ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner

Читать онлайн.
Название ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847636366



Скачать книгу

im Gegenteil, Max. Diesmal hab ich alles richtig gemacht«, widersprach Anna, beugte sich nach vorn, bis ihr Gesicht wieder ins Licht geriet, und starrte ihn aus ihren tief in den Höhlen liegenden Augen anklagend an. »Fast eine ganze Woche hing ich an dem verdammten Seil, bis ich endlich gefunden wurde. Es war der Gerichtsvollzieher, der gekommen war, um mich aus meiner Wohnung zu werfen, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Und das alles nur wegen dir und deiner verfluchten Skrupellosigkeit. Du hast mich auf dem Gewissen, Max Ackermann!«

      Erschrocken wich Max zurück, so weit es ihm der Barhocker gestattete. Die Alte war ja komplett wahnsinnig! Es war gut möglich, dass er sie vor einigen Jahren tatsächlich um ihr Geld gebracht hatte. Es waren damals so viele gewesen, dass er sich nicht mehr an jeden Einzelnen erinnern konnte. Aber er hatte doch nur ihr Geld genommen und nicht ihr … ihr Leben.

      »Mein Tod geht auch auf dein Konto, Max Ackermann!«, ertönte in diesem Moment eine neue Stimme unmittelbar hinter ihm.

      Max wirbelte auf dem Hocker um die eigene Achse und sah sich nach dem Sprecher um.

      Die übrigen Gäste in der Bar hatten ihre Plätze verlassen. Während seiner Unterhaltung mit Anna waren sie lautlos und unbemerkt aus ihren Nischen geschlüpft und näher herangekommen. In einem engen Halbkreis standen sie nun vor ihm im trüben Lichtschein und präsentierten sich in all ihrer Schönheit. Und einer sah schlimmer aus als der andere.

      »Bei mir lief die Sache nahezu identisch ab«, sagte ein Mann. »Ich hab mich allerdings nicht aufgehängt, sondern mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Das ging schneller.« Er bohrte seinen Zeigefinger in das schwarz verkrustete Einschussloch in seiner rechten Schläfe, bis die vorderen beiden Fingerglieder komplett darin verschwunden waren.

      »Mich hast du auch über den Tisch gezogen, Max Ackermann«, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, dessen verzerrte Gesichtszüge Max sogar vage vertraut vorkamen. »Du hast mir meine Firma gestohlen! Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als meine ganze Familie mit in den Tod zu nehmen, um ihnen ein Leben in Armut und Schande zu ersparen.«

      Die Frau an seiner Seite nickte heftig. Man konnte noch immer sehen, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Doch jetzt sah ihr Schädel aus, als wäre er von einem brutalen Axthieb in zwei ungleichmäßige Hälften gespalten worden. Auch die Körper und Köpfe der beiden kleinen Kinder, die in ihren mit Comicfiguren bedruckten Schlafanzügen vor dem Paar standen und Max aus großen leblosen Augen finster anstierten, sahen schrecklich deformiert und verunstaltet aus.

      »Du hast meine gesamten Ersparnisse gestohlen, die ich dir für Anlagezwecke anvertraut hatte!«, rief eine Frau aus dem Hintergrund. Sie hob ihre Arme und präsentierte ihm ihre blutleeren aufgeschlitzten Handgelenke, als wären es grauenerregende Trophäen.

      »Meine auch, du Betrüger!«

      »Ackermann, du hast uns ruiniert!«

      »Gemeiner Dieb!«

      »Wir haben alles verloren!«

      Nachdem so ziemlich jeder der Anwesenden mit Ausnahme des Barmanns seinem Unmut lautstark Luft gemacht hatte, kehrte zunächst wieder Ruhe ein. Sogar die Hintergrundmusik war mittlerweile verstummt.

      Max war während der anklagenden Worte unwillkürlich auf der Sitzfläche des Hockers immer weiter nach hinten gerutscht, bis er mit dem Rücken gegen die Bar stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte.

      »Was auch immer du jedem Einzelnen von uns angetan hast, Max Ackermann«, meldete sich da wieder Anna zu Wort, »heute ist endlich der lang ersehnte Zahltag gekommen. Denn heute Nacht wirst du für deine Untaten bezahlen – mit deinem Leben, mit deinem Blut und mit deinem Fleisch!«

      Max wandte rasch den Kopf, obwohl er am liebsten alle Anwesenden gleichzeitig im Auge behalten hätte. Die Frau, die sich ihm mit dem Namen Anna vorgestellt hatte, stand nun unmittelbar neben ihm im düsteren Licht. Er konnte die schwarzen Wundmale an ihrem Hals erkennen, wo sich der Strick tief in ihr nachgiebiges Fleisch gegraben hatte.

