Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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zutragen mußten, war ich der verdorbenste Konfirmand, den er jemals im Unterricht hatte, schlichtweg alles übertreffend, was er kannte aus seiner Wehrmachtszeit. Gewiß, der Bub von den Wärmesteinen, da können die Eltern beruhigt sein; bei dem wird alles nach Plan verlaufen, da haben Neurosen keine Chance; der wird später höchstens aus Neugier mal ihm neue, fremde Bereiche erkunden, sofern er dann diese wie jene noch hat. – Und folglich noch die Frage, ob eine ungestörte Kindheit denn in jedem Fall eine glückliche ist, und überhaupt, wer wurde in den sechziger Jahren in den heiklen Fragen der Leiblichkeit schon wirklich liberal erzogen, selbst wenn die Eltern noch jugendlich waren und der "sexuellen Revolution" nicht samt und sonders abgeneigt? – Und freilich war ich ein Bettnässer, wenn auch überwiegend ein "indirekter"; meistens wachte ich rechtzeitig auf, weckte meine Mutter und tapste ins Bad, sobald sie die Bettlampe angeknipst. Mitunter aber dachte ich, sie könnte womöglich verärgert sein, wenn ich sie jetzt in der Nachtruhe störte, und das wegen solcher Belanglosigkeit. Nicht, daß es je so gewesen wäre, doch wartete ich und wartete ich, bis es weit größeren Ärger dann gab als den, den mein Schweigen vermeiden sollte. Und keine, und das bis heute nicht, auch nur halbwegs vergleichbare Situation, wo ich nicht wieder und wieder und wieder mich so und kein Jota gescheiter verhielt...

      3. Gesang: Excerpt from a preteenage opera. Denkt auch an morgen. Denkt auch an mich.

      "Tun Sie das nicht! Der Junge ist doch intelligent. Schicken Sie ihn aufs Gymnasium und lassen Sie das Ganze auf sich beruhen. Das sind doch nur Jungs." – Das aber hat ja keiner gesagt. Und auch der Älteste hatte geraten, mich weiter zur Volksschule gehen zu lassen, gingen doch die Übeltäter nun allesamt aufs Gymnasium, was letztlich nur den Hochmut nährt, zumal doch zu unseren Lebzeiten noch diese Welt zum Paradies wieder wird. – Menschenfreundliche Gesellschaft, Frankfurt am Main, Paradiesgasse. Ich stellte mir diese als Sackgasse vor, am Ende ein kleiner, paradiesischer Park, obgleich Parks in ihrer erzwungenen Ordnung eher Friedhöfen glichen als der freien Natur. Wälder, wie ich sie aus Norddeutschland kannte, fehlten ja nun mal im Ruhrgebiet, und wenn man zudem kein Auto hatte, so war dann selbst im Ruhrgebiet der Bewegungsraum drastisch eingeschränkt; zwar gab es bereits in den sechziger Jahren eine hochentwickelte Infrastruktur, doch ließ gerade diese jeden "richtigen" Wald in unerreichbare Ferne rücken. Und so führte der Sonntagsfamilienspaziergang vorzugsweise durch Grünanlagen, zum Trampelpfad etwa beim Bahndammgebüsch und zum alten jüdischen Friedhof. Die "richtigen" Friedhöfe waren mir zuwider; überall roch's nach Zersetzungsprozeß, ein Geruch, den ich eher dem Menschenfleisch als dem welkenden Grabschmuck zuordnen wollte. Im Sommer auf der Ruhr eine Schiffchenfahrt.

      - Ein Knopfdruck, und schon öffnen sich die Pforten zu den Tagen der Kindheit, genauer gesagt, zum Bandmagazin, einer klimatisierten Lagerhalle mit Dutzenden von Schieberegalen für mehrere tausend Sendemitschnitte. Kein Ort, der jetzt im üblichen Sinne irgendwie "atmosphärisch" wäre, kein Ort für konkrete Erinnerungen, ach, eine Sendung vom März '64, ja, da war ich doch... es ist dann eben März '64, und nur selten über 1970 hinaus, und wenn, dann ohne diese Zäsur. – "Zäsur"? Längst eine rein geographische Sache. Sonst würde ich dieses Bandmagazin ja voraussichtlich gar nicht kennen. Und falls man sich im Jenseits was wünschen darf, so werde ich mir ein Privatkino wünschen, ein Kino für alle Sinne, und möchte dort wieder und wieder und wieder nichts als diesen Lebensfilm sehen mit der Möglichkeit, alles, was verkehrt war, in Ordnung zu bringen, und freilich, je näher der Gegenwart, desto häufiger nur noch Sequenzen.

      Ruhrstadt, vier Bahnstunden, Rheintrasse. Ruhrstadt, die Stadt ohne "Soundtrack". Bertelsmann-Lesering-Langspielplatten. Die Singles meiner Schwester, ihre LP von Esther und Abi Ofarim; mein Lieblingstitel auf dieser Platte – natürlich – "Dirty old town". – Ihr Philips-Mono-Kofferplattenspieler, ans Röhrenradio anzuschließen: "Duft" wäre übertrieben, "Geruch" klingt ordinär; sagen wir, eine Komposition aus Hartplastik, Weichplastik, Kupferdraht, vielleicht noch eine Prise Korund, vor allem bei scheppernden E-Gitarren bzw. Beatgruppen-Chorgesang, "I want to hold your hand" von den Beatles, "I wanna be your man" von den Stones.

