Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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... Es kam ihm so dumm und sonderbar vor, daß er imstande gewesen war, die ganze Zeit durchzuschlafen, und daß er noch gar keine Vorbereitungen getroffen hatte ... Vielleicht hatte es schon sechs geschlagen ... An Stelle der Schläfrigkeit trat jetzt eine fieberhafte, unruhige Geschäftigkeit. Er hatte übrigens nicht viel vorzubereiten. Er spannte seine ganze Denkkraft an, um ja nichts zu vergessen; sein Herz pochte wie wild, und sein Atem ging schwer. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und sie an seinen Mantel nähen; das war bald getan. Er langte unter sein Kopfkissen und holte aus der Wäsche, mit der es gefüllt war, ein ganz zerrissenes ungewaschenes Hemd hervor. Er riß davon einen Streifen, etwa zwei Zoll breit und vierzehn Zoll lang ab. Diesen Streifen legte er zusammen, zog seinen weiten Sommermantel, der aus einem sehr festen Baumwollstoff gefertigt war, aus und begann den Streifen mit beiden Enden auf die Innenseite des Mantels unter der linken Achsel anzunähen. Seine Hände zitterten während der Arbeit, doch war von den Nähten nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er längst zurechtgelegt, sie lagen in Papier eingewickelt in seiner Tischlade. Diese Schlinge war seine eigene höchst geistreiche Erfindung: sie war für das Beil bestimmt. Er konnte das Beil ja nicht offen auf der Straße tragen. Hätte er es einfach unter dem Mantel verborgen, so hätte er es ja mit einer Hand halten müssen, was aufgefallen wäre. Wenn er nun das Beil mit der Schneide in diese Schlinge hängte, so konnte er es ganz unauffällig unter dem Arm tragen. Die Hand konnte er in die Manteltasche stecken und so den Griff des Beiles festhalten, damit dieser nicht hin und her pendele. Der Mantel war sehr weit, und man konnte unmöglich erraten, daß seine Hand den Beilgriff hielt. Diese Erfindung hatte er bereits vor vierzehn Tagen gemacht.

      Als er damit fertig war, langte er mit der Hand in den schmalen Spalt zwischen seinem »türkischen« Sofa und dem Fußboden, suchte in der linken Ecke und holte das längst vorbereitete und versteckte Pfand heraus. Dieses »Pfand« bestand aus einem glatt gehobelten Holzbrettchen in der Größe eines gewöhnlichen silbernen Zigarettenetuis. Das Brettchen hatte er bei einem seiner Spaziergänge zufällig auf einem Hof in der Nähe einer Werkstatt gefunden. Später fügte er noch eine dünne Eisenplatte hinzu, die er wohl auch zufällig gefunden hatte. Die Eisenplatte war etwas kleiner als das Brettchen; er legte beide übereinander und band sie kreuzweise mit einem Faden zusammen; das Ganze wickelte er dann elegant in ein sauberes Papier und schnürte das Paket noch einmal zusammen, und zwar sehr kompliziert, damit die Alte einige Zeit zum Aufschnüren brauchte und er dabei einen günstigen Augenblick abwarten konnte. Die Eisenplatte diente zur Vergrößerung des Gewichts, damit die Alte nicht gleich sähe, daß der »Gegenstand« aus Holz sei. Das Ganze lag schon einige Zeit bereit. Als er das Pfand herausholte, hörte er jemand im Hof schreien:

      »Es hat ja längst sechs geschlagen!«

      »Längst! Mein Gott!«

      Er stürzte zur Tür, horchte, nahm den Hut und begann unhörbar wie eine Katze die siebzehn Stufen hinabzugehen. Jetzt galt es noch, aus der Küche das Beil zu stehlen. Er hatte schon längst beschlossen, die Tat mit einem Beil auszuführen. Er besaß noch ein zusammenklappbares Gärtnermesser; er wollte sich aber nicht auf dies Messer und besonders auf seine Kräfte verlassen und wählte daher endgültig ein Beil. Wir wollen hier auf eine Eigentümlichkeit aller seiner endgültigen Entschlüsse hinweisen: je endgültiger sie wurden, um so dümmer und sinnloser erschienen sie ihm. Trotz seiner qualvollen inneren Kämpfe konnte er auch nicht einen Augenblick an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben.

      Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, alles bis zum allerletzten Detail durchzudenken und endgültig zu beschließen, wenn er gar keine Zweifel mehr gehabt hätte, so hätte er sich schließlich doch von allem losgesagt wie von einer Dummheit, Ungeheuerlichkeit und Unmöglichkeit. Es gab aber noch eine große Menge von Zweifeln und ungeklärten Details. Die Beschaffung eines Beils machte ihm gar keine Schwierigkeiten, denn nichts war leichter als das. Nastasja ging jeden Augenblick, besonders in den Abendstunden aus; sie steckte bei den Nachbarn oder beim Krämer, die Küchentür ließ sie weit offenstehen. Die Wirtin zankte mit ihr immer darüber. Er brauchte also nur leise in die Küche zu gehen, das Beil zu nehmen und es eine Stunde später (wenn alles geschehen war) wieder hinzubringen. Es waren allerdings auch da Zweifel: wenn z.B. in einer Stunde, wenn er das Beil wiederbringen will, Nastasja zufällig in der Küche ist. Dann muß er natürlich an der Küche vorbeigehen und abwarten, bis Nastasja wieder fort ist. Wenn sie aber inzwischen das Beil sucht, es nicht findet und zu schimpfen beginnt, – so ist gleich ein Verdacht oder wenigstens ein Verdachtsmoment vorhanden.

