Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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und dementsprechend empört.

       - "Das schockt gewaltig", hätte hier mein Cousin wohl gesagt, der Sohn meiner Tante bei Oldenburg. Neben ihrem Wohnhaus eine große alte Eibe, in deren Krone mal eine Schleiereule saß. Auf dem weitläufigen Grundstück zwei große, alte Scheunen; anfangs hielten sie noch zwei Schweine und schickten uns zur Schlachtezeit Pakete mit leckerer Hausmacherwurst und meist auch mit einem Kaninchen. Ein wenig eigen waren sie schon, meine Tante und mein Onkel, der in sich gekehrte Handwerksmeister mit dem mattblauen Goliath-Dreiradwagen und der imposanten Büchersammlung, schon fast eine Bibliothek; eigen wie das ganze Dorf, dessen Friedhof wegen Grundwassereinbruchs Mitte der Sechziger abgetragen wurde; Schädel und Knochen auf freiem Feld, und das wohl über Jahre.

      1967 der erste Ansatz einer schulischen Sexualaufklärung. Stolz erzählte ich meiner Mutter die Sache mit den Eierstöcken, und das auf offener Straße. Sie mahnte mich, etwas leiser zu sprechen, und nahm's ansonsten mit Humor. Weniger lustig wurde es, wenn ich mich nach dem Unterrichtsende nicht sofort auf den Heimweg begab, sondern mit einem Klassenkameraden ein Weile noch um den Lessingplatz streunte. Der drückte mich im "Summer of Love" an die Glasbausteine der Turnhallenwand.

      Am "Zähnchen" ist seit einigen Jahren eine Kunststoffecke dran, die wird langsam dünn und hat sich vom Tee und vom Nikotin erheblich verfärbt. Würd ich ab jetzt nur noch halb so viel rauchen, hätt ich das Geld für zwei Jacketkronen wohl binnen... – das schaff ich ja eh jetzt nicht.

      Neu ist einzig das Korbballgestänge, um welches im Spätsommer Muscleshirts tänzeln. Das Gartengrundstück gleich vorn am Zaun, früher das Gemeinschaftshaus, hat schon seit Jahren mein Schwager gepachtet. Schule, Schulhof, Turnhallenbau: längst wieder ein vertrautes Bild; bleibt lediglich die Frage, ob die Muscleshirt-Jungs nun ohne diese Turnhallensache heute denn so verlockend wären, wie sie's denn heut nun mal sind...

      Klaus war ein ganz klein wenig älter als ich und wohnte zwei Straßen weiter. Klaus' Eltern waren wesentlich jünger als meine. Wir spielten mit seiner Carrera-Bahn, die wohl das halbe Zimmer umspannte. Er sagte mir, er habe gelesen, in Holland würden Männer auch Männer heiraten, und daß wir das später ja auch dort könnten.

      - Ein Samstagvormittag, irgendwelche Ferien. Mit meiner Mutter zum Wochenendeinkauf, ein Laden so ähnlich wie ein Edeka-Markt, vielleicht noch zur Drogerie; mit etwas Glück eine Tüte Lakritz. Zum Fleischer mit der blonden Verkäuferin, die irgendwas unter der Nase hatte, das bei mir die Befürchtung weckte, sie schnäuze in den Fleischsalat; zum Zeitschriftenhändler mit den duftenden Comics und dem grauen Zweitürer-Kombirekord, bei dem ich mal irgendwas "mit ohne" verlangte; als ich in Englisch "without" gelernt – egal; wir trafen also meinen – Freund? - , und warum und wieso und weshalb nun auch immer schlich ich mit diesem in den – Garten? – des Gemeindehauses am Lessingplatz, lehmig, verwuchert, uniert, in der Einfahrt mitunter ein Autobianchi mit holländisch schwarzem Nummernschild. Wir wollten nach einer Schatztruhe graben, Jungs in diesem Alter tun so was halt, und schon auf dem Rückweg und erst recht dann daheim ein nicht geringes Donnerwetter.

      - Nur: sollte ich jetzt vollends zum Stubenhocker werden, also das, was doch sonst stets ein Vorwurf war? Und: wenn nicht rund um den Lessingplatz, wo dann bitte sonst? – Der Hof hinter unserem Mietshaus... schön, das war ein großes Gelände mit Rasen und auch Kletterbäumen, doch da kam man nur durch den Keller rauf, und selbst die helle Waschküche dort mit der großen steinernen Einweichwanne sah eher wie ein Richtplatz aus. Zu den wenigen Jungs aus unserer Zeile hatte ich eh nicht so den Kontakt; da war es schon gut, wenn auch diese mich im Regelfall ignorierten.

      - Und außerdem ging ich ja meistens mit, wenn die Eltern in den Garten gingen, und weil man eh nicht helfen konnte, nahm man sich ein Badetuch und legte sich aufs Laubendach, in Gartenbüchern für Rosen und Tulpen Ränge und Werte zu erstellen wie für Halbedelsteine und Edelsteine. Ansonsten war es die spärlichste Laube im ganzen Schrebergartenverein, und das in einem der gepflegtesten Gärten, eine Holzlattenbude mit Teerpappendach und folglich mehr Schuppen als Laube.

