Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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– Und so galt dann auch die "Familienversammlung" – die wohl monatliche Hauptversammlung – nicht der Klein- , sondern einzig der Glaubensfamilie, auch wenn, soweit mir das bekannt, meiner Mutter, die ja eh kein Mitglied, sondern nur Sympathisantin war, niemand je einen Vorwurf machte, daß ich sie einmal (und wirklich nur einmal) zu einer solchen begleiten durfte, und freilich noch "Kleinfamilie" genug, diese im Ruhrstädter Saal zu versammeln, einem Schuppen auf Brachland am Rande zur Bahn, ein kleiner Garten drumherum, und festlich, fröhlich, familiär war diese Versammlung nun wirklich nicht.

      Der neue Leiter der Ruhrstädter Gruppe, auch dieser nicht gerade jugendlich, kam aus dem Schwarzwald und liebte die Pilze und schwärmte oft vom Parasol, der, paniert gebraten, wie ein Kalbsschnitzel munde, wie ja auch unser Pilzbuch schrieb, und beklagte das Schicksal des Menschengeschlechts, da dieses doch stets "in Wollust gezeugt", ein Wort, das meine Mutter zitierte (und durchaus mit kritischem Unterton), als ich zwar Wollust, doch weder das Wort und schon gar nicht dessen Bedeutung kannte. Das war der Bruder Mayen; Herren und Damen, Männer und Frauen gab es nicht bei den Menschenfreunden, und auch das einzige Ehepaar in der Ruhrstädter Versammlung lebte nicht mehr als Mann und Frau zusammen, sondern wie Bruder und Schwester; wenigstens trug der Mann einen Bart und fuhr einen Citroen Ami 6. Bruder Mayen liebte Käsekuchen, und diesen sogar mit Sahne. – Sagte er "Quark" oder "Käse"? – "Käsekuchen", ein ekliges Wort, damals wie noch heute.

      Auf der besagten "Familienversammlung" war ich, wie erwartet, das einzige Kind, und lachte, als Bruder Mayen sagte, daß uns der Teufel doch immer wieder einen Knüppel vor die Beine werfe, mit diesem uns zu Fall zu bringen; zwar verursachte dieses Mißgeschick tatsächlich ein leises Schmunzeln im Saal, mir aber war es nun doppelt peinlich, und ist's auch im Paradies so still, so mottenkugelig und dielenknarrend, dann lieber wohl doch in den kirchlichen Himmel und hier jetzt nun erst mal die Erde.

      - Und überhaupt, Menschenfreunde und Mottenkugeln, Menschenfreunde, die doch auch Tierfreunde sind, und weiterhin sah ich Fernsehkrimis und regte mich unangemessen auf, wenn der Täter am Ende erschossen wurde und so der gerechten Strafe entging; und da das fast immer Mörder waren, Todesstrafe, Rübe ab, Galgen, elektrischer Stuhl. Das gibt Krebs, wenn man sich schon als Kind so aufregt, und dann noch ob solcher Nichtigkeiten, das glaubte ja selbst mein Vater schon, obgleich der ansonsten, genau wie meine Schwester, herzlich wenig mit den Menschenfreunden anfangen konnte. Und immer noch hoffte ich insgeheim, das Jahr 2000 erleben zu dürfen, so, wie im Jahrbuch "Das neue Universum" auf der vorderen Klapptafel dargestellt, mit Magnetschwebebahnen und Wohnraumglocken und allem, was sonst noch als Fortschritt galt. – Noch schädlicher als der nichtige Zorn war ein blauer Fleck in der Seitengegend, ein "Bluterguß", und üblicherweise verursacht durch die Faust eines Klassenkameraden; kam beides zusammen, war die Aufregung groß, 1969 gar so groß, daß mein Vater den fast schon versprochenen Jugoslawien-Urlaub kurzerhand für gestrichen erklärte. Fräulein Hertz soll meiner Mutter gesagt haben, daß die anderen mich nicht leiden können, weil ich ihnen "geistig haushoch überlegen" sei, doch selbst wenn es so gewesen wäre – ich hätte mich hier so zurückhalten können wie etwa im ungeliebten Sportunterricht. – Und überhaupt, "haushoch überlegen"... sie hätte mich nicht so loben sollen, als ich bei der Frage nach Wörtern mit "äu" das Wort "Täufe" nannte, einen Begriff aus der Bergmannssprache, und ich, um die Situation abzumildern, einen Klassenkameraden, dessen Kommunikation mit mir sich vorzugsweise darauf beschränkte, mir auf die Oberarme zu boxen, ansprach und sagte, daß sein Vater als Bergmann diesen Begriff sicher kennen würde; er sah mich so verächtlich wie immer an und boxte mich auch weiterhin.

      Im Juli '69 der Bundeskongreß der Menschenfreunde auf dem Stuttgarter Killesberg. Die hatten sogar einen Sonderzug. Das Oberhaupt der deutschen Gemeinde fuhr in einem Mercedes vor, wie meine Mutter erzählte, sogar mit Chauffeur; vielleicht war's ja auch bloß ein Taxi.

