Der Wendepunkt. Klaus Mann

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Название Der Wendepunkt
Автор произведения Klaus Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174265



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ein Kind, das einen solchen Wunderteller berühren oder gar zerbrechen wollte, machte sich eines unverzeihlichen Verbrechens, einer wahren Todsünde schuldig, es wäre noch schlimmer als Mord oder »Schöpfen«. Das will viel bedeuten, denn es war uns aufs strengste verboten, den Partner beim Raufen zu »schöpfen« (will sagen, an den Haaren zu ziehen), eine unfaire Taktik, die, nach Ansicht der Blauen Anna, eine krebsartige Erkrankung der Kopfhaut fast unvermeidlicherweise verursachte. Ofeys Schätze jedoch waren noch heiliger als die Locken und der Skalp unseres Nächsten. Es war ein gräßlicher und dabei doch auch lustvoller Gedanke, daß man etwa durch einen bösen Zauber gezwungen sein könnte, die ganze Pracht des Ofey-Hauses zu zerstören – die Majolikas im Speisesaal und in der großen Diele, die empfindlichen Samtbezüge in Offis »gutem Salonzimmer« (wie sie ihr exquisites Boudoir stets mit warnendem Nachdruck nannte), die schlanken Bronze-Statuetten in der Bibliothek, die delikaten Atlaskissen, welche die Bänke im Musiksaal bedeckten. Was für ein infernalischer Spaß das wäre! – auf den dicken Perserteppichen mit kotigen Stiefeln herumzutrampeln, die Gemälde von Lenbach und Hans Thoma von den Wänden zu reißen, und das Chaos, die Anarchie selbst in den ersten Stock zu tragen, wo die großelterlichen Schlafgemächer gelegen waren. Offi würde silbrig kreischen und sich ihr schönes kastanienbraunes Haar raufen. Und Ofey? Hier weigerte sich unsere blutrünstige Phantasie, weiterzugehen. Der cholerische kleine Herr könnte sich in seinem Zorn zu Racheakten von wahrhaft alttestamentarischer Furchtbarkeit hinreißen lassen … Man malte es sich lieber nicht zu genau aus. In Anbetracht von so gefährlicher Reizbarkeit schien es ratsam, die vandalischen Impulse zu überwinden und zivilisiert zu bleiben.

      Sie waren charmante Leute, unsere Großeltern, solange man ihre Kostbarkeiten in Ruhe ließ und sich überhaupt hübsch artig bei ihnen aufführte. Offi war anmutig und majestätisch, Ofey steckte voll bizarrer Einfälle und kleiner Spaße, von denen viele »nichts für Kinder« waren. Wir verstanden sie ohnedies nicht, lauschten aber gerne seiner knarrenden Stimme. Seine Stimme krächzte wie keine zweite; sein bedeutend gewölbter Schädel war von exemplarischer Kahlheit. Er war der glatzköpfige kleine Mann mit den flinken Augen und dem reizbaren Temperament. Er war der Großvater.

      Ein zweiter Großvater war undenkbar; Ofey vereinigte alle Charakteristiken und Würden der Großvatergattung in seiner pittoresken und dynamischen Persönlichkeit. Aber Offi hatte eine Rivalin in Omama – der zweiten, und auch etwas zweitklassigen, Repräsentantin des großmütterlichen Mythos. Denn im Gegensatz zu der brillanten Selbstbewußtheit und Eleganz von Mieleins schöner Mama wirkte die alte Senatorin Mann glanzlos und bescheiden.

      Eine bleiche, aschgraue Färbung eignete ihrer Stimme, ihrem Teint, ihren Kleidern, ihrer schlichten Wohnung und selbst ihrer ängstlichen Rede. Immer schien sie gequält von abergläubischen Ahnungen und hypochondrischen Sorgen. Wenn wir in ihrer überfüllten Stube den Tee nahmen, was drei- oder viermal im Laufe des Jahres geschah, verabreichte sie uns Berge von staubigem Gebäck und, gleichsam als obligatorische Dreingabe, große Dosen doppelkohlensauren Natrons. Dabei unterhielt sie uns mit schaurigen Geschichten über scheinbar harmlose Krankheiten, die sich ganz plötzlich als unheilbar herausstellen konnten; über »kalte Blitze«, die in Form von durchsichtigen Kugeln auftreten und zunächst ganz reizend anzusehen sind, wenn sie vom Dache abwärts durchs Haus schweben, von Stockwerk zu Stockwerk, bis sie den Keller erreichen, wo sie explodieren und alles verwüsten; oder über Kinder, die die Angewohnheit hatten, häßliche Gesichter zu schneiden und gerade dabei waren, sich eine neue, besonders abscheuliche Grimasse einzuüben, als die Uhr schlug – woraufhin ihre Züge für immer verzerrt blieben.

      Wir wußten die Geschichten zu schätzen wie auch die etwas fahlen Leckereien und das heilsame Natron. Auf ihre schlichtere Art, so empfanden wir, war Omama eine fast ebenso vorzügliche Ahnfrau wie Offi.

      Beide Großmütter – so unendlich verschieden voneinander – wurden von grausamen Schicksalsschlägen getroffen, die sich seltsam ähnelten und übrigens beinahe gleichzeitig eintrafen, wenn auch ohne ursächlichen Zusammenhang. Trotzdem werden die beiden Tragödien in meinem Gedächtnis stets aufs engste miteinander verbunden bleiben – eine doppelte Heimsuchung, die unserer sonst eher heiteren Familienchronik eine Nuance des Düster-Schrecklichen gibt.

