Название | Die Brücke zur Sonne |
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Автор произведения | Regan Holdridge |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754170441 |
„Wo sind die anderen?“, wollte Jean, scheinbar gleichgültig wissen, aber eigentlich war die Frage überflüssig – der Cadillac stand nicht draußen, im Hof. Matthew hob den Blick und nahm sich die Lesebrille von der Nase.
„Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, Kleines. Deine Mutter wird wohl erst spät heute Abend zurück sein. Die Vorbereitungen für diese Modenschau in Summersdale beanspruchen sie voll und ganz. Und deine Schwester – ich habe keinen blassen Schimmer, wo sie sich jeden Nachmittag herumtreibt. Vielleicht ist sie mit deiner Mutter unterwegs, ich weiß es nicht. Sie erzählen einem ja nicht gerade ausführlich, womit sie ihre Zeit totschlagen.“
„Hmm.“ Jean senkte den Kopf. Sie wusste es auch nicht genau und nachdem das Verhältnis zwischen ihnen ohnehin nicht berauschend war, musste sie ehrlicherweise gestehen, dass es sie auch nicht sonderlich interessierte. Dafür musste sie die Gunst der ruhigen Minute nutzen. Ihr Vater war doch Arzt, er musste ihr all die Fragen beantworten können, die sie beschäftigten, denn wenn nicht er – wer dann?
„Daddy?“
„Ja?“
Es war ihr peinlich, entsetzlich peinlich sogar. Wenn sie irgendjemanden sonst gehabt hätte – sie wäre damit nicht zu ihm gekommen. Ihrer Mutter konnte sie allerdings unmöglich derartige Fragen stellen. Sie würde sie ihr nie beantworten, sondern glauben, ihre Tochter hätte irgendetwas Verbotenes getan. Sie hatte sich nicht für „gewisse Dinge“ zu interessieren. Sie sei zu jung und solle erst einmal zusehen, dass sie den Rest ihres Lebens auf die Reihe bekam, bevor sie mit Sachen anfing, die nicht gut für sie wären. Jean hörte noch immer den Tonfall, in dem Rachel diese Ermahnung hervorgebracht hatte im Zusammenhang mit dem vergangenen Schulball und der Tatsache, dass dort eine Menge Jungs herumliefen.
Aber Jean musste es wissen, sie musste erfahren, woher diese eigenartigen Gefühle in ihr kamen, sobald sie in seiner Nähe war. Sie kannte dieses Kribbeln, diese Ungeduld von sich nicht. Es war ihr neu und es machte sie fast verrückt, nicht zu wissen, was genau diese Sehnsucht zu stillen vermochte.
„Ich habe wirklich keine solchen Zeitschriften gelesen!“, beteuerte sie vorneweg, ehe sie überhaupt auf den eigentlichen, ihr so kritisch erscheinenden Punkt zu sprechen kam. „Wirklich nicht! Aber…nun ja, die anderen Mädchen in der Schule reden immer über solche…Sachen und…das verstehe ich nicht!“
So, jetzt war es heraus und sie konnte durchatmen. Das entsprach zumindest zum Teil den Tatsachen, obwohl erst Chris McKinleys Gegenwart sie völlig verwirrte, aber das konnte sie ihrem Vater unmöglich beichten – er würde ihr am Ende die Reitstunden verbieten.
Matthew musste sich zurücklehnen. Oh Gott – weshalb war in solchen Situationen seine Frau bloß nie da? Rachel könnte damit bestimmt viel gewandter umgehen als er!
„Was denn…für Sachen?“ Welch blödsinnige Frage! Natürlich erriet er es, sie war längst in dem Alter, in dem das Interesse daran erwachte, das war nur natürlich! Er konnte sie jetzt nicht fortschicken, wie ein kleines Kind. Sie war sechzehn, eigentlich schon eine junge Frau und war es nicht seine Pflicht, sie darüber zu unterrichten, was zwischen beiden Geschlechtern alles passierte? Könnte er es jemals verantworten, sie ahnungslos ins offene Messer laufenzulassen? Waren die Zeiten des bisweilen bösen Erwachens für die Frau in der Hochzeitsnacht nicht endlich vorbei? Es lag in seiner Hand.
Jean hielt den Kopf noch immer gesenkt, damit ihr Vater nicht sehen konnte, wie sie vor Scham errötete. Sie sprach so leise und undeutlich, dass er sie kaum verstand. „Nun ja, sie reden darüber mit einem Mann zu schlafen…“
„Ja, weißt du…“ Unruhig rutschte Matt auf dem harten, ungepolsterten Stuhl hin und her. „Das ist ein wenig kompliziert!“ Meine Güte, du bist doch Arzt! Also, benimm dich auch wie einer! „Nein, eigentlich ist es ganz einfach: Deine Schulkameradinnen reden darüber, wie Babys entstehen. Ich meine, so werden sie gezeugt, sie kommen nicht mit dem Storch. Das ist genau wie bei den Hunden oder den Pferden. Hast du das auf der Ranch noch nie gesehen? Wenn der eine auf den anderen drauf springt und…“ Er schloss die Augen. Herrgott – brachte er denn keinen vernünftigen Satz zustande?
