Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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ich zu einer andern. Ich habe keine Zeit.«

      Er sagte dies ganz automatisch ohne Überlegung.

      Die Alte kam zu sich, und sein energischer Ton schien sie zu ermutigen.

      »Was denn, Väterchen, so plötzlich ... Was ist's denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfand.

      »Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe Ihnen davon erzählt.«

      Sie streckte ihre Hand aus.

      »Warum sind Sie denn so blaß? Auch zittern Ihre Hände! Haben Sie ein Bad genommen?«

      »Ich habe Fieber«, sagte er kurz. »Man muß schon blaß aussehen ... wenn man nichts zu essen hat«, fügte er mit schwacher Stimme hinzu. Seine Kräfte verließen ihn wieder. Seine Antwort erschien ihr glaubwürdig; die Alte nahm das Pfand in die Hand.

      »Was ist es denn?« fragte sie wieder, Raskolnikow aufmerksam musternd und das Pfand mit der Hand auf sein Gewicht prüfend.

      »Ein Pfand ... Ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Schauen Sie nach.«

      »Es scheint doch nicht Silber zu sein ... Wie er das nur verschnürt hat!«

      Sie machte sich nun an der Verschnürung zu schaffen und wandte sich zum Fenster (trotz der drückenden Luft waren alle Fenster zu), ihm für einige Augenblicke den Rücken kehrend. Er knöpfte seinen Mantel auf, nahm das Beil aus der Schlinge und hielt es mit der Rechten unter dem Mantel bereit. Seine Hände waren wie gelähmt; er spürte, wie sie mit jedem Augenblick starrer und hölzerner wurden. Er fürchtete, das Beil fallen zu lassen ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.

      »Wie er das nur verpackt hat!« rief die Alte geärgert und wandte sich halb zu ihm.

      Er durfte keinen Augenblick mehr verlieren. Er zog das Beil hervor, hob es mit beiden Händen hoch und ließ es dann ganz ohne Anstrengung halb mechanisch mit dem Rücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Es kostete ihn gar keinen Kraftaufwand. Kaum hatte er aber das Beil einmal fallen gelassen, als er auch Kräfte in sich spürte.

      Die Alte war, wie immer, barhäuptig. Ihr helles, leicht ergrautes dünnes Haar war stark eingefettet und zu einem dünnen Zopf geflochten, der mit einem zerbrochenen Hornkamm im Nacken festgesteckt war. Der Schlag traf sie direkt auf den Scheitel, denn sie war klein gewachsen. Sie schrie schwach auf und setzte sich plötzlich auf den Boden; sie hatte noch die Kraft, beide Hände zum Kopf zu heben. In der einen Hand hielt sie noch immer das Pfand. Da schlug er sie zum zweiten- und zum drittenmal immer mit dem Beilrücken und immer auf den Scheitel. Das Blut lief wie aus einem umgefallenen Glas, und der Körper fiel auf den Rücken. Er trat etwas zurück, ließ dem Körper Zeit, ganz umzusinken, und beugte sich dann über ihr Gesicht; sie war tot. Die Augen traten so stark aus ihren Höhlen hervor, als ob sie herausspringen wollten; die Stirn und das ganze Gesicht waren runzlig und vom Todeskampf entstellt.

      Er legte das Beil auf den Fußboden neben der Toten nieder und steckte seine Hand in ihre rechte Tasche, aus der sie bei seinem vorigen Besuch ihre Schlüssel hervorgeholt hatte; er gab sich die größte Mühe, um sich nicht mit dem Blut zu beschmieren. Er war bei vollem Bewußtsein, hatte weder Kopfschwindel noch Schwächeanfälle, aber seine Hände zitterten noch. Er war sogar, wie er sich später erinnerte, sehr aufmerksam und vorsichtig und gab sich immer Mühe, Blutflecken zu vermeiden ... Bald hatte er die Schlüssel in den Händen, es war das ihm bekannte Schlüsselbund auf einem Stahlreifen. Er eilte sofort in die Schlafkammer. Es war ein ganz kleiner Raum mit einem großen Heiligenschrein. An der anderen Wand stand ein großes, sehr sauberes Bett mit einer aus Seidenflecken zusammengesetzten wattierten Decke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Im Augenblick, als er sich an der Kommode zu schaffen machte und das Rasseln der Schlüssel hörte, ging ein krampfartiges Zucken durch seinen Körper. Er wollte schon wieder alles im Stich lassen und davonlaufen. Es war nur ein kurzer Augenblick; auch war es schon zu spät, umzukehren. Er lächelte über diesen Gedanken, da kam ihm aber gleich ein anderer: wenn nun die Alte noch lebt und zu sich kommt! Er ließ das Schlüsselbund bei der Kommode, eilte zur Leiche, erhob das Beil, ließ es aber nicht niederfallen. Er zweifelte nicht, daß sie tot sei. Er sah sie sich genauer an und bemerkte, daß der Schädel gespalten und sogar etwas verrenkt war. Er wollte ihn betasten, zog aber die Hand gleich wieder zurück; er konnte es ja auch so sehen. Das Blut hatte inzwischen eine große Lache gebildet. Plötzlich bemerkte er auf ihrem Hals eine Schnur. Er zog an ihr, doch sie war zu fest und riß nicht, auch war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte, die Schnur herunterzuzerren, es gelang ihm aber nicht, denn er stieß auf einen Widerstand. In seiner Ungeduld griff er wieder zum Beil, um die Schnur direkt auf dem Körper entzweizuhauen, aber er wagte nicht, es zu tun. Er arbeitete noch einige Minuten, und endlich gelang es ihm, die Schnur zu zerschneiden, ohne den Körper mit dem Beil zu berühren; er beschmierte sich dabei seine Hände und auch das Beil mit dem Blut. Er hatte sich nicht geirrt: da war ein Beutel. An der Schnur hingen zwei Kreuze – eins aus Zypressenholz und eins aus Messing, ein kleines Heiligenbild aus Email und ein kleiner schmieriger Geldbeutel aus Sämischleder mit Stahlbügel und Ring. Der Beutel war ganz vollgestopft. Raskolnikow steckte ihn ein, ohne ihn näher zu untersuchen; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann ging er mit dem Beil in die Schlafkammer.

