Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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und freilich eben gerade dann, wenn ich über diesen Übergang ging. Auch bei den neueren Zuggarnituren war der Gepäckwagen meist in der Mitte und stets für den Durchgang freigegeben. Auf der Eisenbahnbrücke beim Mangelweg ergriff mich bisweilen ein wenig die Angst, ich könnte womöglich den Drang verspüren, übers Geländer rüberzuklettern, vom Vorsprung auf die Gleise zu springen oder auf offene Güterwaggons.

      Von Comic-Heften und Kaugummikugeln, 10 Pfennig das Stück, einmal abgesehen, sparte ich jeden Taschengeldgroschen für Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke. – Verbeulte mattrote Doppelautomaten, rechts die Überraschungskugeln, schon möglich, daß ich mir irgendwann dann doch mal eine gezogen hab; 50 Pfennig, das war viel Geld für diesen – und so auch erwarteten – Plastiktand. – Dieser ganz bestimmte – Duft, Geruch – beim Zeitschriftenhändler am Lessingplatz; das konnte ich geradezu riechen schon, wenn freitags das neue Mickymausheft in den Comicregalen beim Schaufenster lag.

      Die Jugendstilvillen am Lessingplatz: Stuck und Schnörkel und Teufelsfratzen; ein einziges Pandämonium, Tod und Wahnsinn und Leichenwagen, Alptraumstoff für viel zu schwere, viel zu warme Federbetten, Tagtraumstoff für viel zu hohe Doppelfenster mit Kondenswasserrinne.

      - Ein Gedanke vom Sommer '71: Ich werde wach – und stehe unvermittelt wieder vor der Ruhrstädter Wohnungstür. Dritte Etage, Dachgeschoß, ein Durchschnittsmietshaus jener Tage, keine Arme-Leute-Wohnung, zumal im Vergleich mit der Badischen. Erst Kohleöfen, dann Öl, und auch dort das Schlafzimmer unbeheizt. '76 auf etlichen Lessingplatzhäusern geometrische Formen in poppigen Farben, davor die neuen, modernen Autos, Golf, Passat, Audi 80, Ford Taunus ohne irgendein M hintendran. Und wenn ich als Kind mit dem Mut des Beschützten unter das Bett meiner Schwester schaute, sobald ich im Hausflur hören konnte, daß meine Mutter vom Einkauf zurück, so wurde '76, wie zum Zeichen des Sieges, alles mit Fotos dokumentiert, die Innenstadt, die Stadtbücherei, das alte Finanzamt, das neue Finanzamt, und vor allem natürlich die Schule und das Viertel rund um den Lessingplatz.

      Der erste mir noch bekannte Traum: Ich stand vor unserem grauen Haus, wo eine altertümelnde Sonnenfratze sich in Dachhöhe hin und her bewegte, mich rief und mich irgendwie packen wollte, mir sicherlich nichts Gutes zu tun. – Sicherlich ein Fernsehtrauma, die Psychokrimis, die Serienkrimis, der Spätfilm am Samstag so gegen halb elf, und Spätfilme höchstens zwei oder drei, mir fällt jetzt nur ein französischer ein und Alfred Hitchcocks "Marnie". – Wie leicht ich doch zu verängstigen war; da reichte schon die Traumsequenz mit der Säge aus dem "Doppelten Lottchen", obgleich doch bloß das Bett zersägt und die Kinder gerade nicht.

      - Ruhrstadt 2001: die weißgetünchten Jugendstilhäuser ausnahmslos von Architekten bewohnt und ausnahmslos unter Denkmalsschutz. – Die dunkelgraue katholische Kirche in der Innenstadt aus den zwanziger Jahren, heute vielgerühmtes Beispiel eines jetzt wirklich geglückten Sakralbaus dieses an allem Sakralen nicht gerade üppigen Jahrzehnts. Am Lessingplatz das Gemeindehaus, uniert, wie im Rheinland so üblich; meine Schwester wurde dort konfirmiert, und ich wurde dort getauft, geboren am Tage Calvins.

      Das Kirchengebäude weit außerhalb, in Nähe von Schule und Schrebergärten; ein Neubau (ein Altbau wohl gar nicht vorhanden), Glas und Beton, markanter Turm. Mit dem Neubau kamen die Schulandachten. Einige in den hinteren Reihen waren statt mit Andacht mit Sachen beschäftigt, die selbst für unierte Neubaukirchen, sagen wir, eher untypisch sind.

      - Goldene Alukappe: A-Milch; silberne Alukappe: B-Milch, zum Kochen und Backen und fast immer mit Rahm, mitunter nicht wenig, im Flaschenhals, welchen ich dann ablöffeln durfte. Milchfett war das einzige Fett, das ich damals mochte, und das ist ja auch noch heute so, im Gegensatz zur Servicegesellschaft. Wo gibt es denn heute Milchmänner noch, die einem frühmorgens die Flaschen bringen? Wo, bitte, bringt denn noch heute ein Bäcker frühmorgens die frischen Brötchen ins Haus? Vielleicht lohnt es nicht mehr, weil keiner mehr wagt, die Ware auf Kredit zu liefern oder das Geld vor die Haustür zu legen. Weil der Nachbar womöglich die Flaschen klaut und auf die Brötchentüte milcht.