      Ein Ferientag, mein Vater im Amt. Nicht, daß beim Eis geknausert wurde, doch die Sorten wiederholten sich. Ich begehrte die große und nie gekaufte (und eigentlich eher fade) Fürst-Pückler-Packung aus der offenen, vereisten Langnesetruhe der Bäckerei am Lessingplatz, und nun endlich die Gelegenheit. Doch war es mir freilich unmöglich, die ganze Packung auf einmal zu essen; zum einen war ich – trotz Bauch – kein Fresser, zum anderen hatte ich Angst vor dem Gleichwert, und sei es profane Übelkeit. Also steckte ich das, was übrig war, in das offene Kühlschrank-Eiswürfelfach und drehte die Regulierung auf sechs. Das hielt aber kaum bis zum Abend, und der Rest der begehrten Köstlichkeit ging halbgetaut ins Klo.

      Tags darauf kam meine Mutter heim, im Gepäck die versprochenen Mickymaus-Bücher, nur währte die Freude kürzer noch als die Vortagsfreude am Pücklereis; die ganze Familie war anwesend wohl, und der Kühlschrank nun so eisverkrustet wie die Bäckertruhe am Lessingplatz, zumindest rund ums Eiswürfelfach. Die Fragen wollten und wollten nicht enden, und hätte meine Mutter auf dem Treffen in Stuttgart ernstlich den guten Vorsatz gefaßt, fortan sich nicht mehr aufzuregen, so hätte sie diese Prüfung jetzt sogleich an ihre Grenzen geführt, log ich so überzeugend doch, wie ja die andern nur sagen konnten, daß sie das Drehrad nicht verstellt. Zudem war während der Rückfahrt im Zug eine Glaubensschwester gestorben, ein Vorfall, der selbst einen Menschenfreund nun wohl doch ein wenig unruhig macht. – Kam auch im Zug eine Unruhe auf? War für die deutschen Menschenfreunde wirklich ein ganzer Sonderzug nötig? Wo hatte ich das Geld für die Eispackung her? Hatte ich Zugang zum Haushaltsgeld, und wenn ja, mit welchen Vorgaben dann? Warum und wieso schmolz das Speiseeis, während der Kühlschrank völlig vereiste? Wie und wo hab ich die Pappe entsorgt? War Dagobert Duck eine Alternative? Der schwimmt im Geld und lebt trotzdem ewig, und gewiß in einer besseren Welt als die Menschenfreunde in Gründerzeitvillen im Langweilpark vor Mittelgebirgen.

      Auch wenn wir bis 1968 nur das erste Programm empfangen konnten, so war ich doch ein Fernsehkind. Samstags nach dem Wochenbad, wenn ich im Wohnzimmer eingecremt wurde, auf daß diese scheußliche Waschhaut verschwinde, lenkte ich mich von eben dieser mit Mahalia Jackson ab. Da gab es auch keine Vorurteile, im Gegensatz zu den Gastarbeitern; Hundertfünfundsiebziger und Messerstecher. Das mußte ja nicht gleich bis zur Mischehe gehen, so niedlich die Kinder auch anzuschaun; und überhaupt, wer kannte schon einen persönlich, gleichsam den Neger vom Lessingplatz?...

      Am Karfreitag mußte man traurig sein. Meist kroch ich zu meiner Mutter ins Bett, die gleichermaßen Martin Luther und Martin Luther King verehrte und mir den Sinn dieses Tages erklärte, wie das halt damals so üblich war. Die Neger hätten den armen Jesus nun ganz gewiß nicht ans Kreuz geschlagen, die priesen ihn doch mit Leib und mit Seele wie eben Mahalia Jackson. Fräulein Hertz, meine Klassen- und Sportlehrerin, beklagte schon lange vor '68, daß es stets eine Weiße sei, die zur schönsten Frau der Welt gekürt, wo eigentlich jeder doch wissen müßte, daß tief im afrikanischen Busch noch eine viel Schönere leben könne; sie erzählte uns auch die Schöpfungslegende der, wie man noch sagte, Zigeuner; die ersten zu dunkel, die zweiten zu hell, und die dritten genau mit der richtigen Bräune – im Gegensatz zur inneren "Bräune" der Mehrzahl ihrer Lehramtskollegen, ja, letztlich des halben Landes noch.

      Ins Bett ging es während der Woche um neun, freitags, wenn auch nicht jeden Freitag, erst nach dem 9-Uhr-Serienkrimi; der lief bis Viertel vor zehn. – Wiederhole ich mich hier? Egal; wie gesagt, ein Fernsehkind.

      Die Zeit der weißen Perlonhemden; '67 eins mit Rüschenleiste. Netzunterhosen mochte ich damals so wenig wie heute Boxershorts; da lob ich mir Feinripp von C & A. Scheußlich die lange Unterhose aus der DDR, allen Ernstes mit Eingriff hinten. Die trug ich aber ganz selten nur, und den Eingriff benutzte ich nie. Ein Mitschüler stieg schon '69 wieder auf Baumwollhemden um, kein Freund, eher freundlich-distanziert, was damals gewiß nicht das schlechteste war.

      Meine Schwester sah sich im Fernsehen eine Sendung über Marilyn Monroe an. Ein warmer, heller Sommerabend, die Eltern noch im Garten. Aus diesem heiteren Sommerhimmel überkam mich nun die Zwangsvorstellung, auch ich hätte mich jetzt umzubringen, auf dem düsteren Dachboden aufzuhängen, und gleich, womit ich mich ablenken wollte, es ging und ging und ging nicht weg, und dann kamen sie auch schon nach Hause, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte und heulte statt dessen nur rum. Die mir