Der kleine Mordratgeber. Michael Nolden

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Название Der kleine Mordratgeber
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738002799



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Auflistungen im Buch waren vom Obersten mit einer charmanten Unaufdringlichkeit aufgeführt. Rational. Spartanisch. Dennoch überzeugend. Das erste Mal. Wenn die Erkenntnis bei einem gewöhnlichen Menschen reifte, einem solchen, der nicht über soziopathische Züge verfügte – S wie Soziopath, siehe auch Seite 603 – wenn man dem eigenen Spiegelbild die bittere Klarheit im Gesicht ablas, getötet zu haben, einem Akt, der wie nur wenige auf Erden, unumkehrbar war, dann brach für den normalen Menschen – den einzigen Begriff, für den Utz Entle eine klare Definition schuldig blieb – eine Welt, bei jedem Charakter in unterschiedlicher Größenordnung, mehr oder minder laut zusammen. In Max Heiliger lösten sich aus dem Schuttberg seines kleinen Universums immer noch Brocken und polterten, Staub aufwirbelnd, einen steilen, viel zu hohen Hang hinab. Du hast getötet. Dieser anklagende kleine Satz wehte auf dem Gipfel aller moralischen Reste als Schriftzug auf einem ausgeblichenen und im langjährigen Sturm zerfetzten Fähnchen tapfer und aufmüpfig, versagte aber vor den Erdbeben und Orkanen von Max' Missgunst, die am Ende aller Gedanken und widriger Gefühle mit unfassbarer Wut alles beiseite fegte und nur vor seiner Liebe zu Emilie die Flaggen streckte. Ich werde töten. Das war ein Satz, von dem es noch ein Zurück gab, der auch eine Spinnerei, eine dunkle, sein konnte, im Alkoholdunst gestrickt, nicht gemauert, jederzeit zu zerreißen. Du hast getötet. Die Anklage kam von außen, vom System, den erlernten Werten, die das Verteidigen des eigenen Umfelds nur im Rahmen von Gesetzen und einer der Zivilisation gemäßen Antwort erlaubte. Eine Antwort, die Max Heiliger nicht mehr schmeckte, weil sie ein fades Verkriechen, Zurückweichen, ja, eine feige Flucht war, die einen hinter die Barrikaden trieb, anstatt auf sie, wo einer doch sein sollte, wenn er für sich und seine Lieben stritt. Nicht mit dem Schicksal hadern ... »Bei den Eiern packen!« Max hörte seinen Schwager Joseph im Geiste sprechen, und ganz zwanglos und nur minimal widerwillig gab er ihm Recht. Das Schicksal bei den Eiern packen, dachte Max. Das werde ich. Ich habe getötet. So lautete die nächste Feststellung. Es folgte keine Begründung. Die brauchte Max Heiliger nicht. Nicht mehr. Er nahm die Tatsache an, nicht aufs Gewissen, sondern packte sie obenauf, auf alles Erlernte, Befohlene, Verordnete, dippte sie in das zuerst verdutzte und folgend ängstliche Gesicht von Cornelius Deller, das in Gedanken das Blickfeld ausfüllte, als die Spitze des Stockes in die Brust des anderen eingedrungen war und sogleich trieb das Bild auseinander wie eine Wasserfläche, in die ein winziger Tropfen gefallen war.

      Eine falsche Bewegung und sein Stock fiel auf den Boden. Max drehte sich gefühlvoll aus Emilies Griff, entschuldigte sich, hielt an ihrer Hand fest, da er sich bückte und die Gehhilfe aufhob. In der Menschenmenge auftauchend, in Kopfhöhe, in deutlicher Kühle außerhalb der Leiber, die eine sonderbare Wärme abstrahlten, vertraut und unwirklich zugleich, bemerkte Max einen Polizisten, der das Schrottplatzgelände verließ und sich um Haltung bemüht neben einen Kollegen stellte. Einige merkwürdige Flecken auf der Uniform bestätigten Max' Überlegungen. Wenn es kein Matsch war, der sich dort abzeichnete, musste sich der Beamte übergeben haben. Dieser sprach zu dem anderen Mann, der ungerührt die Kamera auf den Kollegen richtete und das Malheur dokumentierte. Daraufhin machte er einen eleganten Schwenk über die Schaulustigen und blieb mit dem Objektiv auf Max hängen.

