Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski

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Название Schuld und Sühne
Автор произведения Fjodor M. Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174456



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      Nach dieser zweiten, ganz unerwarteten Mordtat wurde er noch mehr von Entsetzen gepackt. Er wollte möglichst schnell entkommen. Hätte er in diesem Augenblick die Fähigkeit gehabt, klar zu sehen und zu denken, hätte er die Schwierigkeit, Ungeheuerlichkeit und Unsinnigkeit seiner verzweifelten Lage erfaßt und eingesehen, wieviel Schwierigkeiten, vielleicht auch Mordtaten er noch zu überwinden und zu verüben haben würde, um aus dieser Wohnung weglaufen und nach Hause kommen zu können, – so hätte er vielleicht jetzt alles aufgegeben und sich der Polizei gestellt, und zwar nicht so sehr aus Furcht für sich selbst wie aus Entsetzen und Abscheu vor seiner Tat. Dieser Abscheu verstärkte sich in ihm von Minute zu Minute. Um nichts in der Welt wäre er jetzt zu der Truhe und zum Tatort zurückgekehrt.

      Eine seltsame Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemächtigte sich seiner; zeitweise vergaß er sich oder vielmehr die Hauptsache ganz und klammerte sich an Kleinigkeiten. Als er in die Küche hineinsah und dort einen halb mit Wasser gefüllten Eimer bemerkte, fiel es ihm übrigens ein, seine Hände und das Beil zu waschen. Die Hände waren blutig und klebrig. Er legte das Beil mit der Schneide ins Wasser, fand dann auf dem Fensterbrett ein Stückchen Seife, das auf einer zerschlagenen Untertasse lag und wusch sich direkt im Eimer die Hände. Als er mit den Händen fertig war, zog er das Beil aus dem Wasser und wusch das Eisen und dann, etwa drei Minuten lang, den Holzgriff. Dann wischte er alles mit den Wäschestücken, die in der Küche an einer Leine zum Trocknen aufgehängt waren, ab. Darauf ging er mit dem Beil zum Fenster und unterzog es einer eingehenden Untersuchung: von Blut war keine Spur mehr zu sehen, der Griff war nur noch etwas feucht. Er befestigte es wieder in der Schlinge. Dann untersuchte er noch, soweit es das spärliche Licht in der halbfinsteren Küche erlaubte, seinen Mantel, Hose und Stiefel. Bei der oberflächlichen Betrachtung war nichts zu merken, nur auf den Stiefeln waren einige Flecke. Er befeuchtete einen Lappen und wischte die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß seine Untersuchung nur flüchtig war und daß er leicht etwas Auffälliges übersehen haben konnte. Er blieb nachdenklich mitten im Zimmer stehen. Ein quälender, dunkler Gedanke tauchte in ihm auf: daß er wahnsinnig werde, daß er in diesem Augenblick weder richtig denken noch sich verteidigen könne und daß alles, was er jetzt tue, möglicherweise ganz verkehrt sei ... »Mein Gott! Ich muß fort ins Vorzimmer!« Hier sah er aber etwas, was ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, wie er es noch nie im Leben empfunden hatte.

      Er stand da, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Wohnungstür, die Tür aus dem Vorzimmer auf die Treppe, die Tür, an der er vorhin gelautet und gelauert hatte, – war nicht versperrt und ließ einen handbreiten Spalt frei; Schloß und Riegel waren die ganze Zeit über offen gewesen! Die Alte hatte, wohl aus Vorsicht, hinter ihm nicht abgesperrt. Aber mein Gott! Er hatte ja auch Lisaweta gesehen und konnte sich doch denken, daß sie irgendwie hereingekommen war! Sie hatte ja nicht durch die Wand eintreten können!

      Er stürzte zur Tür und verriegelte sie.

      »Nein! Es ist wieder nicht das Richtige! Ich muß ja fort, fort ...«

      Er riegelte wieder auf, öffnete die Tür und horchte hinunter.

      Er horchte so eine lange Weile. Irgendwo weit unten, vermutlich im Torweg, klangen zwei kreischende Stimmen, man schimpfte und zankte sich. »Was wollen die? ...« Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einemmal alles still: sie waren wohl fort. Er machte die Tür ganz auf und wollte schon hinuntergehen, als unten im dritten Stock eine Tür aufgerissen wurde und jemand, eine Melodie summend, die Stiege hinunterzugehen begann. »Wie die Leute immer lärmen!« ging es ihm durch den Kopf. Er schloß die Tür und wartete ab. Endlich war alles wieder still. Als er aber den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, hörte er unten neue Schritte.

      Diese Schritte tönten weit unten ganz am Anfang der Stiege, er hatte aber gleich beim ersten Schritt, wie er sich später genau erinnerte, den Verdacht, daß da jemand hierher, in den dritten Stock, zur Alten hinaufwollte. Warum? Klangen denn die Schritte irgendwie eigentümlich und bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige, langsame Schritte. Da ist er schon im ersten Stock, nun steigt er höher, die Schritte werden immer hörbarer. Er hörte auch schon den keuchenden Atem des Unbekannten. Nun ist er bereits im zweiten Stock. Er kommt her! Und plötzlich fühlte er, wie alle seine Glieder hölzern wurden. Er hatte das Gefühl, das man im Traume hat, wenn man sich von einem Mörder verfolgt sieht, fliehen will und dabei nicht vom Platz kommt und nicht einmal eine Hand zu rühren vermag.

      Endlich, als der Gast sich bereits dem dritten Stock näherte, raffte er sich auf, sprang in das Vorzimmer zurück und schloß die Tür. Dann riegelte er vorsichtig und unhörbar zu. Hier half ihm der Instinkt. Als er damit fertig war, postierte er sich mit verhaltenem Atem dicht an der Tür. Die beiden standen sich jetzt genau so gegenüber, mit der Tür dazwischen, wie Raskolnikow vorhin der Alten gegenüber gestanden hatte.

      Der Gast holte einige Male schwer Atem. Er ist wohl groß und dick, kombinierte Raskolnikow; er hielt das Beil fest umklammert. Das war wirklich wie im Traum. Der Gast ergriff den Glockenzug und läutete stark.

      Beim ersten Ton der Klingel glaubte er ein Geräusch im Zimmer zu vernehmen. Einige Sekunden lang horchte er auch ernsthaft hinüber. Der Unbekannte läutete wieder, wartete einige Augenblicke und begann dann ungeduldig an der Türklinke zu zerren. Raskolnikow sah entsetzt, wie der Riegel dabei wackelte, und erwartete mit Angst, daß der Verschluß aufginge. Dies konnte leicht geschehen, denn der Gast riß mit aller Kraft an der Klinke. Er wollte anfangs den Riegel mit der Hand festhalten, aber dann fiel ihm ein, daß der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder.

      »Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?«

      Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt.

      In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört.

      »Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!«

      »Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow.

      »Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?«

      »Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!«

      »Ach so ...«

      »Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.«

      »Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!«

      »Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann.

      »Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!«

      »Soll man nicht den Hausknecht fragen?«

      »Was denn?«

      »Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?«

      »Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke.

      »Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!«

      »Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?«

      »Nun?«

      »Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?«