Der Wendepunkt. Klaus Mann

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Название Der Wendepunkt
Автор произведения Klaus Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174265



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Frauen und mißhandelte Kinder. In unserer Nachbarschaft wurden die Villen nach illegalen Waffen durchsucht; die erschreckten Inhaber ergingen sich nachher in den phantasievollsten Beschreibungen all des Furchtbaren, das sie durchgemacht. Was erstaunlich schien, war vor allem die Tatsache, daß menschliche Wesen so viel Grauen überleben konnten. Unsere Nachbarsleute waren samt und sonders noch ganz gut beisammen, obwohl die Spartakus-Bestien ihnen doch so gräßlich mitgespielt hatten.

      Unser Haus übrigens blieb von den Regierungstruppen verschont. Wir hielten es zunächst für einen glücklichen Zufall, erfuhren aber später, daß die Patrouille angewiesen war, das Heim Thomas Manns in Frieden zu lassen. Zwar machte das Haus einen verdächtig kapitalistischen Eindruck und die Gesinnungen des Hausherrn waren vom marxistischen Standpunkt durchaus nicht einwandfrei; aber die revolutionären Führer, die von ihren Gegnern als eine Bande blutrünstiger Vandalen hingestellt wurden, waren in Wirklichkeit Männer, die das Talent und die Integrität eines Schriftstellers respektierten, sogar wenn sie mit seinen politischen Ansichten nicht übereinstimmten. Viele dieser Amateur-Jacobiner beschäftigten sich im Neben- oder Hauptberuf mit Literatur. Ein Dichter und Enthusiast des Schönen wie Ernst Toller, der in der Räte-Republik eine Rolle spielte, hätte nicht zugelassen, daß man dem Autor der »Buddenbrooks« und des »Tod in Venedig« zu nahe trat.

      Mein Tagebuch berichtet unter dem Datum des 13. April: »Am Morgen gab es Gerüchte, die bolschewistische Regierung sei gestürzt worden. Levin und Toller sollen geflohen sein. Levin, heißt es, hat eine halbe Million Mark mit in die Schweiz genommen. Erich Mühsam ist verhaftet worden. Ich ging vormittags ins Nationalmuseum, um mir die Sammlung mittelalterlicher Waffen noch einmal anzuschauen. Ziemlich interessant. Besser als Schule.«

      Die Gerüchte waren verfrüht; die Roten hielten sich noch eine Weile. Unsere Stadt befand sich in einem regelrechten Belagerungszustand. Es kam zu ziemlich ernsthaften Schlachten zwischen der revolutionären Miliz und dem Freikorps des Generals Epp. Für uns bedeutete der Bürgerkrieg nur ein entferntes Donnerrollen, das unsere Spiele begleitete. »Vor dem Mittagessen spielten wir Deutschball und hörten dabei das Geräusch der Geschütze«, notiere ich mir am 2. Mai. »Die Roten und die Weißen kämpfen in der Nähe von Dachau. Später schauten wir uns das große Maschinengewehr an, das die Roten auf dem Kufsteiner Platz aufgestellt haben. Es gibt überhaupt kein Brot. Die Fanny hat statt dessen eine Art Fladen gemacht. Schmeckt ganz gut. Las eine schöne Geschichte von Walter Scott.«

      Am 5. Mai, als die Truppen des Generals schon in die Stadt eingedrungen waren, ging ich aus, um mir ein Exemplar von Gogols Geschichte »Der Mantel« zu kaufen, und fand die Stadt »von Soldaten wimmelnd«. Drei Tage später wurde der Bürgerkrieg offiziell als beendet erklärt, und das tägliche Leben nahm seinen langweiligen Gang wieder auf. Aber überall gab es Erinnerungen an die blutigen Geschehnisse der letzten Wochen. Tagebucheintragungen vom 8. Mai 1919: »Wieder in der Schule – leider! Der Professor erzählt uns, daß ein sehr berühmtes Regiment im Wilhelmsgymnasium einquartiert gewesen ist – dieselben Soldaten, sagt er, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin umgebracht haben. Mir gefiel die Art nicht, wie er das sagte – als ob es etwas Schönes wäre. Vorgestern sind fünf Spartakisten in unserem Schulhof hingerichtet worden. Einer von ihnen war erst siebzehn. Er wollte sich die Augen nicht verbinden lassen. Der Professor sagt, das beweist, wie fanatisch er war. Aber ich finde es bewundernswert.«

      Revolution und Bürgerkrieg, Friedensverhandlungen und Klassenkämpfe all diese großen Umwälzungen und Konflikte, die ich so naiv kommentierte, berührten mein wirkliches Leben nur sehr wenig und indirekt. Ich war aufgeweckt und ehrgeizig genug, mich für diese Dinge zu interessieren, für deren entscheidende Wichtigkeit mir das Gefühl nicht ganz abging; aber irgendwo, in der tiefsten Schicht meines Wesens, war ich doch noch geneigt, an der Realität und Relevanz dieser »Erwachsenen-Welt« zu zweifeln.

