Der kleine Mordratgeber. Michael Nolden

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Название Der kleine Mordratgeber
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738002799



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hier wohnt. Wohnen soll«, verbesserte er sich. »Den Ganter Jordan, Jordan Ganter, den suche ich. Aber ich glaube ...«

      »Ja, der Herr Ganter«, sprang sie ihm mit einer furchtbar schönen Herzlichkeit ins Wort, die sich nicht als Heuchelei entlarven ließ. Sie war perfekt einstudiert und bis zu den Grübchen und kleinen Augenfältchen überaus ästhetisch gestaltet. »Der liebe Herr Ganter. Einer unserer Liebsten. Aber sicher, sicher, er hat sie angekündigt. Sie interessieren sich für unsere Heimstatt?« Das Schneeweiß in ihrem Gesicht erinnerte vor der mattierten Oberfläche ihrer makellos porierten Haut an ein Haifischgebiss. »Das hat er gesagt.«

      »Hat er?«, fragte Max überrascht und fühlte die Faust im Körperinneren, die sich unerbittlich um seinen Magen schloss. »Nun«, sagte er.

      E wie Eloquenz. F wie Floskeln. F wie Freundlich. H wie Harmlos. N wie Nett und Nettigkeit. Es war das Bild, das zählte. Sein und Schein. Der Schein blendete. So wie hier, fand es Max Heiliger bestätigt. Eine Fassade sollte indes, so zog Oberst a. D. Utz Entle ein häufiges Resümee, nicht als solche erkennbar sein. S wie Schauspiel. Ein schauspielerisches Talent ging einher mit Eloquenz, dem taktischen Gebrauch der Sprache. Gebärde verband sich mit Wortspiel, konstruierte eine andere Persönlichkeit, zur Tarnung, schwächer, stärker, ganz nach Bedarf, aufgrund von Training, nicht aus dem Handgelenk, aus Impulsivität heraus – »verboten, verboten, verboten«, der Oberst schrieb es in der Tat dreimal.

      Noch hielt die Unsicherheit Max Heiliger einige Sekunden lang gefangen und beherrschte ihn. Du hast getötet! Die T–Laute im letzten, dem brutalen Wort spuckten hart über die Zunge. Die Anklage, der heimtückische Angriff des Gewissens aus dem Hinterhalt, in dieser Situation bewirkte das vom guten Heiliger erwünschte Gegenteil. Der böse Heiliger, der Macht erfahren hatte, der das Stöckchen wie ein Opale schwang, richtete sich auf, drückte das Kreuz heraus, hatte Rückgrat. »Hat er?«, fragte er wieder, und es klang nach einem anderen Menschen, der Max Heiliger ungemein gut gefiel, da er sich nichts gefallen ließ, keine Angst hatte und aus jeder Höhe auf andere Menschen herabsah. »Vielleicht«, meinte er weiterhin lockend. »Überzeugen Sie mich.« Aus Max sprach ein Charmeur, seine äußere Erscheinung mit den eingefallenen Wangen, den silbrig glänzenden Bartstoppeln, den, hingegen aller Erwartungen, sehr wachen Augen, erwartete eine Antwort auf die Aufforderung.

      Fritzelshues reagierte mit offensichtlichem Erstaunen und einer kurz aufblitzenden Abneigung. Forsches Verhalten widersprach ihrem Bild von Alter und Untergebenheit, glaubte Max Heiliger. Er arbeitete noch an seiner Menschenkenntnis. »Können Sie meinen Freund ausrufen?«

      »Er wartet auf Sie im Wintergarten«, gab sie zur Antwort, der eine roboterhafte Armbewegung nach links folgte, wo ein Schild auf den Wintergarten und noch mehr Glas hinwies und ein weiteres Schild den Aufdruck »Nur für Besucher« trug. »Bitte.«

      Max Heiliger senkte das Kinn zum Dank, nickte nicht, denn Demut stand dem bösen Max nicht zu Gesicht, das Humpeln schon, mit einem energischen Schritt und dem teuflischen kleinen Klacken der Metallspitze auf die Bodenkacheln aus Terrakotta.

      Jordan Ganter oder der Ganter Jordan, wie sie sich in ihrer Altersklasse gerne riefen, als sei der Nachname eine Art Markenzeichen, eine Abgrenzung zu anderen Vierteln, als diese noch eine tiefer gehende Bedeutung hatten, dieser Ganter erwartete Max tatsächlich im Wintergarten, ziemlich zentral auf einem Korbstuhl an einem Korbtisch, umringt von mehr glänzenden Plastikpflanzen und einer Schwüle, die nicht zu einer pflanzenlosen Umgebung passen wollte. Max brach der Schweiß aus. Er nahm gegenüber von Jordan Ganter auf einem Korbstuhl ohne Lehnen Platz. Aus dem Taxieren des jeweiligen Gegenübers ging Ganter als Verlierer hervor. Max nannte seinen Namen nicht. »Wäre ein anderer Ort nicht passender für ein Gespräch?«, fragte er stattdessen.

      Ganters Finger tänzelten über die Tischplatte wie über eine unsichtbare Klaviatur, unmelodiös, unsicher.

      Max beugte sich vor und hielt dem anderen Mann die Finger fest. »Keine Sorge«, sagte er.