      Max Heiliger lächelte ein heiteres, offenes Lächeln, geradewegs in die Kamera, herzte seine Emilie, sagte ihr, sie gingen nun. Zum Laden, wie sie es wollte. »Bitte«, sagte er, »dürfen wir vorbei?« Und die Leute machten den Alten Platz, denn das Paar sah so erbarmungswürdig aus. Hätte Max Heiliger diesen Eindruck erahnt, wäre ihm das Lächeln im Halse stecken geblieben. So aber dauerte es zwei Blocks, bis zum Laden mit dem wunderbaren Namen Reinoldus–Haus, in dem Bedürftige einkauften, in einer zweigeteilten Passage, Lebensmittel und Kühlraum in der einen Hälfte, vornehmlich Kleidungsstücke in der anderen Hälfte. Die nächste halbe Stunde verwendete Max darauf, seine Emilie in Kleiderfragen zu beraten und ihre Farben in den getragenen Stoffen zu finden. Lila und kräftiges Blau waren ihre Lieblinge. Für den nahenden Winter waren nicht viele Kleidungsstücke in ihrer Größe zu finden. Ihren farblichen Vorlieben konnte er nicht nachkommen. Karos fanden sich, das schreckliche Beige, ein mysteriöses Braun, viel Einfallsloses, eben Aussortiertes. Er beschrieb ihr die Kleidung, auch die Farben wahrheitsgemäß, ehe sie sich für eine Jacke und einen Mantel entschied, für die sie gespart hatte. Gleich auf dem Heimweg trug sie freudig die Jacke, er hatte den Mantel in einer Tüte für sie zu transportieren. Er tat es gern, so lange sie sich freute, und beide nahmen nicht so recht Notiz davon, zu Fuß bis in ihre Straße gegangen zu sein, bis Max ihre Haustür in hundert Schritt Entfernung erspähte. Und dort, davor wartend wie schon etliche Male zuvor, Joseph Mistel, Emilies Bruder, zuweilen aus seiner Zeit als Rausschmeißer im Rotlichtmilieu auch Jupp gerufen, die Daumen irgendwo weit unter dem riesigen Bauch in der Gürtelschnalle eingehakt. Max stoppte. Zerberus' Sohn, dachte er. »Wir gehen noch einen Kaffee trinken«, sagte er zu Emilie, weil er die Peinlichkeit, vielmehr seine eigene, irgendwie zu überwinden suchte, und der Aufenthalt in einem Café, eine gemütliche weitere halbe Stunde, eine Abwechslung sein würde. »Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagte er noch liebevoller. »Und Kuchen essen.«

      »Max?!«, empörte sie sich. »Das ist zu viel.« Im Geist rechnete sie, was es kostete, wenn sie tatsächlich in einem Kaffeehaus echten Bohnenkaffee tranken und Kuchen dazu aßen.

      »Nein, ist es nicht. Heute nicht.« Er hatte eigentlich vorgehabt, sie mit einer gewissen Verve herumzubugsieren, aber sie hatten viel zu lange nicht mehr getanzt, so geriet der Schwung auf dem Ballen ungelenk und seine Führung außer Kontrolle, so dass er sie fast aus den Händen verlor und sie bedenklich nahe an den Bordstein wankte. Prustend vor plötzlicher Anstrengung fing er sie rechtzeitig auf.

      Joseph hatte einen Zeigefinger in seiner linken Ohrmuschel versenkt, bohrte mit viel Finesse darin und vergaß darüber, weshalb er sich vor dem Haus, in dem seine Schwester wohnte, aufgebaut hatte. In dem Moment, in dem Max und Emilie um die Ecke außer Sicht entflohen, war Joseph der Faszination seiner breiten Boxernase erlegen, gab es aber bald auf, denn sie bot, weil drei Mal gebrochen und in jeweils unterschiedliche Richtungen getrieben, seinem Finger am Rand der verknöchert gezackten Nasenscheidewand nicht ausreichend Platz. Während die Heiligers im Café saßen, sich an frühere Zeiten erinnerten und Emilie kaum wusste, wie ihr geschah, jeder von ihnen nach der Tasse Kaffee noch eine heiße Schokolade zum Apfelstrudel trank, gab es Joseph endlich auf und trollte sich in die Kälte der aufziehenden Nacht.

      Kapitel 3: Der liebe Herr Ganter

      »Was heißt, du hast das Geld nicht?« Max trug seine Gefühle offen zur Schau. Er hatte auf dieses Geld gehofft, es gewollt, ja, verdammt, er hatte es verdient. »Du sagst mir, dass du das Geld nicht hast?!«

      »Ich hab's nicht«, gestand Maria Deller wieder. Zum fünften Mal? Zum sechsten?

      Max Heiliger hatte es nicht gezählt, wusste aber sehr wohl, dass seine Frage durch das hohe Treppenhaus hallen musste, den Treffpunkt, von Maria Deller selbst gewählt, um ihn so – Max konnte es nur vermuten – von Dummheiten abzuhalten. »Du sagst mir, dass du nicht nur nicht die vereinbarte Summe vollständig hast. Du hast erst recht nicht das Doppelte?« Er hielt inne, einen kalten Blick auf Maria Dellers Geierfratze gerichtet. Sie hatte ihr Wintercape übergezogen und stand ein paar Stufen über ihm. So wie er sich von ihrem Auftreten bedroht fühlte, wie sie so gemein und siegessicher auf ihn herab blickte, konnte er nicht anders, als den nächsten Satz abzufeuern. »Du sagst einem Mörder, dass du ihn nicht bezahlen willst?«, zischte Max in wohl dosierter Lautstärke, die so eben bis zu seiner Auftraggeberin reichte.

      Das Treffen fand am helllichten Tag in einem Mietshaus statt, wie es sie in ihrer Gegend noch zuhauf in Keysaburg gab. Vor dem ersten Weltkrieg erbaut, von den Bombardements verschont, da das Kleinstädtchen im Teufelsdreieck von Dortmund, Bochum und Hagen übersehen worden war, waren die Häuser dennoch mehr Abrissgebäude als wirklicher Wohnraum. Heute waren kaum Alteingesessene, ganz bestimmt keine jungen Menschen in ihnen zu finden. Max und seine Emilie hielten in einem der besseren Häuser die Stellung, kriegerisch gesprochen, weil Ratten sich neue Territorien eroberten, und diese wiederum von Wanderarbeitern vertrieben wurden, die eine Saison dort hausten, nicht einzogen und nach wenigen Monaten wieder verschwunden waren. Maria Dellers Haus, in dem sie nach eigener angeberischer Aussage nicht allein wohnte, das ihr nämlich auch gehören sollte, hatte von außen den Anschein, als stehe die Abrissbirne schon