Bill & Bill. Xaver Engelhard

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Название Bill & Bill
Автор произведения Xaver Engelhard
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752900934



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Dinosaurier im viktorianischen London und ich hinter den Mülltonnen versteckt spüre den Drachenatem die Straßen runter wehen oder die kalten Tentakeln des Riesenkraken sich um meine Knöchel wickeln; und er sagt, ich habe einfach eine überbordende Fantasie, was er so wenig mochte wie eine blumige Ausdrucksweise, weshalb die Aufsätze, die ich für ihn schreiben musste, sich wie Agenturmeldungen lasen, sobald er mit der Korrektur fertig war: Agenturmeldungen aus einem Traumland! Einem Alptraumland! Keine Adjektive, keine Hypothesen, keine Hypotaxe, aber Autos, die fliegen, Häuser aus Gallert und Indianer, welche die U-Bahn überfallen!

      Und das alles nur, weil Mutter ihr Leben nicht auf die Reihe gekriegt hat! War sechzehn, als sie verschwunden ist; und Großvater und Großmutter haben keinen Schimmer, wo sie steckt, lassen die ganze Küste mit Plakaten zukleistern, heuern ein Dutzend Schnüffler von Pinkerton an, die sich auf ihre Fährte heften; und die Polizei und die Zeitungen spekulieren, dass sie vielleicht Opfer eines Verbrechens geworden ist, misslungene Entführung oder sowas, während das Früchtchen sich auf Haight und Ashbury Street rumtreibt hat, auf Zimbeln klimpert, um Essen bettelt, im Park pennt und sich zu guter Letzt von nem Typen schwängern lässt, der so überhaupt gar nicht zu ihr passt oder zu ihren Eltern und eigentlich auch nicht zu seinem Sohn. Dad! Meine Güte! War sicher nur dort gewesen, um bekiffte Hippie-Mädchen abzugreifen, aber die letzten Reste seiner römisch-irischen Proletarierehre gebieten ihm dann, sie zu heiraten. Nicht am Strand, aber immerhin barfuß unter einer Blumengirlande auf der Lichtung von dieser Kommune in Oregon, die am Ende nur noch von Mutters oder besser gesagt Großmutters Geld gelebt hat! Dad mit Vollbart, sie mit dickem Bauch, beide mit einem doofen Grinsen im Gesicht, als könnten sie immer noch nicht ganz glauben, was ihnen da gerade passiert. Sie kann nicht älter als 18 gewesen sein, und sie ist eine Frau, fast schon eine Mutter, aber man merkt es nicht. Sie weiß es nicht, dabei ist das Blut längst über sie gekommen und der Mond, der alles regiert, was träge ist und nährend, die Frauen und die See, wie Großvater sagt, der eine Reedereierbin geheiratet hat. Sie trägt ein schönes altes Kleid, das sicher vom Flohmarkt stammt; und die Locken fallen ihr ins Gesicht; und sie hält einen Fliederzweig in der Hand; und Dad mit einer runden Sonnenbrille wie Lennon und Pranken wie ein Hühnerwürger legt grinsend den Arm um sie; und sie weiß nicht, und das tun sie nie, bis es zu spät ist, und Großvater sagt, er hat nur versucht, sie vor sich selbst zu schützen, weil er wusste, wie zart sie war, wie gefährdet, sie, die vermutlich immer noch schneller Ski fährt als die meisten Männer; und sie rennt weg von ihm und landet ausgerechnet bei Dad, der keinen Deut besser ist und genauso paranoid und pedantisch, aber wenigstens indische Hosen trägt; und ich bin sicher, er war der einzige, der in dieser verdammten Kommune überhaupt gearbeitet hat, der überhaupt wusste, was harte, tägliche Arbeit ist, während die anderen dachten, es reicht, zu kiffen und zu vögeln, der Herr wird’s schon richten, was auch zwei Sommer und einen Winter lang gut ging, bis dieser angeblich kommunistische Haufen auch mit den Geldspritzen der bourgeoisen Puppe in seiner Mitte nicht mehr am Leben zu halten war und die junge Familie beschließt, das Experiment abzubrechen und dahin zu gehen, wo Dad herkommt und wo er jederzeit wieder einen anständig bezahlten Job kriegen kann; und ich kann mir nur allzu gut vorstellen, was für ein Schock das für sie gewesen sein muss, Dads Welt, wo sie Bäume zersägen, Hirsche erschießen, Bier saufen und Frauen schlagen, als würde eines mit dem anderen zusammenhängen, eines das andere bedingen; und sie flieht wieder und setzt mich bei Großvater ab, weil sie ahnt, nicht weiß, nur ahnt, dass ich irgendeine Art von Erziehung brauche und Anleitung und Vorbild und dass man Kinder nicht einfach aufzieht wie kleine Katzen, die man gelegentlich füttert und ansonsten dem Fernseher und Mutter Natur überlässt.

