Der kleine Mordratgeber. Michael Nolden

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Название Der kleine Mordratgeber
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738002799



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erklungen war. »Joseph?«

      »Nein«, antwortete Max schnell. Wieder duckte er sich. »Nein, bestimmt nicht«, sagte er eindringlicher, weil er nicht über seinen Schwager sprechen, noch ihn sehen oder hören wollte. Max Heiliger verabscheute seinen Schwager Joseph in dem Maße, wie seine Frau Emilie ihren Bruder abgöttisch liebte. »Da ist kein Joseph«, erklärte Max weniger ruppig als zuvor und schirmte seine Frau gegen die Richtung der Feststellung über Cornelius Dellers Zustand mit dem Körper ab. Einzig die Art und Weise, wie über den Stiefsohn von Maria Deller gesprochen worden war, versöhnte ihn ein wenig mit der unangenehmen Situation. Er selbst horchte, ob sich jemand, schlimmstenfalls Joseph, näherte. Hinter seinem Rücken geriet nichts in zusätzliche Bewegung und Max atmete auf. Nach einer kurzen Weile gestattete er sich einen Blick über die Schulter und ins Rund, entdecken konnte er die bizarre Leibesfülle des ungeliebten Schwagers nicht.

      »War ja klar«, meinte eine Frau mit Kopftuch und Mantel in der Nähe. »Musste doch. Wär doch nicht zu glauben, wär's anders ausgegangen.«

      Max nickte sachte. Wenn nicht er, dann jemand anderes. Irgendjemand hätte das Urteil, nein, die Vision der Gemeinschaft vollstreckt. Cornelius Deller, der Mann, der mit Alteisen nach Kindern warf, alte Frauen anspuckte und Hunde schlecht behandelte. Wie sollte solch ein Mensch denn sonst enden? Als Monster fassten viele in der Nachbarschaft den Verstorbenen zusammen. Andere formulierten es weniger schmeichelhaft.

      Über den automobilen Überbleibseln vergangener Technikgenerationen erhob sich eine feingliedrige Silhouette, die sich bei genauem Hinsehen als Kran entpuppte, stark genug, um die ausgemusterten Straßenfahrzeuge auf dem Schrottplatz ihrer vorläufigen Ruhestätte zuzuführen. Der Ausleger war relativ kurz, deckte nur einen geringen Radius ab und musste bei Bedarf auf einem Kettenlaufwerk an andere Stellen verbracht werden.

      Cornelius Deller hatte nach Aussage seiner Stiefmutter, offiziell gegenüber den Beamten der Kriminalpolizei, nur wenig Gebrauch von dieser Funktion gemacht. Eigentlich konnte sie sich nicht erinnern, ihn jemals weiter in Bewegung gesehen zu haben, als seine stationäre Position erlaube. So übersetzten es die Beamten. Präzise gesagt hatte sie: »Der stand schon immer da.«

      Wer innerhalb der metallenen Gassen flanierte und die Autowracks betrachtete, die sich seitwärts türmten, dem wäre diese Tatsache sofort aufgefallen. Der äußerliche Zustand deutete nicht auf eine Veränderung des Bestandes in den letzten Jahren hin. Allein die Baujahre der hier deponierten Fahrzeuge lagen derart lange zurück, dass keiner der Polizisten, die an diesem Tag auf dem Schrottplatz nach bestem Wissen und Gewissen ermittelten, bei ihrer Konstruktion schon auf der Welt gewesen waren. Ebenso verhielt es sich mit den Pkws um den Kran. Dennoch hatte sie jemand in den letzten Monaten bewegt. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Bei einer dieser Arbeitsgänge, so rätselhaft sie auch auf den ersten Blick anmuteten, war eines der rostigen Relikte zu Dellers Unglück zu seinem zeitweiligen Sarg geworden. Oder auch zu einer metallenen Zudecke, wie einer der Polizisten scherzte. Der Rüffel eines Beamten von der Kriminalpolizei brachte den Mann zum Schweigen. Die erwünschte Betroffenheit sprang von einem zum anderen.

      »Was'n das?«, brummte jemand, sobald die Kette des Krans anzog und mit bemerkenswerter Lautlosigkeit einen ehemaligen Pkw in die Höhe hob.

      »Ein Kadett«, flüsterte Max Heiliger.

      Nur Emilie verstand, seit Jahren darin geübt auch die leisen Töne zu vernehmen, die Worte ihres Mannes. Zuordnen konnte sie diese indes nicht. »Max?«

      »Ein Kadett«, wiederholte Max hin zu ihrem Ohr gebeugt. »Ein rostroter Kadett. Sie ziehen ihn gerade mit einem Kran hoch.« Er hoffte, er verriete sich nicht mit seinem gepressten Tonfall.

      »Einen rostroten Kadett? Du hattest früher einen rostroten Kadett. Warum ziehen sie ihn hoch?«, wollte Emilie wissen. Die Frage war naheliegend.

      Max hätte sie ihr beantworten können, hätte er sich selbst ans Messer liefern wollen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er ihr folgerichtig. »Ich weiß es nicht.«

      »Können wir jetzt gehen? Es ist zu kalt fürs Herumstehen. Da hätten wir daheim rumsitzen können. Das wär wärmer gewesen. Wenn wir nicht zum Laden gehen.« Emilies Stimme verfiel in den Nörgelton. Den hatte sie bereits in ihrem sehenden Leben beherrscht. In der Rückschau klang Max' vornehme Schwiegermutter in ihr durch.

