Der Wendepunkt. Klaus Mann

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Название Der Wendepunkt
Автор произведения Klaus Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174265



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gegeben hätte. Es fiel nie ein lautes Wort in unserer Gegenwart. Aber wir waren aufgeweckt genug, um die Unterschiede zwischen ihren Ansichten zu bemerken. Mielein hatte ihren Glauben an den deutschen Sieg schon verloren, als der Zauberer noch von unvermindertem Optimismus schien. Hatte er keine Ahnungen, keine Zweifel? Doch wohl; aber er verbarg sie vor seiner Umgebung und vielleicht auch vor sich selbst.

      Wie seltsam fremd und entfernt er scheint, dieser Kriegsvater. Wesentlich verschieden von dem vertrauten Zauberer der Friedensjahre. Das väterliche Antlitz, dessen ich mich aus dieser Epoche erinnere, hat weder die Güte noch die Ironie, die beide so essentiell zu seinem Charakter gehören. Die Miene, die vor mir auftaucht, ist gespannt und streng. Eine empfindliche, nervöse Stirn mit zarten Schläfen, ein verhangener Blick, die Nase sehr stark und gerade hervortretend zwischen eingefallenen Wangen. Sonderbarerweise ist es ein bärtiges Antlitz, ein langes, verhärmtes Oval, von einem harten, stacheligen Bart gerahmt. Tatsächlich ließ er sich damals zeitweilig den Bart stehen, allerdings nur ein paar Wochen lang, auf dem Lande. Diese kriegerische Laune muß uns Kinder sehr beeindruckt haben. Der Kriegsvater ist bärtig. Seine Züge, zugleich stolz und gequält, ähneln denen eines spanischen Edelmannes, dem irrenden Ritter und Träumer, Don Quichotte.

      Ich sehe ihn sein Arbeitszimmer verlassen, sehr aufrecht in einer straffen uniformierten Jacke aus grauem Stoff. Seine Lippen sind gleichsam versiegelt über einem düsteren Geheimnis und der sinnende Blick geht nach innen. Er sieht müde aus; der Morgen am Schreibtisch muß ungewöhnlich anstrengend gewesen sein. Welch unheimlicher Zauber ist es, der ihn dazu zwingt, sich jeden Vormittag von neun Uhr bis zum Mittagessen in seine Bibliothek einzuschließen? Gerade wie das Aschenbrödel stets um Mitternacht den Ball verlassen muß, so ist mein Vater gezwungen, sich nach beendetem Frühstück unverweilt zurückzuziehen – fort ist er, ehe man's gedacht. Während im Eßzimmer noch der vertraute Duft seiner Morgenzigarre hängt, sitzt er schon bei der Arbeit, ein gewissenhafter Zauberer, versunken in seine sonderbaren Erfindungen und Gesichte. Diesmal jedoch hat er sich offenbar auf ein besonders heikles und anspruchsvolles Stück: Hexerei eingelassen. Es ist nicht eine seiner schönen Geschichten, die ihn jetzt in den Morgenstunden beschäftigt, sondern etwas Abstraktes, Schwieriges, Geheimnisvolles. Er scheint leicht geniert, wenn Besucher ihn nach der Beschaffenheit des neuen Werkes fragen. »Es ist eben ein Buch«, sagt er, mit einem seltsamen schweifenden Blick. »Nein, kein Roman. Es hat mit dem Krieg zu tun.«

       Es klang, als ob er sich in seinem Arbeitszimmer mit der Erfindung neuer Waffen oder unerhörter strategischer Listen abgäbe. Hatte er die heitere Sphäre seiner Erzählungen verlassen und sich der schwarzen Magie zugewendet?

      Es war erst viel später, lange nach Kriegsende, daß ich das eigentümliche Produkt jener schlimmen Jahre, die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, zum ersten Male las. Vielleicht kann man dieses Buch – seine stupenden Irrtümer sowie seine problematische Schönheit – nur begreifen, wenn man die Umstände kennt, unter denen es geschrieben wurde. Die grausame Spannung jener Tage, die Vereinsamung und trotzige Melancholie des Autors, sein völliger Mangel an politischem Training, sogar die unzulängliche Ernährung und die frostige Temperatur in seinem Studio während der Wintermonate, all dies wirkte zusammen, um die sonderliche Stimmung zu erzeugen, die verwirrende Mischung aus Aggressivität und Schwermut, aus Polemik und Musik, die für die »Betrachtungen« charakteristisch ist.

      Es ist ein Dokument höchst eigenartiger, ja einzigartiger Natur, dies lange, leidvolle Selbstgespräch des vom Kriege zerstörten Dichters: literarisch beurteilt, ein Meisterstück, ein glanzvoller tour de force; vom politischen Standpunkt, eine Katastrophe. Der ironische Analytiker komplexer Emotionen wagte sich hier zum erstenmal aus seiner eigentlichen Sphäre in das fremde und gefährliche Gebiet politisch-sozialer Probleme. Das neue Interesse am Politischen manifestierte sich paradoxerweise zunächst als ein gereizter, bitterer Protest gegen die Politik. Der Schüler Goethes, Schopenhauers und Nietzsches hielt es für seine vornehmste Pflicht, die tragische Größe germanischer Kultur gegen die militant-humanitäre Haltung der westlichen Zivilisation zu verteidigen. Er verwechselte die brutale Arroganz des preußischen Imperialismus mit den reinen Offenbarungen des deutschen Genius von Dürer und Bach bis zu den Romantikern und zum Zarathustra. Tristans tödliche Verzückung, die verspielte Unschuld des Eichendorffschen »Taugenichts«, die strenge Melancholie des »Palestrina« von Hans Pfitzner, all dies wurde ihm zum Argument für die pangermanische Expansion und den uneingeschränkten Unterseebootskrieg. Indessen fehlt diesen fragwürdigen Schlußfolgerungen jegliche Überzeugungskraft; sie scheinen auf eine seltsam zögernde Art vorgebracht, mit schlechtem Gewissen gleichsam, als ob der Autor sich im Grunde der Bedenklichkeit seiner eigenen Position nur zu gut bewußt wäre.