      Er hatte große Eile. Er nahm wieder die Schlüssel vor, es gelang ihm aber nicht, die richtigen zu finden und die Kommode aufzusperren. Seine Hände zitterten eigentlich nicht, er verwechselte aber immer die Schlüssel, und selbst wenn er sah, daß er den unrichtigen hatte, fuhr er doch fort, mit ihm am Schloß zu hantieren. Dann überlegte er sich, daß der große Schlüssel mit dem zackigen Bart, der neben dem kleineren hing, wohl kaum zu der Kommode, sondern zu irgendeiner Truhe gehörte, in der vielleicht alles verwahrt war. Er verließ die Kommode und kroch unter das Bett, denn er wußte, daß alte Frauen ihre Truhen gewöhnlich unter dem Bett verwahren. Es stimmte: er fand eine ziemlich große Truhe, über einen Arschin breit, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Saffian ausgeschlagen und kleinen Stahlnägeln geschmückt. Der zackige Schlüssel paßte sofort. Oben lag unter einem weißen Tuch ein roter Mantel mit Hasenpelzbesatz; dann kam ein Seidenkleid, dann ein Schal; darunter schienen lauter Lumpen zu liegen. Zuerst machte er sich daran, seine blutbefleckten Finger an dem roten Mantel abzuwischen. »Der Mantel ist ja rot, und das Blut wird nicht zu sehen sein.« So überlegte er, und plötzlich kam er zu sich und erschrak: »Mein Gott! Werde ich nicht verrückt?« Kaum rührte er an den Lumpen, als aus dem Mantel eine goldene Uhr hinausglitt. Nun untersuchte er alles sorgfältig: zwischen den Lumpen lagen wirklich viele Goldsachen – Armbänder, Ketten, Ohrringe, Nadeln usw. – wohl lauter verfallene und auch nicht verfallene Pfänder. Einzelne Gegenstände steckten in Etuis, die anderen waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, doch sauber und ordentlich verschnürt. Er begann sofort seine Hosen-und Manteltaschen zu füllen. Er wählte nicht und untersuchte die Pakete und Etuis nicht näher. Doch gelang es ihm nicht, viel einzustecken.

      Er hörte plötzlich im Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er blieb regungslos und hielt den Atem an. Alles blieb still, folglich war es eine Halluzination. Aber plötzlich hörte er einen heiseren Schrei oder ein kurzes Aufstöhnen. Dann war zwei oder drei Minuten lang wieder alles still. Er hockte neben dem Koffer und wartete mit angehaltenem Atem. Plötzlich sprang er auf, ergriff das Beil und lief ins Zimmer.

      Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand; sie betrachtete ihre ermordete Schwester, war weiß wie Kreide und schien nicht die Kraft zu haben, zu schreien. Als sie ihn gewahrte, begann sie wie Espenlaub zu zittern, ein Beben lief durch ihre Gesichtszüge, sie hob einen Arm, öffnete den Mund, doch sie schrie nicht auf; sie wich langsam in die Ecke zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen; sie schien keine Luft zum Aufschreien zu haben. Er stürzte sich auf sie mit dem Beil: ihr Mund verzog sich wie bei einem sehr kleinen Kinde, das, durch etwas erschreckt, den schreckeneinflößenden Gegenstand anstarrt und Anstalten macht, zu schreien. Die unglückliche Lisaweta war schon von früher her dermaßen eingeschüchtert, scheu und einfältig, daß sie nicht einmal versuchte, ihr Gesicht mit den Händen zu schützen, obwohl dies die einzige notwendige und natürliche Bewegung in diesem Augenblick gewesen wäre, denn das Beil war direkt über ihrem Gesichte erhoben. Sie hob nur etwas ihren linken Arm und streckte ihn ihm entgegen, als ob sie ihn abwehren wollte. Das Beil traf sie mit der Schneide auf die