„Nein“, antwortete Jean zögernd. „Die Pferde spielen zwar miteinander, aber aufeinander drauf springen? Nein, das haben sie noch nie getan!“
„Gut, gut!“ Matthew raufte sich das hellbraune Haar. „Hör zu: Ich gebe dir ein Buch darüber, ja? Da kannst du bis ins letzte Detail alles nachlesen! Das scheint mir am praktischsten, ja, das ist wahrscheinlich das Beste.“ Er sprang hastig auf und trat ans Bücherregal, um das entsprechende Werk herauszusuchen. Als er es seiner Tochter in die Hand drückte, blickten ihre grünen Augen ihn noch immer schüchtern und fragend an. Er musste lächeln. „Mach’ dir keine Gedanken! Irgendwann hättest du es sowieso erfahren müssen und – wenn du irgendetwas nicht verstehst: Du weißt ja, wer der medizinische Fachmann in der Familie ist, einverstanden?“
Jean nickte wortlos. Sie starrte den dünnen Band in ihren Händen an. „Die Sexualität des Menschen“ stand in großen Druckbuchstaben auf dem Umschlag.
„Danke“, murmelte sie und drehte sich um. Eiligen Schrittes lief sie zu ihrem Zimmer hinüber, erleichtert, von ihrem Vater mit so großem Verständnis behandelt worden zu sein. Sie schloss die Türe hinter sich und setzte sich an den Schreibtisch. Schnell schlugen ihre Finger das Buch auf und sie begann, die Zeilen aufgeregt zu verschlingen. Jetzt würde sie dem dunklen Schatten endlich Licht einhauchen! Endlich würde auch sie Bescheid wissen und mitreden können! Immer schneller glitten ihre Augen über die Buchstaben, saugten sie auf, um die unerträglich gewordene Neugierde zu stillen.
Jean war noch nie verliebt gewesen, jedenfalls nicht vor Chris. War sie verliebt in Chris? Vielleicht bin ich in ihn verliebt und deshalb fühlt es sich so schön an, wenn er in meiner Nähe ist.
Früher, in London, vor einigen Jahren hatte sie mit einer Gruppe von Jungen eine innige Freundschaft geschlossen und jeden Tag, nach der Schule mit ihnen gespielt – bis Rachel es unterbunden hatte. Nicht standesgemäßer Umgang waren sie gewesen, diese Gassenjungs, die Jean so angehimmelt hatte, weil sie den Mut besaßen, Süßigkeiten aus einem Geschäft zu stehlen und mit Kirschkernen Wettspucken in anderer Leute geöffnete Fenster zu veranstalten. Elf oder zwölf war sie damals gewesen. Die endgültige Trennung war ihr unerträglich erschienen. Nachdem ihre Mutter dahintergekommen war, weshalb die Schule für ihre älteste Tochter immer so ungewöhnlich lang dauerte, war sie zuerst vor Zorn völlig außer sich geraten, um Jean dann sofort in die beste und nobelste Mädchenschule Londons zu stecken – ganz gleich, dass sie monatlich ein Heidengeld kostete. Dort gab es keine Jungs und auch aus Jeans Freizeit blieben sie fortan verschwunden. In der Nachbarschaft lebten nur Mädchen ihres Alters. Die Jungen waren entweder viel älter oder noch Babys. Beides taugte nicht, um gemeinsam den Tagträumen nachzuhängen, denen sich Jean und ihre Freundin Sally so häufig hingaben, wenn sie sich vorstellten, einmal große Damen zu sein. Männer gab es da nicht – abgesehen von der Tatsache, dass sie beide natürlich verheiratet sein würden. Wieso Ehepaare Kinder bekamen, hatte Jean nie interessiert. Sie waren noch viel zu klein gewesen und ihre Gedanken und Spiele noch voll kindlicher Unschuld. Ihre Körper hatten noch keine Signale gesendet, die sie dafür empfänglich machten, aber jetzt war alles anders. Jetzt war sie sechzehn und es gab einen jungen Mann namens Chris McKinley in ihrem Leben.
Je länger Jeans Augen über die Zeilen glitten, desto aufgeregter wurde sie. Obwohl der Text sehr theoretisch gehalten war, spürte sie das Pochen in ihrem Schoss und ein Verlangen, das ihr zuvor unbekannt gewesen war. Sie konnte es nicht recht deuten, aber sie ahnte, wer es befriedigen konnte und das widerum trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Oh Gott! Ich bin doch gar nicht attraktiv und schön genug! Wie komme ich darauf, mir zu wünschen, dass er dasselbe für mich empfindet, wie ich für ihn?