      - Ich weiß es nicht, und ebensowenig, ob man das alles bedenken muß. Und dann diese Fahrt nach Norddeutschland, das hätte ich so nicht absagen dürfen, was immer am Sonntag da los war mit mir. Und dann dieses physische Unwohlsein, seit Tagen nun schon Dauerschwindel, ich schätze mal, das rechte Ohr, defekt schon seit '64; da hat mich ein Trottel nicht aufgefangen, unten an der Rutsche im Nichtschwimmerbecken, Anfang September, noch 30 Grad, im Freibad von Kirchheim, den meisten bekannt als Nadelöhrdreieck der Nord-Süd-Autobahn.

      Hessen war Zufall und hatte nichts mit den Frankfurter Menschenfreunden zu tun, und auch die Schwarzwälder Ferienwohnung von 1969 nicht aus vorrangig religiösen Gründen. Im Radio Herb Alpert, dessen Sound meine Mutter wohl schätzte, doch keinesfalls sein Statement (und womöglich nur kolportiert), der beste Trompeter der Welt zu sein; wer so etwas von sich selbst behauptet, zählt fraglos nicht zu den Menschenfreunden. Sie besuchte eine Versammlung in Lörrach; da spielte neulich Neil Young auf dem Stadtfest, soweit ich weiß, sogar kostenlos; damals Ausflugsfahrten nach Basel, nach Zürich und an den Vierwaldstätter See. – Die Sekte mit deutschem Hauptsitz in Frankfurt duldete wohlwollend Sympathisanten, was für Sekten eher untypisch ist.

      - The Summer of '69: nein, in Bryan Adams' Sinn gab's das freilich erst in Wenden, und die 60er ja nun wirklich nicht die "best years of my life". – Immerhin eine poppig-runde Plastiksonnenbrille, Desinteresse am Unaussprechlichen und ausgesprochen großes Interesse am Mordfall Sharon Tate. Nicht, daß ich Mansons "Family" irgendwie mit den Menschenfreunden, doch Sondergruppe ist Sondergruppe und folglich als solche schon interessant, zumindest interessanter doch als evangelische Landeskirchen. Ein Klassenbuch wurde eingeführt, und Briefe verschickt bei entsprechendem Eintrag; einmal traf es dann sogar mich, und zu Hause nun fast schon ein "endlich!" – Die Bahnfahrt wie üblich im D-Zug nur und nicht, wie erhofft, im "Rheingold".

      - Die Bahnhofsfassade: viel mehr ist nicht übrig von diesem Teil der Innenstadt, und das, was heute noch vorhanden, das haben sie nicht mal im Ansatz saniert. Das Drumherum ist neu und fremd, so auch der Friedrich-Noske-Platz, Friedrich Noske, Rektor der evangelischen und später dann: "Gemeinschaftshauptschule" am Gartenweg. Friedrich Noske war Sozialdemokrat und hat mir nichts getan. Noch heute besitze ich die Münzalbenblätter, die er, der passionierte Numismatiker, mir an einem Samstagmittag für meine kleine Sammlung geschenkt. – Hat er mir auch seine Sammlung gezeigt? Selbst wenn: Friedrich Noske, das will ich ihm lassen, ging es einzig um die Münzen. Friedrich Noske war nur ein prügelnder Lehrer, und die Prügelstrafe, wie schon gesagt, erlaubt; ich schätze, er hat sich über das Prügeln genausowenig Gedanken gemacht wie über das, was die Leute wohl reden könnten, wenn er in seinem Büro einem Schüler nach Unterrichtsschluß seine Münzsammlung zeigt.

      - Ein paar Silbertaler, Groschen, Scheidemünzen, Pfennigstücke, das älteste von 1765, noch dazu eine Handvoll Münzen aus Europa und Südamerika sowie ein "Maria hilf"-Medaillon, das mich gleichermaßen irritierte wie faszinierte, aus dem Nachlaß meines Großvaters, alles in einem Leinensäckchen mit dem kunstgestickten Schriftzug "Bleibe voll!". Sonst hätte ich wohl kaum jemals Münzen gesammelt. Briefmarken, gut, das mochte noch angehn, aber Geld, das war nun wirklich nicht im altruistischen Sinne der Menschenfreunde, genauer, des "Menschenfreundlichen Werks", der "Kirche des Reiches Gottes e. V.", "l'Eglise du Royaume de Dieu", "Verlag 'Der Engel des Herrn'", "Menschenfreundliche" bzw. "Philanthropische Gesellschaft" und so weiter und so fort. "Menschenfreunde", "les Amis de l'Homme" ist auch, genauer, der frühere Name der sozial engagierten "Amis sans Frontières", für Hutten der Menschenfreunde "edelster Zweig", deren Glieder vor allem in Frankreich wirken, religiös inzwischen so neutral, daß sie die Ursprünge ihrer Bewegung auf ihrer Website nicht mal mehr erwähnen. So ganz geklärt ist das bis heute nicht, wer da nun eigentlich abtrünnig wurde, wer nun die "wahren" Menschenfreunde, die legitimen geistigen Erben des "Sendboten" Alexandre Freytag sind.

      Freytags Lehre hat ihre Wurzeln in der Lehre der Zeugen Jehovas, denen er bis Anfang der zwanziger Jahre in leitender Stellung angehörte. Im Mittelpunkt steht das "Weltallgesetz" mit dem sogenannten "Gleichwert": Alles, was mir