      Max räusperte sich und setzte zum Sprechen an. Er wollte die Menge mit den beruhigenden Worten des geborenen Verführers, der er war und ihm bisher so viel Erfolg beschert hatte, zur Vernunft bringen. Zur Not würde er ihnen sogar versprechen, das Geld mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten.

      Doch die gierige Meute vor ihm kannte nun kein Halten mehr. Als wären Annas Worte der Startschuss gewesen, stürzten sich alle gleichzeitig schreiend und heulend auf den Mann in ihrer Mitte, den sie zuvor bereits mit Worten zu der Strafe verurteilt hatten, die sie nun eigenhändig vollstrecken wollten.

      Max schrie gellend, als zahlreiche eisig kalte Klauen gleichzeitig nach ihm griffen und an seinen Armen und Beinen zerrten. Zähne gruben sich an mehreren Stellen durch seine Kleidung und tief in sein Fleisch. Ein besonders gieriges Maul schloss sich um sein rechtes Ohr und riss es ihm mit einem einzigen extrem schmerzhaften Ruck vom Kopf. Etwas Spitzes bohrte sich in sein rechtes Auge und hebelte den Augapfel aus seiner Höhle. Dann wühlten sich gekrümmte Klauenfinger in seinen Hals und rissen ihm den Kehlkopf heraus.

      Max Ackermanns qualvoller Schrei endete wie abgeschnitten. Im Hintergrund setzte wieder leise Barmusik ein, als der Barmann den CD-Spieler anmachte, und begleitete das Reißen nachgebenden Fleisches und das Krachen berstender Knochen. Nach einer Weile wurden diese Geräusche jedoch leiser und durch lautes Schlürfen und genießerisches Schmatzen ersetzt. Gelegentlich rülpste sogar jemand laut.

      Nachdem die erbarmungslose, rachsüchtige Meute ihr grausiges Mahl vollendet hatte, wandte sie sich stumm von den Überresten ab und verschwand wie eine Prozession von Geistern einer nach dem anderen geräuschlos durch eine im Schatten liegende Tür im hinteren Teil der Bar.

      Der schweigsame Barkeeper nahm einen Lappen und einen Eimer mit Wasser und wischte die dunklen Flecken auf, die von Max Ackermann übrig geblieben waren. Er sammelte auch die zerfetzten, bluttriefenden Reste der ehemaligen Designerkleidung, eine teure Armbanduhr, ein Schlüsselbund, eine dicke Brieftasche und ein paar zerbrochene, ausgelutschte Knochenstücke ein, ehe er hinter den Tresen zurückkehrte und begann, die Gläser abzuräumen.

      Während er die Gläser spülte, öffnete sich die hintere Tür ein weiteres Mal und entließ einen Schwung merkwürdiger, schweigsamer Gestalten. Die neuen Gäste kamen ebenso wortlos und diszipliniert, wie die alten zuvor das Feld geräumt hatten, in die Bar und verteilten sich anschließend an der Theke und auf die Sitznischen.

      Trotz der leisen Hintergrundmusik hörte der Barmann schon bald darauf, wie draußen ein Wagen in die Gasse fuhr und neben dem Porsche des kürzlich verstorbenen Multimillionärs Max Ackermann anhielt, dann verstummte der Motor. Der Barkeeper wartete noch eine halbe Minute, ehe er auf einen unter dem Tresen verborgenen Knopf drückte, wodurch die Neonbeleuchtung über dem Eingang – mit Ausnahme des ausgefallenen o in Mortuary – wieder zu leuchtendem Leben erweckt wurde.

      Kurz darauf hörte man, wie eine Autotür zuschlug und zaghafte Schritte die steinernen Stufen vor der Tür herunterkamen.

      Die unheimlichen Gestalten in den Schatten und der Barkeeper warteten stumm und reglos auf den nächsten Gast, der in dieser besonderen Nacht hierher bestellt worden war und gleich durch die Tür in die Bar kommen würde.

      Da sollte noch mal einer behaupten, das Geschäft in dieser Gegend liefe schlecht. Genau das Gegenteil war der Fall. Schließlich war heute Zahltag in der Mortuary Bar!

      PETERS GEHEIMNIS

      Kevin ließ seinen aufmerksamen Blick über den Teil des Friedhofs gleiten, den er von seinem Versteck aus einsehen konnte, entdeckte seinen Freund aber nirgends. Wo steckte Peter bloß? Vorsichtig ließ Kevin die Äste der Büsche, die er mit den Händen geteilt hatte, an ihren Platz zurückgleiten, lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Friedhofsmauer und dachte nach, was er tun sollte.

      Natürlich konnte er nicht einfach über den Friedhof spazieren, um nach Peter zu suchen, denn viele Besucher – in seinen Augen größtenteils uralte Leute, die bald für immer hier wohnen würden – mochten es nicht, wenn Kinder an