      Mein intellektueller Zustand um diese Zeit glich demjenigen gewisser Generationen, deren Schicksal es war, an der Wende zwischen zwei kulturellen Epochen zu leben, etwa zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Renaissance. Diese problematischen Geschlechter trugen in sich einen doppelten Begriff von Gott und Welt. Ihr Geist war schon berührt und bewegt von der Verheißung einer neuen Freiheit, eines neuen Wissens, während ihr Herz doch noch mit frommem Eigensinn an den Riten und Idealen der ablaufenden Ära hing. So lebten sie in zwei Welten, mit der einen Hälfte ihres Seins noch auf der unbeweglichen, vom Himmelsdache überwölbten Scheibe, als die unsere Erde sich dem mittelalterlichen Menschen darstellte, mit der anderen schon im dynamisch-revolutionären Kosmos des Kopernikus. Das alte Weltbild hat für sich die Würde der Tradition, die Autorität des von den Vätern Ererbten; aber das neue appelliert mit unwiderstehlicher Macht an die Neugier, den Ehrgeiz, die Lust zum Wagnis und zum Abenteuer.

      Der Knabe auf der Stufe der beginnenden Pubertät befindet sich in einer sehr ähnlichen psychologischen Lage. Mein unreifer Sinn war hin und her gerissen zwischen zwei sich widersprechenden Gefühls- und Interessensphären: auf der einen Seite die anspruchsvollen, wirren Abstraktionen der Erwachsenen-Welt, auf der anderen die wohlgeordnete, nahe, greifbare Hierarchie der Kindheit. Wie sehr das Neue, Fremde, Schwere mich auch locken mochte, ich zögerte doch, den Göttern und Bildern der frühen Jahre ganz die Treue zu brechen. Die kindlichen Mythen waren noch nicht tot.

      Affas mythischer Rang blieb intakt; keine Pubertäts-Renaissance konnte ihr etwas anhaben. Sie war immer bei uns gewesen, was sie an sich schon achtens- und liebenswert machte. Sie hatte uns auf den Knien gewiegt, als wir Babys waren; sie hatte uns die wackeligen Milchzähne aus dem Munde entfernt, mittels einer feinen seidenen Schnur, die sie geschickt um den Zahnhals zu schlingen wußte; sie hatte den Christbaum geschmückt und Mielein bei der Auswahl von Köchinnen und Abendkleidern beraten, und als Mielein im Sanatorium war und der Zauberer eine Herrengesellschaft gab (ein mythisches Ereignis von großer Signifikanz, zumal auch Doktor Cecconi zu den Gästen gehörte!), da war es Affa, die darauf bestand, daß es Ochsenschwanzsuppe und Fürst-Pückler-Eis gab, völlig neuartige, leicht bizarre Gerichte, und gerade deshalb so geeignet für eine maskuline Soirée. Affa kannte sich aus. Affa war große Klasse.

      Freilich läßt sich nicht leugnen, daß sie im Lauf der Jahre immer selbstherrlicher und kapriziöser wurde. Der Krieg tat Affa irgendwie nicht gut; ihr Lachen klang jetzt oft beängstigend schrill, dazu kamen noch die grünen Glitzerblicke. Die anderen Mädchen beklagten sich über sie. »Mit der Josepha kann man gar nicht mehr auskommen«, jammerte die Köchin. (Affas wirklicher Name war »Josepha«, aber es gehörte sehr viel Gehässigkeit oder Unbildung dazu, sie so zu nennen.) »Die hat ja den reinen Größenwahn hat ja die!« Affa ihrerseits traute den Kolleginnen das Schlimmste zu. Wenn immer Mielein irgendeinen Gegenstand vermißte – und es geschah nicht selten, daß ihr etwas abhanden kam: ein Paar Handschuhe, ein Stück Seife, ein Regenschirm –, gleich war die Affa zur Stelle, um ihr zuzuzischeln: »Die Fanny hat's genommen, wer denn sonst? Schmeißen Sie sie doch naus, gnä' Frau! Gar nicht erst lang reden mit ihr, die leugnet ja doch bloß alles! Einfach kündigen!«

      Mielein tat, wie ihr geheißen. Die Fanny ging; die nächste war noch schlimmer. Diesmal waren es Zauberers beste Manschettenknöpfe, die mysteriös verschwanden. Wir waren alle empört; am meisten regte sich die Affa auf. »Die Manschettenknöpfe? Die schönen goldenen vom Herrn Professor?« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Da hört sich doch aber alles auf!« Und nach kurzer Pause, mit heroischem Entschluß: »Wenn's keine anständigen Madeln mehr gibt heutzutage, dann mach ich eben von jetzt ab die ganze Arbeit allein! Die Fanny muß aus dem Haus, die Diebin, die ganz gemeine!«

      Aber diese Fanny, eine kleine Brünette mit gelblich-hagerem Gesicht und fanatischen schwarzen Augen, ließ sich nicht so leicht fortschicken wie ihre Vorgängerinnen, Sie wehrte sich, sie wagte den Gegenangriff. »Mich geht's ja nichts an«, sprach die Tollkühne (alle Chronisten stimmen darin überein, daß eben dies ihre Worte waren). »Mich geht's ja nichts an, gnä' Frau, aber einmal müssen Sie's ja doch erfahren, wer die Diebin ist hier im Haus. Ich bin's nicht, gnä Frau!« Und, mit einem langen, hageren Zeigefinger weisend: » Die da ist's! Ihre Perle! Ihre Affa! Die Josepha, das Luder!«

      Die Szene muß furchtbar gewesen sein, vergleichbar nur den legendären Auftritten zwischen Brunhilde und Kriemhilde, Maria Stuart und Elisabeth. Aber trotz der elementaren