      »Wir reden nicht hier. Ich wollte sie nur sehen. Wissen, wie Sie aussehen. Ob Sie für den – ob Sie das können.« Jordan Ganter hatte einen ungewöhnlichen Wuchs. Unter einer Hausjacke zeichnete sich eine leichte Wölbung über der rechten Schulter ab, die eine Täuschung oder ein flacher Buckel sein konnte.

      »Ja, ich kann«, sagte Max Heiliger mit fester Stimme.

      Ganter schaute sich um. Sein Blick streifte an den beiden Überwachungskameras vorbei, die jeden Winkel des Wintergartens erfassten. »Ich habe, wir haben«, korrigierte er sofort, »wir haben Ihnen einen Brief geschrieben. Da steht alles drin.«

      »Und wenn ich Fragen habe?« Max brauchte den anderen Mann nicht mehr festzuhalten. Dieser hatte sich inzwischen selbst im Griff.

      »Finden Sie darin auch eine Telefonnummer. Die ist save«, sagte Ganter.

      »Save?«

      »Sicher. Sie ist sicher. Das hab ich noch von früher, da, wo ich gearbeitet hab, beim Engländer, privater Sicherheitsdienst, wissen Sie? Manches bleibt einfach hängen. Es hört keiner mit.« Ganter sah sich jetzt mit zwangloserem Gehabe um. Zu den Kameras, ganz besonders zu den Kameras.

      »Übertreiben Sie's nicht«, befahl Max.

      Jordan Ganter hörte damit auf, es zu übertreiben. »In dem Brief ist eine Beschreibung, ein Bild von – Sie haben sie schon gesehen, denke ich, aber zur Sicherheit haben wir ein Bild beigelegt, ein älteres wohl, einen Weihnachtsgruß von ihr – ja, ich bin still«, nuschelte er und fuhr beherrschter fort, »und«, Ganter legte eine bedeutungsschwere Pause ein, »eine Anzahlung. Der Rest bei ...«

      »Lieferung.« Er klopfte seinem neuen Auftraggeber auf den Handrücken. »Dann haben wir alles«, lächelte Max Heiliger. »Vorerst. Jetzt sollten wir, wir haben ja noch Zeit, wir sollten noch etwas – Smalltalk machen, bevor wir auseinander gehen.«

      »Smalltalk«, wiederholte Ganter amüsiert. »Gern.«

      Max Heiliger blieb noch eine Stunde bei Jordan Ganter im Wintergarten und den falschen Pflanzen sitzen. Er genoss das Gespräch mit dem anderen alten Mann, in dem sich so viele gemeinsame Erinnerungen aus einer getrennten Vergangenheit fanden. Beide suchten nach dem Zeitpunkt, der sie aus der Geschichte entlassen hatte, das verhängnisvolle Jahr, den Monat, die Woche, den Tag oder sogar die Minute, als sie von allem und jedem überholt wurden und sie nicht mehr Schritt halten konnten mit der Welt. Oder wollten. Ganter nahm an, eine Woche in den 90ern trage die Schuld. Damals war seine Frau gestorben. Schnell. Nach einem banalen Treppensturz kam sie mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus. Die Ärzte retteten das Bein. Unerwartete Keime, gegen die keine Verteidigung existierte, rafften sie binnen Tagen dahin. Ein Teil des Schadensersatzes, den das Krankenhaus nach einer malträtierenden Verhandlungsdauer vor Gericht zahlte, ein kläglicher Rest, der geblieben war, wie Jordan Ganter verschwieg, war Teil von Max Heiligers Entlohnung. Max suchte unterdessen nach seinem Wendepunkt, der sich einer Eingrenzung verweigerte, und am Ende schien es Max, als habe das Leben ein Komplott gegen ihn geschmiedet oder Gott und Teufel in einem ähnlichen Treffen wie dem ihren, als sie darum wetteten, wie viele Tritte es brauchte, um ihn umzuwerfen wie einen drittklassigen Kegel. Wenn ihr es schafft, komme ich zu euch, drohte Max Heiliger. »Da gab es einiges«, grummelte er mitleidig, »aber nicht so Schlimmes wie bei Ihnen.« Das war aus Selbstschutz gelogen. Max wollte weit zurückliegende Ereignisse nicht mehr ausgraben. Der Schmerz ließ sich nur verdrängen, nicht mit ihnen zusammen beerdigen, wie er einst gehofft hatte. Die Erinnerungen wurden zu intensiv.

      Sie verabschiedeten sich.

      Gebeugter als sonst schlenderte Max nach Hause, vor sich hin summend, ein alter Gassenhauer lag auf seinen Lippen, eine Analogie zum Pfeifen in der Dunkelheit. Ein schnell dichter werdendes Schneegestöber in diesem unwirklichen November verschluckte die Melodie erbarmungslos. Daheim, auf der Treppe in den dritten Stock, kündigte sich das Verhängnis mit einem penetranten Geruch an, billigem Aftershave, dessen Dunstwolke Max beinahe spürbar durchquerte, einen unsichtbaren Bannkreis, in dem er sich Schritt für Schritt auf die folgende Begegnung wappnete. Er schloss die Wohnungstür auf. Von drinnen erschallte das stets laute Organ von Joseph Mistel, Emilies Bruder, aus der Küche, eine Tournee von Schimpfereien, nur pausiert durch Schluckgeräusche, aus denen