      Die Persönlichkeiten der beiden Opfer sind in meiner Erinnerung ganz verblaßt. Ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich Mieleins ältesten Bruder, den Onkel Erik, jemals mit eigenen Augen gesehen habe, ehe er sich nach dem fernen Land Argentinien einschiffte, wo er den Tod finden sollte, diesen exotischen, wilden Tod in der Prärie, in der Wüste. Auch Tante Carla, Omamas jüngste Tochter, habe ich kaum gekannt. Man erzählte uns von ihr, sie sei plötzlich einem Herzschlag erlegen. Von Onkel Erik hieß es, er sei »vom Pferde gestürzt«. Das paßte gut zu der Photographie, die auf Mieleins Schreibtisch stand und den Onkel im Reitkostüm auf einem Schimmel zeigte. Seine Miene war energisch und etwas übellaunig – ein rechtes Reitergesicht –, während die arme Tante Carla immer lächelte. Ihr Porträt schmückte das väterliche Arbeitszimmer. Sie hielt das lächelnde Gesicht über einen Blumenstrauß geneigt, dessen Parfüm sehr stark und sehr bezaubernd sein mußte. Das schöne Antlitz der Tante mit den schweren, halbgeschlossenen Augenlidern und den geöffneten Lippen sah aus, als sei sie im Begriffe, vor Wonne in Ohnmacht zu fallen.

      Das Drama in Argentinien ereignete sich vor der makabren Szene, der Omama im eigenen Hause beiwohnen mußte; es mag sogar sein, daß Eriks Tod einige Monate oder ein Jahr vor Carlas Selbstmord stattfand. Aber die chronologischen Details sind nebensächlich; in meiner Erinnerung fließen die beiden Katastrophen ineinander. Ich höre den Aufschrei der Offi: »Mein Erik! Mein Sohn! Mein Reitersmann! Ermordet – von einem Pferde –! Verblutet im fernen Land Argentinien!« – ein Ausbruch, bei dem ich natürlich in Wirklichkeit nicht zugegen war, aber den ich mir so oft und so intensiv vorstellte, daß er schließlich für mich zur Realität wurde. Und während Offis theatralisches Wehklagen das Haus in der Arcisstraße erfüllte, schallte aus einer trübseligen Mietswohnung gerade um die Ecke Omamas herzzerbrechende Klage. »Carla! O Carla!« seufzt Omama. »Erik! O Erik!« gellt Offis Ruf.

      Schließlich verlassen die beiden trauernden Mütter ihre Behausungen, getrieben von ihrem Jammer und von dem verständlichen Wunsch, der schwesterlichen Nachbarin das furchtbare Ereignis mitzuteilen. Von schwarzen Schleiern umweht, mit schwarzen Handschuhen, schwarzem Regenschirm und der schwarzumrandeten Depesche winkend, eilen sie tragisch beflügelten Ganges die Straße hinunter, jede nähert sich hastig dem Logis der anderen. Sie begegnen sich genau auf halbem Wege zwischen ihren Häusern, ja, sie stoßen beinahe zusammen, rennen einander fast über den Haufen. Beide blind vor Kummer und natürlicher Kurzsichtigkeit.

      »O Julie, Liebste!« ruft Offi. »Welch ein Trost, dich zu sehen! Du wirst nie erraten, was mir soeben widerfahren ist!«

      » Dir?« fragt Omama atemlos, nicht ganz ohne Pikiertheit. »Wovon sprichst du, Hedwig, Liebste? Schließlich war Carla mein Kind!«

      Das Mißverständnis zieht sich eine Weile hin und produziert Effekte von grauser Komik. Schließlich verstehen sie einander und brechen in erneute, verdoppelte Klagen aus. Die zwei kummervollen Matronen, die hehre Offi und die demütige Omama, umarmen sich, vereint in Schmerz und Verlust.

       »Meine betroffene Schwester!« flüstert die eine der anderen ins Ohr. Ihre Tränen und Trauerschleier fließen ineinander, da sie in verzweifelter Zärtlichkeit umklammert stehen. Unversehens, ganz in ihr Leid vertieft, sind sie auf einen der Marmorsockel gestiegen, deren es in der Kunststadt München so viele gibt. Von einem steinernen Helden aus dem Hause Wittelsbach ritterlich bewacht, stehen die beiden, ihrerseits versteinert, mitten auf dem Karolinenplatz, eine zweiköpfige Niobe von schwarzem Crêpe umwallt, ein Doppelmonument der Verzweiflung.

      Habe ich jemals den Geschichten Glauben geschenkt, die uns über den jähen Tod unserer Verwandten erzählt wurden. Dies ist eine heikle Frage, die uns tief hinein ins Labyrinth der kindlichen Psyche führt, einer Psyche, in der Leichtgläubigkeit und Skepsis so wunderlich nahe beieinander wohnen. Nein, es kam mir wohl nicht in den Sinn, die »Bearbeitung für die Jugend«, in der das Familiendrama uns präsentiert wurde, eigentlich anzuzweifeln, was aber keineswegs sagen will, daß ich diese schonende Version wirklich glaubte. »Glauben« setzt einen positiven Impuls voraus, ist eine Handlung, etwas, das man bewußt