      Ich meine, er war immerhin Kriegsveteran und Marineoffizier, und das hat man immer noch gemerkt, auch wenn er seit seiner Entlassung hauptsächlich Großmutters Geld verwaltet und vergeudet hat und seine Rosen verhätschelt, und mit mir macht er es im Grunde genauso, er stutzt mich, damit ich später um so schöner blühe, und bringt mir Tischmanieren bei und ein bisschen Boxen und vor allem Krocket, was viel edler ist als Golf, weil man damit kein Geld verdienen kann, nicht einmal ein Stipendium; und ich habe den Verdacht, dass er es einfach mit Kricket verwechselt hat und später zu feige war, das zuzugeben, falls er es überhaupt gemerkt hat. Jedenfalls waren ihm Fitness und Anstand das Wichtigste, viel wichtiger als schulische Erfolge, um die sich nur charakterlose Streber und Emporkömmlinge bemühten, die es sonst aus Mangel an wahren, angeborenen Qualitäten zu nichts bringen. Wie bei den Rosen war bei Kindern die Züchtung das Entscheidende, und dann kam es nur noch darauf an, dass sie gut gedeihen können und sich entfalten vom Mehltau der Moderne unbehelligt, ohne Radio und ohne Fernseher bis auf das Schwarz-Weiß-Gerät in Bessies Küche, das Guckloch in die Hölle, wie er es nannte. Eine Hölle, in der es immer schneit, so sehr flimmert das Bild! Comics immerhin waren erlaubt, vielleicht, weil er sie aus seiner eigenen Kindheit kannte und die Krazy Kids immer noch liebte, vielleicht einfach, weil es unter seiner Würde war, sich mit ihnen zu beschäftigen. Er hat eine Menge über Militärgeschichte und Pflanzenzucht gelesen und drei Zeitungen für seine Investitionen abonniert, die immer daneben gingen, was ihn aber nicht störte, weil Geld vulgär war und ohnehin nicht seins. Rechnen war etwas für Krämerseelen, die es nötig hatten. Wer auf sich hielt, konnte kaum mehr als Lesen und Schreiben und hatte höchstens noch einen gediegenen Verstand, was immer das war, jedenfalls nichts, was man auf der Schule hätte lernen können, wo nur Respektlosigkeit und Relativismus unterrichtet und haufenweise unnötiges Wissen eingetrichtert wurden, das die natürliche Grazie, den angeborenen Adel entstellt und die Kinder ihren Wurzeln entfremdet und in willenlose Roboter und Arbeitssklaven verwandelt, denen Rosen und Kitchener egal sind. Und Großmutter fürchtete die modernen Krankheitserreger im Klassenzimmer, denen auch mit Toddys kaum beizukommen war; und man vermisst es nicht, wenn man es eh nicht kennt, denn ich wusste ja nicht, dass man eigentlich das Haus verlässt und mit anderen in die Schule geht, und als ich nach ein paar Jahren doch auf ein Walldorf-inspiriertes Privatinstitut für Problem- und Spezialfälle komme, bin ich kaum schlechter als die anderen, denn die haben ihre Kindheit mit Wachsmalkreiden und Klanghölzern zugebracht und können ihren Namen besser tanzen als schreiben, während ich längst orthographisch korrekt, wenn auch völlig benebelt aus einem Märchenland jenseits des vertrauten Raum-Zeit-Kontinuums berichte und mir wegen meiner Noten keine Sorgen zu machen brauche, weil egal, was passiert, Princeton nimmt mich eh wegen der Spende von Urgroßvater, und wenn ich damit fertig bin, gehe ich an die Wall Street und verkaufe Anleihen oder Aktien oder sowas, was in Ordnung ist, so lange ich mich nicht daran verliere und nicht vergesse aufzuhören, sobald ich ein Vermögen gemacht habe und mich wesentlichen Interessen widmen kann wie Rosen oder Kitchener oder einem Setter wie Sam, irgendwas, Hauptsache, ich werde nicht von Gier getrieben, Ehrgeiz oder praktischen Interessen und entkomme dem Räderwerk der Zeit und lasse mich nicht zerfleischen, denn nichts bildet den Gentleman wie die Muße; und ich helfe ihm dabei, bin sein Lehrling, und reiche ihm die Scheren, Messer, Schaufeln und Sprühbehälter für die Rosen, schleppe seinen Fotoapparat mit dem Holzstativ, frisiere Sam, setze ihn ins Licht und sorge dafür, dass er stillhält während der halben Sekunde, welche die verdammte Plattenkamera für eine Aufnahme braucht, und schreibe jeden Tag einen Aufsatz, in dem die Abenteuer meines alter egos Superchunk mit Flügeln aus Kodein und Alkohol klingen wie ein Polizeireport.

      Erst Doro hat mir den Zusammenhang erklärt. Dieser verfluchte Hustensaft! Kein Wunder, dass ich lieber krank als gesund war; und kaum bin ich mal gesund, muss ich raus in den Regen und halbnackt ums Haus rennen oder Krocket spielen oder auf den Sandsack einprügeln wie die Große Weiße Hoffnung persönlich, damit ich nur ja schnell wieder krank werde und unter Decken zu liegen komme, die mich erdrücken wie die Arme des Kraken, in einem Bett, das schwankt wie Hucks Floß inmitten einem Dschungel, der über mir zusammenschlägt wie ein grüner Ozean voll Ungeheuern, benommen nicht vom angeblichen Fieber, sondern von dessen Kur, dem unfehlbaren Toddy, dem universellen Heilmittel für Beschwerden körperlicher wie seelischer Natur, das sie sich bei jeder Gelegenheit auch selbst verabreicht hat, und zwar in immer größeren Dosen je mehr von ihrem Geld verschwunden ist bei Großvaters undurchsichtigen Spekulationen.

      Ich frag mich, ob sie Mittagsschlaf macht. Wird sich nicht viel geändert haben daran. Könnte meine Uhr gebrauchen, wünschte, ich hätte sie noch, das Werkzeug deines Henkers, die Streckbank, die dir das Herz zerreißt und jeden Tag das Geständnis abpresst, nichts zu sein und nichts zu wissen, was auf mich irgendwie plausibel wirkte, weil hinter dem Glasboden eine goldene Sichel hin und