Der Wendepunkt. Klaus Mann

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Название Der Wendepunkt
Автор произведения Klaus Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174265



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weder für einen Spielverderber noch für einen gewöhnlichen Dummkopf. Die Schulkameraden behandelten mich mit ironischer Höflichkeit, interessierten sich aber nicht genug für mich, um sich etwa tätlich an mir zu vergreifen.

      Es gab viel sadistische Roheit, nicht nur unter den Schülern, sondern auch bei den Lehrern. Die Prügelstrafe war damals noch als ein gesundes oder sogar unentbehrliches pädagogisches Prinzip in Deutschland anerkannt. Unser Herr Lehrer, ein untersetzter, stämmiger Mann mit sehr kleinen Augen und einem riesigen Schnurrbart, galt als ein Meister in der Kunst des »Überlegens«. Die letzte Warnung, die er dem Übeltäter zuteil werden ließ, war subtil-psychologischer Natur: der Rohrstock wurde dem zitternden Knaben mehrere Minuten lang unter die Nase gehalten – »damit du weißt, wie er riecht«, wie der Herr Lehrer mit drohender Scherzhaftigkeit bemerkte. Wenn auch das nicht half, gab's keine Gnade mehr. Dem Opfer wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die vorderste Bank zu legen, die eigens für solche Gelegenheiten freigelassen war. Ehe der Ärmste dieser unheilverkündenden Aufforderung nachkam, pflegte er eine herzzerbrechende Szene aufzuführen. Das wurde von ihm erwartet und gehörte zum rituellen Ablauf der Zeremonie. Mit großem Aufwand von Tränen und dramatischen Gebärden versuchte das arme Sünderlein das Herz seines Richters zu rühren, obwohl er sich im Grunde über die Aussichtslosigkeit solchen Beginnens völlig im klaren sein mußte.

      Die peinliche Prozedur wurde mit grausiger Feierlichkeit durchgeführt; fünfzig oder sechzig Jungen, atemlos vor Wonne und Entsetzen, sahen dem Schauspiel zu. Das Gewimmer des Delinquenten begann, noch ehe der erste Schlag gefallen war: er krümmte sich und stöhnte, während der Herr Lehrer sein Folterinstrument noch durch die Luft schnellen ließ, als wolle er die Geschmeidigkeit des schlanken Rohres prüfen. Und wenn dann erst die Hiebe niederpfiffen, so steigerte sich das Jammern ins Hysterisch-Konvulsivische. Nachher gab es noch eine Art von tragikomischem Epilog – auch dieser gehörte zum Ritus. Es wurde von dem Opfer erwartet, daß er noch eine Weile vor dem Katheder hin und her sprang, wobei er sich das Hinterteil zu reiben hatte. Wenn es sich um einen schauspielerisch auch nur halbwegs begabten Jungen handelte, so verstand es sich fast von selbst, daß er seine Mitschüler auch noch mit einer drastischen Beschreibung seiner Qualen unterhielt. »Mein Hinterer brennt wie's höllische Feuer«, erzählte er der erschauernden Klasse. Der Lehrer sah schmunzelnd zu, um schließlich dem Spektakel mit gebieterischem Wink ein Ende zu machen. »Jetzt langt's«, entschied er, befriedigt wie ein Löwe nach blutigem Mahl. »Du kannst auf deinen Platz zurückgehen.«

      Ich habe mir oft überlegt, ob die Züchtigung wirklich so furchtbar weh getan haben mag, wie die Aufführung des Opfers zu bekunden schien. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Geprügelten ihre Schmerzen dramatisch übertrieben, sei es um den Lehrer zu schnellerem Aufhören zu bewegen, sei es auch nur aus Gründen der schönen Konvention und um den Kameraden ein eindrucksvolles Schauspiel zu bieten. Aber selbst wenn die Strafe wirklich so schmerzhaft war, wie es den Anschein hatte – das Zuschauen war schlimmer. Mein Herz stockte bei jedem niedersausenden Schlag, mein Unbehagen, ja mein Grauen wuchs mit jedem Schrei, den der Gequälte hören ließ. Wie gerne hätte ich die erniedrigende Strafe einmal selbst erduldet, anstatt immer nur die Leiden der anderen in meiner Einbildung mitzumachen! Indessen ist mir das Erlebnis körperlicher Mißhandlung bis heute erspart geblieben. Niemals wurde mir das Folterbänkchen zugemutet; nicht einmal den Geruch des Stöckchens kannte ich aus persönlicher Erfahrung. Geheimnisvoll beschützt von einem rühmlichen oder schimpflichen Tabu – ein »Unberührbarer« gleichsam – lernte ich nur eine Qual immer tiefer und gründlicher kennen: das Mitleid.

