Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

Читать онлайн.
Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



Скачать книгу

Fall ja kaum möglich, und überhaupt, wie sollte ich, zumal in diesem Alter, mit Worten nun diesen meinen Zustand erklären, und so drückte ich lieber mit aller Gewalt ein paar Tropfen in die graue "Grobripp"-Unterhose, wo Flecken gleich viel größer wirkten, obgleich sie das schon etwas stutzig machte, nahm mich doch normalerweise eine eingenäßte Unterhose längst nicht so mit wie an diesem Abend, einfach, weil das zu häufig war, zum Beispiel fast immer, wenn ich lachen mußte, und sicher war der ganze Spuk schon am nächsten Tag vergessen.

      Heideurlaub 1966, nicht weit von unserem Ferienhaus. Eine unserer Steinpilzstellen. Meine Mutter findet zwei ausgesprochen schöne Exemplare, ich hingegen keinen einzigen. "Scheiß Gott", fährt es mir durch den Kinderkopf. Es wird rhythmischer, viersilbig, setzt sich fest, und abgesehen von der Vier bei Musik, bei Geburtstagen oder bei Straßenbahnlinien ist mir die Vier noch heute suspekt.

      Ich verbot es mir, auf die Fugen zwischen den Gehwegplatten zu treten; tat ich's dennoch, bewirkte der Fehltritt eine Spannung bis hin zur Atemnot. Da sollte doch mal besser der Kinderarzt schaun. – Der schaute sich lieber was anderes an. Nachdem ich dann minutenlang auf seiner Pritsche gelegen hatte, schickte er mich ins Wartezimmer und mußte ja sonstwas gefunden haben, so lang, wie auch das Gespräch dann ging. Was mag er meiner Mutter erzählt haben? Banales Zeug, weil er mit den Gedanken noch freilich ganz woanders war? Ich kann's – und wie sollt ich's? – nicht sagen; es sei ihm folglich vergönnt. Und so blieb ich ausnahmsweise mal still, als meine Mutter meinem Vater das Spektakel erzählte, und was dieser Kerl sich dabei bloß gedacht, so lange an mir da herumzufummeln.

      Räumte mein Vater im Dachbodenvorraum die Regale unter der Dachschräge auf, bestaunte ich stets den Holzhammer dort; ein Werkzeug, das ich sonst nur aus Stummfilmen kannte. Die Fabrik auf der alten Stonsdorfer-Flasche: das wolkenverhangene Stadtpanorama beim Blick aus unserem Küchenfenster; der große Hof mit den Gartenparzellen, die Hinterhofbalkone aus der Gründerzeit, zur Rechten das weitläufige Areal einer ehemaligen Lederfabrik. Am Horizont die katholische Kirche, später dann das Neckermann-Hochhaus und die Kugel des Observatoriums, ich glaube, eines Max-Planck-Instituts. Ein Stilleben, das sich nur dann belebte, zog von der Stadt her ein Wetter auf. Ich mochte es nicht, wenn rund um den Schornstein auf dem Flachdach eines Werkstattschuppens am Rande besagter Lederfabrik der Schnee schon nach Stunden geschmolzen war; keine richtigen Winter, keine richtigen Sommer, im katholischen Ruhrstadt nieselte es, und schon kurz hinter Hamm kam die Sonne hervor. Alles nur Folgen der Schwerindustrie, und überhaupt, das ganze Ruhrgebiet nur Ausdruck der Geldgier der "Schwarzen": CDU = katholisch = reich; SPD = protestantisch = sagen wir, "nichtreich"; so einfach war das damals im Ruhrgebiet.

      - "Hideaway" von Dave Dee und Dozy und den anderen mit den komischen Namen: meine erste eigene Single; meine Schwester gab zwei oder drei Mark dazu.

      Das frühe Interesse an Politik: Als der Mauerbau noch in den Nachrichten war, fragte ich meine Mutter, warum die Amerikaner nicht einfach Bomben auf diese Mauer werfen, die ich groß und dunkel wie die Giebelseite unserer grauen Mietshäuser wähnte und dünn wie meine wackeligen Legomauern. Vernünftige Frage, vernünftige Antwort: Gefahr eines neuen Weltkriegs.

      Im Oktober '63 im Interzonenzug nach Guben. Bis Berlin im Liegewagen; dort stiegen wir um in die S-Bahn nach Erkner, und ich hoffte, die "Schwangere Auster" zu sehen, was "schwanger" auch immer bedeuten mochte.

      Die "Deutsche Reichsbahn" war eine Enttäuschung; statt der erhofften Doppelstockwagen Großraumwaggons ohne Übergang, ausgeweidete Vorkriegs-Coupés, im Nichtraucher gar ein Zigarrenraucher; meine Mutter verbot's, ihn zurechtzuweisen.

      Mein Großvater stellte Abend für Abend eine Mausefalle in der Speisekammer auf; ich freute mich über jeden Fang wie über ein gelegtes Ei im Hühnerstall meiner Tante bei Oldenburg. In Ruhrstadt rannte ich schon heulend aus dem Zimmer, als im Fernsehen ein Bericht über Tierversuche nur angekündigt wurde.

