Die Brücke zur Sonne. Regan Holdridge

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Название Die Brücke zur Sonne
Автор произведения Regan Holdridge
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170441



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mit dem großen, schlaksigen Cowboy wehtat.

      Vorwurfsvoll rieb der junge Mann sich das Kinn. „Da biegt man nichtsahnend ums Hauseck und wird über den Haufen galoppiert!“

      „Jeden Moment kann der Bus mit den ersten Touristen für diese Saison ankommen!“

      Verständnislos zuckte Trey die Achseln. „Und deshalb setzt du das Leben deiner Mitmenschen aufs Spiel?! Die werden sich seit dem letzen Jahr nicht viel verändert haben.“ Er hob seine Hände zur Aufzählung: „Ausländer, Besserwisser, Nervensägen, Möchtegern-Helden, Leute, die beim Reiten ihren angefutterten Speck loswerden wollen und hysterische Tanten, die schon beim bloßen Anblick eines Gewehrs aus den Stiefeln kippen. Wobei mir die ersten noch die liebsten sind – die verstehen mich nicht und ich verstehe ihr Gequatsche auch nicht. Das schont die Nerven!“ Er machte zu all dem eine äußerst wichtige Miene und Amy musste lachen.

      „Und sie sichern dir deinen Job!“ Sie ließ ihn stehen und rannte weiter, zum Pferdestall: „Jean! Jean!“, schrie sie aus Leibeskräften und bog ungebremst in die Stallgasse ein.

      Erschrocken machte das andere junge Mädchen einen rettenden Satz beiseite, wobei ihr beinahe der Arm voll Pferdeputzutensilien, mit denen sie eben in Richtung Scheune unterwegs war, zu Boden fiel. Erstaunt schaute sie die Rancherstochter an.

      „Ist was passiert?“

      „Noch nicht! Aber wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir das Beste!“ Aufgeregt schob Amy ihre Freundin zum offenen Stalltor hinaus. „Los, los! Mach’ schon! Ich hab’ den Bus vom Hügel aus schon kommen sehen!“

      „Lass mich doch zuerst meinen Kram verräumen!“, rief Jean und sammelte die Striegel wieder zusammen. „Sonst schimpft Dan wieder, wenn wir alles liegenlassen!“

      Auch das doppelflüglige Scheunentor stand weit offen, sodass der helle Schein des Tageslichts bis fast in den letzten Winkel des alten, großen Gebäudes fiel. Außer Atem lehnte Amy sich an einen der breiten, schweren Holzstämme, die das Dach der dämmerigen Scheune abstützten. Sie beobachtete die englische Arzttochter dabei, wie sie den Deckel einer Holzkiste öffnete und die Putzsachen fein säuberlich hineinlegte und nebeneinander ordnete. Die Scheune war durch eine Decke geteilt: Im oberen Teil lagerte das Heu und Stroh und hier unten befand sich sämtliches Zubehör für die Pferde. Obwohl die Scheune eine große Grundfläche maß, hatte es ständig den Anschein, als platze sie jeden Moment aus allen Ecken und Enden.

      „Wenn deine Mutter und deine Schwester dich so sehen könnten!“, gluckste sie und verdrehte die Augen.

      „Lieber nicht!“, winkte Jean entsetzt ab. „Sie würden mich sofort nach London zurückschicken, damit ich wieder bessere Manieren lerne!“

      „Meine Mutter wäre sehr stolz auf mich“, sagte Amy, plötzlich sehr leise und in sich gekehrt.

      „Deiner Mutter hat es hier wohl nicht gefallen?“, fragte Jean vorsichtig. Sie hatten noch nie über die Tatsache gesprochen, dass Amy mit ihrem Vater alleine auf der Ranch lebte.

      „Doch, ich glaube schon, dass es ihr hier sehr gut gefallen hätte…es kann einem hier nur gefallen.“

      „Hmm.“ In Gedanken vertieft schloss Jean den Deckel der Kiste.

      „Du wunderst dich vielleicht, warum mein Vater nicht mehr geheiratet hat“, fasste Amy jetzt Jeans ummantelte Frage in klare Worte. Ein eigenartig steifes Lächeln spielte um ihre Lippen, das die unendliche Traurigkeit und Melancholie verbergen sollte, die ihr Innerstes erfüllten. „Weißt du, ich hätte meine Mutter so gerne kennengelernt, aber sie ist an Krebs gestorben, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Früher, besser gesagt, bis zu ihrem Tod lebten wir alle zusammen in Seattle. Daddy arbeitete als Rechtsanwalt und er war sehr erfolgreich und überall angesehen. Sein großes Ziel sah er immer darin, eines Tages Richter zu werden.“ Sie hielt kurz inne, ehe sie leise fortfuhr: „Aber nachdem meine Mutter gestorben war, hat er alles zurückgelassen: Seinen Beruf, seine Freunde, sein Zuhause… Dafür hat er sich seinen Kindheitstraum erfüllt, nämlich, eine Ranch zu kaufen. Lange Jahre musste er dafür kämpfen und schuften, um sie am Leben zu erhalten. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, Silvertown zu dem zu machen, was es heute ist.“ Amy lächelte stolz. „Daddy und ich – wir würden niemals von hier fort gehen!“

      Es tat Jean plötzlich leid, so neugierig gewesen zu sein und sie wollte sich entschuldigen.

