Der Wendepunkt. Klaus Mann

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Название Der Wendepunkt
Автор произведения Klaus Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174265



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Bilder der Qual aus meiner Erinnerung verdrängt. Von der ganzen Krankheitsepisode ist nichts übriggeblieben als ein flüchtiger Albtraum von erstickender Finsternis und dörrender Hitze. Er beginnt im schaukelnden Sanitätsauto und endet scheinbar am nächsten Morgen in unserem Tölzer Garten. Der Schrecken ist vorüber; der Tod hat mich entlassen; der fiebrige Durst ist gestillt. Ich halte ein großes Glas Orangensaft in meiner Hand. Ausgestreckt auf einem Liegestuhl im Schatten des Kastanienbaums atme ich die schwere, duftgesättigte Luft von Sommer und Genesung.

      Ich war ein Held, denn ich hatte überlebt. Meine Umgebung – Familie, Personal und Nachbarn – waren offenbar voll Anerkennung für die Seelenstärke, die ich bewiesen hatte, indem ich dem lockenden Ruf des Todes widerstand. Kein Wunder, daß ich begann, auf meine ordinären Geschwister ein wenig herabzublicken; denn sie »lebten« ja nur, was kein besonderes Verdienst bedeutet, während ich – ein viel interessanterer Fall! – am Leben geblieben war, aller Wahrscheinlichkeit und allen Prognosen zum Trotz. Natürlich wurde ich verwöhnt und bekam alle Leckerbissen, die eine geplagte Hausfrau damals noch auftreiben konnte. Der Herr Hofrat hatte ja gesagt, daß ich unbedingt zunehmen müßte. Man redete mir zu, so viel zu essen, wie ich irgend konnte. Während die täglichen Rationen der übrigen Hausbewohner schon recht fühlbar zusammenschrumpften, schien es allgemeine Freude zu erregen, wenn ich mich gnädig dazu hierbeiließ, noch ein belegtes Brot oder ein Stück Kuchen anzunehmen.

      Aber dieser wonnige Zustand der Rekonvaleszenz konnte nicht ewig dauern. Meine Privilegien verringerten sich im genauen Verhältnis zum Fortschritt meiner Erholung. Als der Sommer vorüber war, hatte ich fast mein normales Gewicht und meine ganze Vitalität zurückgewonnen. Ich war gesund genug, den Alltag wieder auszuhalten, den strengen Alltag des dritten Kriegswinters in Deutschland.

      Der Krieg hatte längst aufgehört, abenteuerlich oder erhebend zu sein; für uns Kinder wie für die Masse des Volkes bedeutete er vor allem: nicht genug zu essen. Je mehr die Lebensmittellage sich verschlechterte, desto ausschließlicher konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf daß Eßproblem. Schließlich sprach man überhaupt von nichts anderem mehr. Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten, all das war weniger wichtig, weniger erregend als eine Lieferung von markenfreien Gänsen oder die Reduzierung der wöchentlichen Margarine-Ration. Das »Hamstern« war nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch ein Sport, beinahe eine Sucht. Hausfrauen waren immer auf der Suche nach neuen Milch- und Honigquellen. Man unternahm ausgedehnte Entdeckungsfahrten aufs Land, von denen man mit diskret verhüllten Körben voller Kaninchen und Kartoffeln zurückkehrte. Die Witzblätter und die Kriminalanzeigen wimmelten von krassen Geschichten über die phantastischen Tricks, deren sich die Eier-, Schinken- und Butterjäger bedienten.

      Die Jagd nach dem Futter war manchmal nicht ohne einen gewissen abenteuerlichen Reiz, meistens aber monoton und deprimierend. Ich werde nie den Wintermorgen vergessen, an dem Erika und ich in einem plötzlichen Anfall von Edelmut beschlossen hatten, Mielein mit einem unerwarteten Geschenk von sechs frischen Tafeleiern zu beglücken. Irgendwo in der Vorstadt hatten wir einen winzigen Laden entdeckt, in dem solche Kostbarkeiten zu haben waren, vorausgesetzt, daß man genug Zeit und Geduld hatte, um von sechs Uhr morgens bis zur Mittagsstunde anzustehen. Eben das taten wir – er köstliche Preis schien jedes Opfer wert. Wir bekamen die Eier. Wie glatt und appetitlich sie sich anfühlten! Sechs zerbrechliche Kleinode, ein halbes Dutzend zarter Talismane … Glückstrahlend machten wir uns auf den Heimweg. Ich trug die Eier in meiner Pelzkappe, da der Ladenbesitzer uns eine Papiertüte verweigert hatte. Aber meine bloßen Hände waren starr vom Frost. Das Schreckliche, das Unvermeidliche geschah: die sechs Eier rollten aus der Mütze, die ich ungeschickt hielt, und zerbrachen vor unseren entsetzten Augen. Es war unbeschreiblich traurig, ja, es war wirklich zum Weinen, die schönen Dottern zu sehen, die – ein gelblich seimiges Bächlein – zwischen den Pflastersteinen versickerten. Wir brachen denn auch prompt in Tränen aus. Mir scheint es jetzt, daß unsere Tränen zu Eis erstarrten, während sie unsere Wangen hinunterliefen. Nie ist mir die Welt wieder so kalt, so unfaßlich hart und grausam vorgekommen.

       Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, daß wir wirklich darbten; aber die schlichte Wahrheit ist, daß wir immer hungrig waren. Kein Zweifel, eine so tiefe und intensive Erfahrung wie der Hunger hinterläßt gewisse Spuren in der körperlichen und seelischen Konstitution eines Menschen. Man nimmt Wohlstand und Fülle nicht mehr als etwas Selbstverständliches hin, wenn man einmal erfahren hat, was es bedeutet, von einem Butterbrot wie von einer himmlischen Delikatesse zu träumen. Essen, Kleider, Schuhe, Kohle, Seife, Schreibpapier, alles, was wir berührten, rochen oder schluckten, war Ersatz, erbärmliches, schundiges Zeug. Es muß eine schwere Zeit für unsere Mutter gewesen sein, viel schwerer für sie als für uns. Vier gierige Kinder und einen heiklen, delikaten Mann unter so abnormen Umständen durchzufüttern, war gewiß keine Kleinigkeit. Sie machte ihre Sache vortrefflich, eine Leistung, die um so bewundernswürdiger scheint, wenn man Mieleins Herkunft und Vergangenheit bedenkt. Die Märchenprinzessin, die wir aus »Königliche Hoheit« kennen, mußte nun mit sehr harten und prosaischen Problemen fertig werden. Wir Kinder wollten nicht nur essen, sondern mußten auch Kleider haben. Die bestickten Kittel und hübschen Matrosenanzüge, die man uns im Jahre 1914 gekauft hatte, waren um 1917 längst fadenscheinig und ausgewachsen. Und nun gar die Schuhe! Leder war ja fast ebenso knapp wie Butter. Eine Zeitlang trugen wir schwere Holzsandalen, die bei jedem Schritt ein furchtbares Geklapper vollführten; aber wir wurden ihrer bald überdrüssig und zogen es vor, einfach barfuß zu gehen.

      Die Tradition der Sonntagsessen im großelterlichen Hause wurde auch im Kriege aufrecht erhalten. Aber das festliche Menü bestand nun meist aus einem ausgemergelten Vogel – einer Art Reiher von penetrant tranigem Geschmack – und einem scheußlichen rosa Ersatzpudding. Es war nur die gediegene Pracht des Speisesaales und Offis unverwüstliche Würde, welche diese Zusammenkünfte vor dem Abgleiten in völlige Armseligkeit bewahrten. Tatsächlich blieb die Haltung der Gastgeberin so majestätisch-nonchalant, daß die Gäste geneigt waren, den reduzierten Stil des Hausstandes als eine elegante Laune hinzunehmen. Die melancholische Tatsache, daß wir unser eigenes Brot mitbringen mußten, schien eine amüsante Komödie dank Offis heiter überlegener Haltung. Ihr Lachen perlte so herzlich wie eh und je, wenn wir dem alten Butler unsere bescheidenen Rationen, in Zeitungspapier verpackt, überreichten.

       »Wenn ich bloß von allen meinen Gästen verlangen könnte, daß sie sich ihre Stullen selber mitbringen!«, scherzte sie und fügte nicht ohne Genugtuung hinzu, während sie den Tee in die zarten chinesischen Tassen goß: »Mit dem Tee wenigstens werde ich durchhalten. Schließlich kann der Krieg ja nicht ewig dauern …«

      Würde er wirklich einmal zu Ende gehen – der große, lange, altvertraute Krieg? War es möglich, sich eine Welt ohne ihn vorzustellen? Eine Welt mit Genug zu essen und ohne Siegesfeiern? Wir glaubten nicht mehr ganz, daß Dinge wie Schlagrahm im Frieden wirklich existierten; sie gehörten ins Reich der Fabel. Manchmal fragten wir Mielein nach jenen sagenhaften Tagen, die es angeblich einmal gegeben hatte und die – angeblich – einmal wiederkommen sollten.

      »Wie ist das eigentlich – Frieden?« forschten wir. Ißt man im Frieden wirklich jeden Tag Fleisch und Mehlspeise? Verdirbt man sich denn nicht den Magen, wenn es so viel zu essen gibt? Wird es bei uns auch jeden Tag Rehbraten und Schokoladenschichttorte geben, wenn Deutschland gewinnt? Warum haben wir nicht schon gewonnen? Unsere Armee ist doch die beste, und die anderen haben keine so guten Generäle wie Ludendorff, Mackensen und Hindenburg. Unser Professor sagt, daß wir wahrscheinlich noch dieses Jahr gewinnen werden. Er spuckt immer ein bißchen, wenn er aufgeregt ist. Heute hat er besonders viel gespuckt, als er uns vom deutschen Sieg erzählt hat. Glaubst du, daß wir noch vor Weihnachten gewinnen werden?«

      Aber Mielein schien seltsam herabgestimmt. »Niemand weiß es«, sagte sie, vage und betrübt. »Vielleicht hat er recht, dein Professor. Vielleicht auch nicht. Der Krieg kann dreißig Jahre lang dauern jetzt, wo die Amerikaner auch noch gegen uns sind …«

      »Aber der Professor sagt, es macht nichts aus«, insistierten wir. »Amerika oder nicht, sagt er, wir werden sie alle schlagen!«

      »Kann schon sein, daß er recht hat«, wiederholte Mielein, immer noch mit dem gleichen sinnenden und zerstreuten Ausdruck. »Aber ich glaub's eigentlich nicht. Nein, ich