      - Liebesknochen, so ein Windbeutelteil, für meinen Geschmack viel zu fett, doch der klare Beweis, daß Hunger und Not im Osten nur Propaganda war, Propaganda der CDU, Propaganda der Katholiken, Katholiken, die in dunklen katholischen Kirchen auf blutigen Knien zu Heiligen riefen und als Päpste oder als Gastarbeiter vorzugsweise Singvögel fraßen, so daß schon mal wenigstens letzteres nicht das katholische Ehepaar Kraft betraf, bei dem ich fast schon den Eindruck hatte, daß es nicht zuletzt dieses Katholische war, was die beiden mir so sympathisch machte.

      Mit dem Liebesknochen in der Hand so weit wie möglich ans Neißeufer, auf jeden Fall bis hinter den Schlagbaum gleich am Anfang der Neißebrücke; konnte ich dann doch immerhin sagen, daß ich fast schon im Ausland war, auch wenn das Land, das hinter der Schranke, noch kein so ganz "richtiges" Ausland war, und das Land davor, nun, ja auch schon fast. Meine Mutter hatte mir eingeschärft, im Osten nur ja keine Scherze zu machen über Ulbrichts "Zickenbart"; als ob das denn je meine Absicht war.

      Meine Großmutter, "illegitime" Tochter eines Berliner Dirigenten, war Mitglied im "Biochemischen Verein" und nahm nach dem Krieg sogar mal das Flugzeug, als sie ihre Töchter im Westen besuchte; in Guben nahm sie mich zum Metzgerladen mit, und ich staunte über die Aufschnittmaschine, die nach getaner Arbeit ausging wie von selbst. So was Modernes haben wir nicht im Westen, sagte ich im Metzgerladen, und der ganze Laden lachte. Erst recht aber war der Silberschmuck meiner Tante, alles 835er-Silber, der "glänzende" Beweis, daß es den Menschen im Sozialismus fraglos besser als denen im Westen ging. – Der große, gemütliche Kachelofen in ihrer geräumigen Neubauwohnung. Der Badezimmerboiler mit Holzfeuerung war das einzige, wo ich mir nicht so ganz sicher, ob jetzt auch das ein Fortschritt war gegenüber unserem elektrischen.

      Beim Pilze suchen war ich inzwischen meinem Großvater fast schon ebenbürtig. Grünlinge waren mir vom Wochenmarkt vertraut, der war vor dem klobigen, dunklen Rathaus, wo auch das alte Finanzamt war. Und so erntete ich im Herbst '63 neben Grünlingen und auch Pfifferlingen vor allem den Respekt meines Großvaters, überzeugter Sozialdemokrat, der, wie mir meine Mutter erzählte, vor 1933 sogar ein Taxi für die Familie bestellte, um an einer Gedenkfeier für Friedrich Ebert teilzunehmen. Nur einmal zeigte er Strenge, großväterliche Autorität. "Du bist nur mein Großvater, du hast mir gar nichts zu sagen", erwiderte ich.

      - Der staunte nun eher, als daß er mich mahnte. Wer weiß, ob man sich je wiedersieht, angesichts der gegebenen Umstände. – Wir sahen uns nicht wieder; schon zwei Jahre später ist er gestorben. Die Eltern meines Vaters hatten mich nur als Kleinkind gesehen; zur Geburt schickten sie ein Glückwunschtelegramm, zur Geburt, wie sie schrieben, des "Stammhalters". – Und was denn auch sonst? Jeder Mann will Nachkommen zeugen; das ist biologisch so vorgegeben und folglich auch bei mir.

      Wieder in Ruhrstadt. Meine Schwester spielte mir ihre neue Beatles-Single vor. Für meine Finger waren ihre Platten tabu, erst recht ihr kleines Akkordeon, ebenso ihre Bücher; "Wandern mit offenen Augen" und großem Riß im Schutzumschlag. Mein Heidetaler Stein wurde kleiner und kleiner, ich brach den Stern vom Mercedes 600 ab und blieb zur elektrischen Eisenbahn, dem "Nord-Expreß" von Rokal, vorzugsweise auf Sicherheitsabstand, und wenn nicht, verbog ich sogleich die Schienen oder zumindest deren Steckaufsatz. Das Umland, die Häuschen, die Berge, das alles baute mein Vater zusammen, bis ihm mein fehlendes Engagement den Spaß daran verdarb und Eisenbahn samt Umland in der Abstellkammer verschwanden. Etwas mehr Aktivität beim Metallbaukasten, den ich ja unbedingt haben mußte, weil Jungs nun mal so etwas haben müssen; ich aber schraubte die Bauelemente zumeist zu abstrakten Skulpturen. Eigentlich war mir die Plastikburg, so unverwüstlich wie die kämpfenden Ritter, schon aus diesem Grunde am liebsten. Die hätt ich jetzt fast vergessen.

      1965 im Krankenhaus die ambulante Entfernung der Nasenpolypen. Im Winter drauf von Klassenkameraden über eine zugefrorne Pfütze geschubst, einer stellte mir dort ein Bein, und wie immer zuerst mit dem Kopf aufgeschlagen. Eine Mitschülerin half mir auf. Ich jammerte über mein "Zähnchen", die pathetische Form bewußt gewählt, doch in der ersten Person völlig unangemessen mit immerhin achteinhalb Jahren. Meine Mitschülerin bestätigte das; schade, ich mochte sie schon ein wenig. Zählte sie zu denen, die im Sportunterricht, auf daß sich die Jungs, zumindest