      Wenn die Abendgebete verrichtet waren und das Schlafzimmer verdunkelt, war es süß und schmerzhaft, an all das blutige Geschehen draußen in den Schützengräben zu denken. Wie schrecklich mußte es gewesen sein, als Hunderttausende von Russen in jenen mörderischen Sümpfen umkamen, in deren Schlamm die inspirierte Kriegskunst des Marschalls von Hindenburg sie verlockt hatte. Vor dem Einschlafen hörte ich das dumpfe Gebrüll ihrer Wut, ihrer Todesnot. Oder ich suchte mir die ausgefallenen Martern vorzustellen, mit denen die wilden Australier unserem armen Onkel Peter zusetzen mochten. Wahrscheinlich erging es ihm etwa ebenso gräßlich wie den bemitleidenswerten Negern in der Geschichte von Onkel Toms Hütte. Würde ich solche Pein jemals am eigenen Leib erfahren? Armer Onkel Peter! Arme Russen! Armer General Hindenburg! Es war gewiß nicht leicht, so furchtbare Taten zu vollbringen. Arme Generäle, die unmenschlich werden mußten aus beruflicher Pflicht und patriotischer Überzeugung! Arme Soldaten, die von unmenschlichen Generälen aufgeopfert wurden! Mein Herz füllte sich mit Mitleid bis zum Rande. Schon halb im Schlafe gesellte ich mich zu den braven, unbeholfenen Russen, durch den australischen Dschungel gejagt vom erbarmungslosen Marschall von Hindenburg, der seinerseits bittere Tränen über die eigene Brutalität vergoß. Die Rolle, die ich selbst bei dieser Schreckensszene zu spielen hatte, war die eines tapferen Samariters, der manchem Soldaten – einerlei ob Feind oder Verbündeter – das Leben rettet und schließlich vom Kaiser das Eiserne Kreuz mit doppelten Rubinen zum Lohn für sein Heldentum verliehen bekommt.

      Mein Eifer, an den blutigen Ereignissen teilzunehmen, hatte nichts mit Patriotismus oder Ehrgeiz zu tun. Es waren andere Impulse, die mich bewegten: Neugier, Masochismus, Erbarmen, Eitelkeit und Angst. Tatsächlich mag die Angst der bestimmende Faktor in diesem Gefühlskomplex gewesen sein. Nicht, daß ich es schrecklich gefunden hätte, mich um einer großen Sache willen aufzuopfern – im Gegenteil, solches Martyrium schien mir köstlich und erstrebenswert, eine riesenhafte, überwältigende, bittersüße Wonne. Es gab nur etwas, wovor ich wirklich Angst hatte – nur eine Gefahr, vor der mir graute: ausgeschlossen zu sein vom kollektiven Abenteuer, nicht teilzuhaben am Gemeinschaftserlebnis. Es gibt keine demütigendere, keine traurigere Rolle als die des Außenseiters. So stark ist der Herdeninstinkt im Menschen, daß er jedes Leid den Martern der Einsamkeit vorzieht. Es war diese tiefe Angst vor moralischer und physischer Isolierung, die meine kriegerischen Träumereien inspirierte. Ich träumte von heroischen Verbrüderungen, da ich mich im Grunde meines Herzens zu Prüfungen sehr anderer Art bestimmt und ausersehen wußte. In kindlichen Phantasien versuchte ich, das wahre Gesetz meiner Natur zu verleugnen, das mir für immer verbietet, der bemitleidenswerten, beneidenswerten Mehrheit anzugehören.

      Kann eine gewisse psychologische Disposition zu organischen Störungen führen? Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen der beinah tödlichen Krankheit, die ich im Jahre 1916 durchmachte, und der nationalen Kalamität jener historischen Stunde? Die Schwingen des Todes, von denen so viele meiner unbekannten älteren Brüder berührt wurden, beschatteten auch meine kindliche Stirn.

      Blinddarmentzündung nahm in unserer Familie den Charakter einer Epidemie an, in verwirrendem Widerspruch zu allen medizinischen Erfahrungen und Prinzipien. Erst mußten die beiden »Kleinen« binnen achtundvierzig Stunden operiert werden; dann kam Mielein an die Reihe, und zuletzt wurden Erika und ich mit akuter Entzündung in die Klinik eingeliefert. In den vier anderen Fällen wurde die Operation gerade noch rechtzeitig ausgeführt; der Krankheitsverlauf war normal und befriedigend. Bei mir jedoch nahm die Sache eine beunruhigende Wendung. Es gab einen »Durchbruch« in meinem Inneren, irgendeine furchtbare interne Explosion, an der man eigentlich stirbt. Mit erschreckender Genauigkeit erinnere ich mich der endlosen Fahrt von unserem Hause zur Privatklinik des Hofrat Krecke, die am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegen war. Mein Eingeweide brannte, tobte, revoltierte, schien im Begriff zu bersten. Das Sanitätsauto, eine Hölle auf Rädern, trug mich viel zu langsam durch entfremdete Straßen, über verödete Plätze, einem Ziel entgegen, dessen dunklen Namen ich nicht kannte, aber hätte erraten können, angesichts von Mieleins bebender Spannung und mühsam beherrschter Angst.

      Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß meine schwere Krankheit – die Tatsache, daß »der arme Klaus fast gestorben wäre« eine Familienlegende größten Stiles werden sollte. Mir ist oft erzählt worden, und ich ward es nie müde, derlei rührenden Berichten zuzuhören, wie ich geschrien habe in meinem Schmerz und wie erschreckend abgezehrt ich war, ein wahres Skelett, nachdem ich vier oder fünf Operationen hatte über mich ergehen lassen. Es war eine »durchgebrochene Blinddarmentzündung mit Komplikationen« – was entschieden großartig und schrecklich klang. Mein Bauch mußte der Länge nach geöffnet werden, damit Hofrat Krecke Gelegenheit hatte, das völlig in Unordnung geratene Gekröse auf einem kleinen Rost zu entwirren und neu zu sortieren. Von diesen mythischen