      - Tonarm zum Ausklicken ganz nach vorn, zurück auf den Halter, Platte runter; alte Platte in Hülle stecken, neue Platte aus Hülle ziehen und vorsichtig auf den Teller legen; Tonarm zum Anklicken ganz nach hinten, Tonarm zum Abspielen wieder nach vorn und behutsam auf den Tonträger setzen.

      Ein Ausschnitt aus einem Beatles-Konzert, ich wurde aus dem Bett geholt, mir dieses Spektakel anzusehen; es wurde nicht verdammt, es wurde nicht gelobt, ich wurde niemals zuvor und niemals danach wegen irgendeiner Fernsehsendung oder irgendwelcher sonstigen Gründe aus dem Bett geholt, vielleicht gab es damals die noch üblichen Sprüche von wegen "entarteter Kunst", das aber galt auch den "schönen Stimmen" kurz nach eins beim Nachtisch des Sonntagsbratens, WDR, erstes Hörfunkprogramm, und allein der Ouvertüren wegen, im Koffergerät mit Rundlaufsucher und Batterien mit Auslauf. Das hielt bis weit in die Achtziger; ein Jammer, daß ich's dann weggeworfen, ja, eigentlich eine Schande.

      Nach wochenlanger lustloser Rumquälerei lernte ich eines Frühsommerabends auf dem Weg mit dem eher leichten Gefälle zwischen Schule und Schrebergartenanlage, mein Klapprad nun doch noch zum Fahrrad zu machen, unbehelligt von skeptischen Blicken und gutgemeintem Rat. Und dann ging es los, im Sommer '70, und das durch den dicksten Stadtverkehr, und ohne nun gleich den Mut zu verlieren, geriet man mal in die Straßenbahnschiene, so daß man über den Lenker ging, voll mit dem Schädel aufs Pflaster schlug und sich eigentlich nur noch wundern konnte, an Leib und Rad nur verschrammt zu sein. Einmal auf den Ruhrschnellweg geraten, und das im dicksten Abendverkehr, gewendet dort und ganz rechts gehalten, wenn auch freilich aus meiner Sicht. Ein freundlicher Ford-Mustang-Fahrer erkannte die Gefahr, hielt an und lotste mich zum Seitenstreifen und hievte mich samt Klapprad dann auf den Acker neben der Stadtautobahn.

      Im August ein Volksradfahren quer durch die Stadt und längs der Ruhr. Zwei Strecken standen zur Wahl, 30 oder 40 Kilometer, ich wählte mutig die 40 und erhielt meine einzige Sportmedaille und das bis auf den heutigen Tag, für die Teilnahme nur und was denn auch sonst, doch immerhin die Goldene, und trotzdem kein Vergleich zur Siegerurkunde meiner Schwester; ein Leichtathletik- oder Schwimmwettbewerb im Rahmen der Bundesjugendspiele. – Als ob man das je so gesagt hätte. Und für meine bevorzugten Jugendspiele gab es und gibt es nun mal keine Medaillen...

      - Die Begrenzungsmauer zu den Bahnanlagen in der Vorderen Bahnhofstraße, genauer gesagt, eine Futtermauer, und kurz vor der Unterführung, dort, wo heute der Eingang ist, damals ein Pissoir, ein Pissoir mit Kondomautomat; zwei ältere, hagere Südländer, und ich denke noch heute, die machten da was. Sie drehten sich um wie auf frischer Tat ertappt und redeten was, wem immer das galt, und falls mir, dann zwar freilich als Aufforderung, doch wohl nur, mich schleunigst davonzumachen, oder derber gesagt, zu verpissen. – Nun, ich hab auf dem Absatz kehrtgemacht und bin weiter, und das ohne jegliche Eile, nach Haus oder Richtung Stadt geradelt.

      Mir war's ja erlaubt, im Jugendzimmer meines späteren Schwagers nach Sachen zu stöbern, die Jungs meines Alters interessieren könnten. Das war so um '65 rum, als ich dann dieses Quartett entdeckte zwischen "Schatzinsel", Lexika und Michel-Katalogen, ein Quartett mit halbnackten Frauen drauf, und selbst die Frau auf der Jokerkarte trug untenherum einen Pelz, was freilich eine Enttäuschung war; egal, mein Bauch wurde dennoch – durchwoben? durchflutet? - , wie immer man's nennen soll, und so, wie ich's bis auf den heutigen Tag so heftig nicht mehr erlebt haben dürfte.

      - "Hans-Georg ist sehr fleißig": so steht es im Versetzungszeugnis von der Siebten in die Achte. Schon möglich, aber: was nutzt uns das, wenn alle Zukunft in Eden liegt, aber Ruhrstadt nun wahrlich jenseits davon? – Hochöfen. Abgase. Ruß und Rauch. Gingen wir zur Mangel am Lessingplatz, gab's als Trägerlohn meist ein Comic-Heft; ging's zur Mangel gleich hinter der Eisenbahnbrücke, stand ich meist draußen im Wäschedampf und sah den schnaufenden Dampfloks nach und mit etwas Glück dem "Rheingold", der einen Wagen mit gläserner Kuppel führte. Der letzte Schnellzug mit Dampflokbespannung war der von Hannover ins Ruhrgebiet im Sommer '66.

      Im Sommer '98 standen in Frankfurt ab und an Sonderzüge bereit, mit Dampflokbespannung und Museumswaggons