, den Boden berühren, spricht die, die um ihn herumsitzen, an, hält ihnen die offene Hand entgegen, wohl, damit sie etwas Geld hineinlegen. „For wine“, sehe ich das dunkelblonde Mädchen neben mir sagen, das schon die ganze Zeit mit ihren schmalen Fingern über die Hand und den Arm des Jungen streichelt, welcher sie liebevoll im Arm hält. Schon ist der Langhaarige aufgestanden und seine Hand kommt ganz nah an mich heran. Ich gebe ihm sämtliche Münzen, die ich in meinem Portemonnaie finden kann. Dafür bedankt sich der Langhaarige mit einem liebevollen Lächeln, bevor er seine Hand weiterwandern lässt von einem zum anderen. Ich schaue ihm nach, wie er in der gegenüberliegenden Gasse verschwindet. Gerade geschnitten ist seine Mähne, das kann man nun sehen, und sehr äußerst gepflegt.

      Unser Musiker hat Texte in allen möglichen Sprachen im Kopf. Er kann sie singen, Strophe für Strophe, ohne sich zu verhaspeln, ohne dass es falsch klingt in meinen Ohren. Ob sie wohl braun sind diese großen Augen? Unmöglich bei diesen Lichtverhältnissen, das zu erkennen.

      Vorsichtig zwängt sich der junge Mann mit den endlos langen Haaren durch die umherstehende Zuschauermenge an seinen Platz zurück, eine Flasche Rotwein in jeder Hand. Wo er wohl denjenigen gefunden hat, der ihm die Korken aus den Flaschen gezogen hat? Ein oder zwei Schlucke, dann wird er weiter gereicht, der Rotwein in den Flaschen, die keinen Korken mehr haben. Ich schaue in die Gesichter der jungen Leute, die um mich herum sitzen. Zwanzig sind wir hier wohl alle zusammen, von den Späthippies an der Wand mal abgesehen. Die sind gerade im Begriff, einen Joint zu bauen und amüsieren sich köstlich über etwas, was dabei scheinbar schief gegangen ist. Immer kühler wird die Luft, immer angenehmer. Auch das Gedränge hinter uns verringert sich langsam. Die Menge hinter uns löst sich auf, als auch der Straßenmusiker sich auf den Boden setzt und aufhört zu spielen, weil einer ihm eine der beiden Flaschen mit dem Rotwein hinhält.

      So gut unser Musiker die vielen Sprachen singen kann, so schlecht spricht er sie aber wohl. Mit dem Englischen, gibt er uns lächelnd zu verstehen, sieht es besonders schlecht aus. Er nimmt dankend ein paar Schlucke von dem Wein, wechselt dazwischen ein paar Worte mit dem Mann mit den langen Haaren, der die Getränke besorgt hat und aus Spanien zu kommen scheint. Die Augen des Cantante leuchten, als er lacht und erneut an die Seiten seiner Gitarre greift. Aber er bleibt sitzen, als er das folgende Lied anstimmt. Nun ist er einer von uns geworden, empfinde ich, von denen, die hier