      Die ganze umfangreiche Abhandlung ist eigentlich nichts als ein großes Rückzugsgefecht, mit verzweifelter Bravour und bitterem Scharfsinn exekutiert. Die Werte und Gesinnungen, die hier gepriesen werden, sind von der Geschichte, sind vom Leben verurteilt; der Verteidiger weiß dies oder ahnt es doch. Man glaubt nicht an eine Sache, die man selbst als unlöslich verbunden mit Verfall und Tod beschreibt. Das Todgeweihte mag faszinierend, sogar liebenswert sein; aber offenbar gehört ihm nicht die Zukunft. In den »Betrachtungen« verschwendet ein adliger Kämpfer sein Talent, seine Kräfte im Dienst einer fixen Idee. Er meint, eine edle Dame, »Kultur« genannt, zu verherrlichen und zu beschützen, während er in Wahrheit für recht unedle Interessen und Kräfte eine wohlgeschärfte Lanze bricht. Wie gleicht er dem Don Quichotte in seiner hochherzigen Verblendung! Wo er die gefährlichsten Feinde sieht, sind nur Windmühlen.

      Der Windmühlenfeind, gegen den das schwere Geschütz der »Betrachtungen« aufgefahren wird, ist eine mysteriöse Figur – der »Zivilisationsliterat«. Sein Name bleibt ungenannt, aber diese Anonymität ist nur eine scheinbare. Denn die langen Passagen, die aus den Schriften des Widersachers zitiert werden, stammen wörtlich aus einem Essay von Heinrich Mann. Seine biographische Studie über Emile Zola war im ersten Kriegsjahre erschienen, als die Wogen des Chauvinismus am höchsten gingen. Während die ganze Nation sich an den Heldentaten unserer unbesiegbaren Armee begeisterte, wagte Heinrich Mann, dem unbesiegbaren Geist des französischen Kämpfers und Dichters ein literarisches Denkmal zu setzen. Wer nicht gut wegkommt in diesem Panegyrikus, das sind jene französischen Intellektuellen, die damals der Sache des Hauptmanns Dreyfus, und also der Sache der Wahrheit und des Rechtes, verräterisch in den Rücken fielen. Mit ihnen wird aufs unbarmherzigste abgerechnet. Aber richten Heinrich Manns schwungvolle Invektiven sich wirklich nur gegen die französischen Militaristen und Obskurantisten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts? Waren seine Anwürfe nicht auch auf gewisse Zeitgenossen gemünzt? So jedenfalls empfand es der reizbare Verteidiger der unpolitisch-musikalisch-pessimistischen Kultur. Die anspielungs- und beziehungsreiche Zola-Beschwörung des Bruders traf und verletzte ihn wie ein persönlicher Angriff.

       Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich seit dem Ausbruch des Krieges wesentlich getrübt. Heinrich war Pazifist; der Krieg bedeutete für ihn ein ruchloses Abenteuer, dazu bestimmt, das deutsche Volk in äußerstes Unglück zu stürzen. Er versuchte, » au-dessus de la mêlée« zu bleiben, wie einige seiner französischen Kollegen unter der Führung von Romain Rolland. Dem Autor der »Betrachtungen« aber wollte es scheinen, daß der Bruder keineswegs wirklich über den Parteien, sondern einfach auf der anderen Seite stand, ein militanter Anhänger der »Entente Cordiale«, ein unduldsam selbstgerechter Vorkämpfer des westlichen Zivilisationsgedankens. Das politisch-weltanschauliche Zerwürfnis erreichte bald einen solchen Grad von emotioneller Bitterkeit, daß jeder persönliche Kontakt unmöglich wurde. Die beiden Brüder sahen einander nicht während des ganzen Krieges.

      Heinrich Mann, der bis dahin nur in den Kreisen der literarischen Avantgarde eine gewisse Rolle gespielt hatte, wurde nun so etwas wie der Repräsentant einer politischen Bewegung. Als im Jahre 1914 die deutsche Intelligenz fast ausnahmslos in den Chorus der Kriegsbegeisterten einstimmte, gehörte er zu den sehr wenigen, die klarsichtig und besonnen blieben. Zwei Jahre später fingen seine Warnungen an, auf weitere Kreise zu wirken, noch nicht auf die Masse, aber doch auf eine sich allmählich vergrößernde intellektuelle Elite. Die pazifistische Opposition, anfangs dezentralisiert und führerlos, begann sich mit größerer Entschiedenheit und Klarheit kundzutun. Eine Gruppe von deutschen Schriftstellern, von denen die meisten in der neutralen Schweiz Zuflucht gefunden hatten, wagten es nicht nur, die atavistische