      „Ach, Unsinn!“, winkte das andere Mädchen energisch ab und setzte sich vor sie auf den staubigen, harten Boden. Ernst blickte Amy ihrer Freundin in die Augen. „Was hast du in London gemacht? Du hast mir nie davon erzählt, wie es dort aussieht und wie ihr gelebt habt. Ich meine, warst du dort glücklich?“

      Die Frage traf Jean unvorbereitet und sie brauchte einige Minuten, um die wirren Überlegungen in ihrem Kopf zu sortieren. Seit vielen Wochen hatte sie nicht mehr eine Sekunde an ihre Villa, an ihr Zuhause gedacht, hatte es fast völlig aus ihrer Erinnerung gestrichen; es existierte einfach nicht mehr. London – um was handelte es sich bei diesem Namen doch gleich? Richtig, um eine langweilige, riesige, anonyme Metropole, irgendwo viele tausend Meilen entfernt. Das, was dort gewesen war, kam ihr so absurd, so unwirklich vor. Sie konnte nicht glauben, dass sie einmal dort gelebt haben sollte, in einer Villa, in einer lauten, stinkenden Stadt. Die Mädchen, mit denen sie ihre Zeit verbracht hatte und von denen jede immer nur damit beschäftigt gewesen war, der anderen überlegen zu sein – wie hatte sie sie nur ertragen? Das allerwichtigste waren teure Kleider und der Besuch edler Restaurants und Cafés gewesen, in denen sich nur die gehobene Gesellschaft die Klinke in die Hand gab, aber sonst? Womit hatten sie ihre Zeit sonst totgeschlagen? Sie erinnerte sich nicht.

      „Genauso habe ich dich eingeschätzt, als wir uns kennengelernt haben“, nickte Amy und Jean zuckte erschrocken zusammen. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie ihre Überlegungen laut ausgesprochen hatte.

      „Ich war nie so, ich habe es mitgemacht und über mich ergehen lassen“, realisierte Jean sehr klar und erwachsen. „Patty ist das, was du gesehen hast. Sie ist so, wie sie sich gibt, genau wie meine Mutter.“

      „Und dein Vater?“

      Jean musste kurz überlegen. „Mein Vater?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Er redet nie viel und ich glaube, er versteht mich besser als er zugibt.“

       Eigentlich bin ich mehr Paps’ Kind, schon immer gewesen. Wieso ist mir das bloß nie aufgefallen?

      Dabei musste sie lächeln. Immer hatte ihre Mutter es geschafft, sich in den Vordergrund zu spielen, jeden Tag. Ihre Meinung, ihre Ansichten waren entscheidend, sonst nichts. Ihr Vater war dabei stets untergegangen.

      Während Jean nun an Amys Arm über den Hof, zum Ranchhaus hinüberspazierte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was es bedeutete, sich an einem Ort Zuhause zu fühlen. Sie atmete den warmen Wind ein, spürte die strahlende Sonne in ihrem langen, braunen Haar. Es hatte nichts mit Luxus oder einer riesigen Villa zu tun, auch, wenn sie nichts anderes in ihrem Leben bisher gelernt hatte. Ihren Instinkt konnte das nicht täuschen. Es zählte etwas völlig anderes: Allein die Menschen, die einen umgaben, machten einen Ort zu dem Heim, das einen unbezahlbaren Wert besaß – eben ein Zuhause.

      * * *

      Leise prasselte der Regen seit nunmehr einem halben Tag gegen die Scheiben im Wohnraum der Arkin Ranch. Der Radio lief im Hintergrund und die Sendung wurde immer wieder durch aktuelle Durchsagen zur Schlechtwetterfront unterbrochen, die auch noch die kommenden beiden Tage über das Gebiet hinwegziehen sollte.

      „Igitt!“, sagte Jean und beobachtete die Tropfen, wie sie langsam am Glas herabliefen. „Das hört ja überhaupt nicht mehr auf! Wenn dein Vater sich nicht beeilt, wird er noch mitsamt dem Pickup weggeschwemmt!“

      „Ach, verflixt!“ Zornig schlug Amys flache Hand auf die Tasten des Spinetts, das scheppernd und protestierend einen hässlichen Misston von sich gab. „Warum muss bei dieser bescheuerten Note bloß ein Kreuz davorstehen?! Jetzt übe ich seit einer halben Stunde nichts anderes als diese vier Takte!“ Entmutigt pfefferte sie das Liederbuch beiseite.