      »Noch nicht. Gleich. Nicht mehr lange«, beschwichtigte er seine Frau. »Wir gehen zum Laden«, sagte er, obwohl es ihn nicht dorthin zog. Das beharrliche Verschweigen der offiziellen Bezeichnung des Ladens machte es nicht leichter.

      Die Karosserie des ausrangierten Automobils schaukelte sanft an den Ketten hin und her. Der Kranführer zog den Kadett noch ein wenig höher und drehte ihn dann aus dem Gefahrenbereich darunter, wahrscheinlich aus dem Grund, damit die Polizisten sich an den Flecken Erde trauten – ein Unfall mit diesem schweren Gerät genügte – wo das Wrack vormals im Matsch versunken war, mussten sie doch mittlerweile vor Augen haben, was das Gewicht des Fahrzeugs mit den sterblichen Überresten von Cornelius Deller angerichtet hatte. Max selbst haftete der Anblick noch im Gedächtnis, denn er hatte den Wagen nach dem ersten Fall auf Cornelius Dellers Leiche erneut hochgezogen, bevor er ihn wieder, aus größerer Höhe diesmal, auf den Toten fallen ließ. Nur auf diese Weise, so hatte es sich Max dank seiner Lektüre von »Der kleine Mordratgeber« gedacht, zerstörte er die Spuren seiner Stichattacke nachhaltig. Kein noch so gewiefter Pathologe fände Schnittspuren in einem derartig deformierten Leib. Selbst ohne den Motor reichte das Gewicht des Kadett aus, um Deller bis zur Unkenntlichkeit ... Max Heiliger beendete den Gedanken rechtzeitig, bevor sich die Bilder im Geiste manifestierten. Jetzt mussten die Polizisten um den Toten herumstehen, fassungslos vielleicht, das Fehlen von Spuren verdammen. Selbstverständlich hatten sich Fußspuren vollkommen verflüchtigt. Einer übergab sich vielleicht, seitlich des Tatorts natürlich, gerade so weit davon entfernt, wie er es mit seinem rebellierenden Magen noch schaffte. Dieser konnte auf die weiteren Spuren stoßen. Oder ein anderer Beamter, der sich fragte, was Cornelius Deller wohl an diesem Ort gesucht hatte, entdeckte eines der Verstecke unter dem Morast. Es spielte keine wirkliche Rolle, wie sie es fanden. Hauptsache war, es stützte die Theorie eines Unfalls. Aus dem ersten Versteck der Kupferteile ergaben sich weitere. Ein Hehler war bei seiner Arbeit ums Leben gekommen, würde das Fazit letztlich lauten. Cornelius Deller, so hatte Max sich seine eigene Theorie gebaut, hatte sich in das Führerhaus des Krans gesetzt und den Kadett in die Höhe gezogen. Zur Kontrolle seiner Bestände war er an die Falltür herangetreten. Ein Materialfehler in der Winde des alten Krans und ein Ausfall der Lastenbremse hatten für den Sturz des Kadett gesorgt. Den Schlüssel für den Anlasser hatte Max stecken lassen. Der Motor tuckerte, so war es beabsichtigt, die restliche Nacht vor sich. Entweder bis der Treibstoff zur Neige gegangen war. Oder bis ihn jemand am Morgen abgestellt hatte. Deller war – die Beamten mussten einfach zu dem Schluss gelangen, betete Max Heiliger inständig – sofort verstorben. Max hatte Dellers Kopf gesehen und hoffte, dass seine Theorie mindestens in diesem Bereich stimmte. Der selbsternannte Auftragsmörder, wie es in Max' Hinterkopf spöttelte, hatte es nämlich vermissen lassen, sich nach dem Stich in Cornelius Dellers Brust von dessen Tod zu überzeugen. Viele Handgriffe, so überlegt im Vorfeld und aus der beruflichen Vergangenheit ins Bewusstsein gezerrt, waren während des Tathergangs in ziemlicher Überstürzung erfolgt. Einzig hatte Max zu jedem Zeitpunkt darauf geachtet, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

      »Was geschieht denn?« Resignation unterstrich Emilies Worte.

      »Sie haben offenbar was gefunden«, entgegnete Max mühselig, um jede Silbe ringend.

      »Was ist? Was hast du?«, fragte sie besorgt und suchte seine Brust mit der freien Hand. Diese senkte und hob sich unter ihrer Berührung in einem panikartigen Stakkato. Ihr Max japste nach Luft. »Max? Sprich mit mir? Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe? Du atmest so ...«

      Er lehnte sich gegen sie, gerade so sehr, wie er ihre Kraft einschätzte und sie ihn zu halten vermochte, schwang den Stock unter seine Achsel, wo er ihn einklemmte. Max legte seine Hand, noch verkrampft von der Umklammerung des Spazierstockes, auf die ihre, ganz bei sich in diesem glücklichen Moment, den ihm niemand mehr nehmen konnte, ganz gleich was noch geschah. »Es ist gut, mein Herz. Es ist gut. Es war nur für einen Moment – jetzt geht's wieder. Es geht wieder.«

      D