      Das waren nur Kleinigkeiten, über die er noch gar nicht nachgedacht hatte, auch hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Er dachte nur an die Hauptsache und schob alles andere hinaus. Das Wichtigste schien ihm absolut unausführbar. Er konnte sich z.B. gar nicht vorstellen, daß er einmal zu denken aufhören und sich auf den Weg machen sollte ... Auch seine Probe(d.h. den Besuch bei der Alten mit der Absicht, den Ort auszukundschaften) hatte er nur probiert, d.h. nicht mit vollem Ernst unternommen; er hatte sich gesagt, ich will einmal hingehen und probieren, statt noch länger zu grübeln – und er hatte es ja auch nicht ausgehalten; er hatte ausgespuckt und war, wütend über sich selbst, davongelaufen. Und doch schien es ihm, daß er mit der Analyse der Sache vom Standpunkte der Moral aus gänzlich fertig sei: seine Kasuistik war nun so scharf wie ein Rasiermesser, und er kannte keine ernstlichen Einwände mehr. Doch zuletzt glaubte er sich selbst nicht mehr und suchte hartnäckig und sklavisch nach Einwänden, als ob er dazu von jemand gezwungen oder gestoßen worden wäre. Der letzte Tag, der so unerwartet angebrochen war und alles entschieden hatte, wirkte auf ihn rein mechanisch: als ob jemand seine Hand ergriffen und ihn mit sich fortgerissen hätte, blind, mit ungewöhnlicher Kraft, ohne Einwände und Gegenwehr. Als wäre er mit einem Rockzipfel in das Rad einer Maschine geraten, das ihn nun mit sich fortriß.

      Anfangs – es war übrigens vor längerer Zeit – interessierte ihn die Frage, warum die meisten Verbrechen so leicht aufgedeckt wurden und warum die Spuren der Verbrecher so leicht zu finden wären. Allmählich kam er zu verschiedenartigen, sehr interessanten Schlußfolgerungen: der Grund liege nicht so sehr in der physischen Unmöglichkeit, alle Spuren der Tat zu verwischen, wie im Täter selbst; dieser erfahre im Augenblick der Tat eine sonderbare Abschwächung des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein ungewöhnlicher Leichtsinn träte, und zwar gerade in dem Augenblick, da Vernunft und Vorsicht besonders notwendig seien. Er glaubte, daß diese Vernunfts- und Willensschwäche sich wie eine Krankheit ganz allmählich entwickele, unmittelbar vor der Tat ihren Höhepunkt erreiche, in diesem Stadium auch während der Tat und einige Zeit nach derselben – je nach Veranlagung des Täters – verbleibe und schließlich, wie jede Krankheit, weiche. Er fühlte jedoch nicht die Kraft, über die Frage, ob die Krankheit das Verbrechen zur Folge habe, oder ob das Verbrechen die Krankheit mit sich bringe, zu entscheiden.

      Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, gewann er auch die Überzeugung, daß er für seine Person vor solchen krankhaften Zuständen gefeit sei und daß er seinen Willen, seine Vernunft während der Ausführung seines Vorhabens bewahren werde, denn das, was er vorhatte, sei ja »kein Verbrechen«. Wir wollen den ganzen Denkprozeß, durch den er zu die ser letzten Folgerung gelangte, nicht untersuchen; wir sind auch sonst den Ereignissen zu weit vorausgeeilt ... Wir wollen nur erwähnen, daß alle rein praktischen Schwierigkeiten für ihn eine untergeordnete Bedeutung hatten. »Wenn man sie nur unter der Gewalt seines ganzen Willens und seiner ganzen Vernunft behält, so werden alle diese Schwierigkeiten sofort überwunden sein, sobald man das Unternehmen mit allen Details vor sich sieht ...« Er kam aber noch immer nicht zum entscheidenden Schritt. Seinen endgültigen Beschlüssen traute er nicht, und als die Stunde geschlagen hatte, entwickelte sich alles gar nicht so, wie er es sich zurechtgelegt hatte, sondern ganz automatisch und beinahe unerwartet.

      Ein Umstand verblüffte ihn, noch ehe er die Stiege hinuntergegangen war. Als er an der Küchentür, die wie immer weit offenstand, vorbeiging, schielte er hinein, um sich zu überzeugen, ob in Nastasjas Abwesenheit nicht die Wirtin selbst in die Küche gekommen sei; und wenn die Küche leer war, ob die Tür zum Zimmer der Wirtin ordentlich zugemacht sei, damit sie nicht hörte, wie er das Beil holte, und nicht in die Küche hinausguckte. Wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Nastasja ausnahmsweise nicht nur zu Hause und in der Küche war, sondern auch arbeitete! Sie stand vor einem Waschkorb und hängte auf eine Leine Wäsche zum Trocknen auf. Als sie ihn bemerkte, hielt sie in ihrer