      - Und freilich vom Vorbesitzer so übernommen. – 1967: eine Bustagesfahrt nach Zandvoort. Ein kühler, windiger Julitag. Ich konnte nur mit den Füßen ins Meer und sammelte ein paar Muscheln. Bei meiner Mutter die ersten Vorboten dort der dann wahrlich nicht leichten Wechseljahre; Panikattacken, Depressionen und sicherlich nicht die Schuld des Kaffees, mit dem sie eine Spalt-Tablette gegen die Kopfschmerzen eingenommen. Die hatte ich auch, und das nicht selten, und eigentlich immer nur links.

      '67 kein Ferienhaus, sondern eine Einlieger-Ferienwohnung irgendwo im Hessischen. Abendessen im Dorfgasthaus; Farbfernsehen und Schlachteplatte. Auch das – einzige? – Urlaubsfoto jenes Jahres "in Farbe", wie es dann beim Fernsehen hieß, weißes Hemd auf grauem Balkon vor grauem hessischen Mittelgebirge, bis zum Hals geschlossen. – Und keinesfalls gefordert; ich empfand es als schlichtweg unangenehm, wenn die Kragenecken Hals und Kinn berührten, und Fotolächeln schon damals nicht mein Ding; das Paßbild in diesem Kinderausweis ist da wirklich das einzige, wo das ganz natürlich wirkt und vermutlich ja auch so war.

      Wiesenchampignons in Hülle und Fülle, die allesamt auf der Wiese blieben, weil ausgerechnet in diesem Jahr wieder irgendwelche Laiensammler den üblichen Irrtum begangen hatten, und diesen folglich nur einmal. Später siegten dann doch Begehren, Erfahrung und Vernunft. Sammler, die keine Blätterpilze sammeln, sind potentielle Frevler schon und sollten Wald und Wiese gefälligst den Kennern überlassen.

      Beim samstäglichen Abendbrot, Tatarbrötchen oder Kartoffelsalat, schlürfte ich vom Bier meines Vaters den Schaum und sonntags auch mal einen Fingerhut Schnaps, bei meinem Schwager sogar einen Scotch. – Mai '68, Polterabend. Hier ein Schluck Bier, da ein Schluck Wein, dort ein Schluck Weinbrand oder auch Korn. "Male nicht den Teufel an die Wand"; ein deutscher Schlager jener Tage. Der Vater meines Schwagers ging relativ früh zu Bett. "Male nicht den Teufel an die Wand": eine Mahnung Gottes? Sollte ich ernstlich davon ausgehen dürfen, daß diese Ehe gottgewollt? – Sie waren gerade vom Standesamt zurück, als der Vater meines Schwagers einen Herzinfarkt erlitt und noch im Treppenhaus verstarb.

      1965, zu meinem achten Geburtstag, hatte ich mir für den Nachmittag ein paar Klassenkameraden eingeladen. Da war meine Mutter ein wenig ratlos. Abgesehen von einem Mädchen aus der Familie meines Schwagers hatte ich keine Spielkameraden; ich hätte ja gar nicht gewußt, wie man "Kindergeburtstag" feiert. – Gekommen ist ja eh keiner. War ja auch rasch vergessen dann.

      - Und doch, ich war ein normales Kind, ich liebte Spaghetti mit Tomatensoße und viel geriebenem Käse drauf und gekochten Karamel- oder Schokopudding mit kaltgerührter Vanillesoße. Linseneintopf, süß-sauer; wie gut konnte ich den Esau verstehen, der irgendein Recht gab für ein Linsengericht. – Nein, ich war kein normales Kind; abgesehen von der Dompfaff-Familie, die zur Fütterung bis ins Wohnzimmer kam, mochte ich Tiere nur im Zoo und im Fernsehen und ansonsten halt auf dem Mittagstisch. Und trat mal tatsächlich der seltene Fall des Besuchs einer Kneipe oder Gaststätte ein, dann war ich sofort bei den Spielautomaten und machte auch meistens etwas Gewinn; so auch im Lokal nach der kirchlichen Trauung, soweit ein "Feiern" unter den – von Gott gegebenen? – Umständen jetzt denn überhaupt noch möglich war. Dort stand auch eine Musikbox, die ich dann mit den Gewinngroschen füllte, was immer ich auch gedrückt haben mag. Es war mir verboten, "mein Gott!" und "verflucht!" zu sagen, was mir ich beim ersten einleuchtete und beim zweiten ausgesprochen schwerfiel. – Ich war kein normales Kind, denn ich liebte es, zu entbehren. Niemals hätt ich zu fragen gewagt, ob es nicht einmal das Pückler-Eis, ob es nicht einmal, und sei's am Geburtstag, dieser Eisbecher mit der Kirsche drauf zu zwei oder zwei Mark fünfzig statt der ewigen vier gemischten Kugeln mit Sahne für einssechzig... – Hab ich sie jemals daran erinnert, daß die versprochene Fahrt noch ausstand, die Fahrt mit dem Bähnchen mit der kleinen Dampflok und den alten Waggons mit dem offenen Tritt? Der hielt am geheimnisvollen vierten Bahnsteig, abseits der drei Hauptbahnsteige mit Bahnsteigkartenpflicht. Bahnsteigkarten, ein mattes Weiß wie heute noch die Ankunftspläne.

      Klaus drückte mich sacht an die Hallenwand. Von hinten wärmten die