Bill & Bill. Xaver Engelhard

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Название Bill & Bill
Автор произведения Xaver Engelhard
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752900934



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Uniformen und schritten als hellblau und türkis gewandete Offiziere eines verwunschenen Märchenreichs auf das Haus zu. „Marine!“, würde der Großvater noch am gleichen Abend voll Verachtung seinem Sohn gegenüber ausstoßen, als erübrige sich jeder weitere Kommentar.

      „Meine Freunde!“, rief Bernardo, der Pierre und Bill seiner Mutter vorstellen wollte, und bekam einen Schreck, als er genauer hinsah. „Ähh … Kameraden!“, verbesserte er sich hastig.

      Der Vater war unterwegs auf den Weiden; der Bruder verkaufte Vieh. Der Großvater humpelte an einem Stock herbei und musterte die Neuankömmlinge abfällig.

      „98“, brummte er, als er die neugierigen Blicke auf seinem steifen Bein spürte, spuckte aus und ließ sich zu keinen weiteren Erklärungen herab.

      „Mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn!“, murmelte die Mutter und klammerte sich mit beiden Händen an Bernardos Arm.

      „Ein tapferer Soldat, dessen größten Talente gleichwohl anderswo liegen!“, behauptete Korvettenkapitän Evian. Zu einem solchen ernannte sich Bill spontan, als sich der Großvater nach seinem Dienstrang erkundigte. Den lustigen Tressen auf seinen Schultern, die stark an seine frühere Uniform im Kasino erinnerten, war beim besten Willen keine Information abzulesen.

      „Und ihr Akzent, wenn die Frage erlaubt ist?“, hakte der misstrauische Alte auf dem Weg ins Haus nach. „Ich glaube, einen leichten Akzent in Ihrer Stimme zu hören.”

      „Ich bin mit meinen Eltern vor Jahren aus England eingewandert.“ Bill war von den Vorurteilen, die in Bernardos Familie bezüglich der Amerikaner herrschten, unterrichtet. „Ich hoffe, durch den Offiziersdienst meinem neuen Vaterland seine Gastfreundschaft wenigstens teilweise vergelten zu können.”

      Der Großvater nickte, baff erstaunt angesichts dieser Anmaßung und eines weiteren Indizes für den Niedergang der einst so stolzen Marine seines Landes, die inzwischen offenbar nicht einmal mehr davor zurückschreckte, Nachfahren des verfluchten Drakes in ihren Reihen aufzunehmen.

      Die Frauen sorgten für zusätzliche Verwirrung. Da eine von ihnen Mestizin war und sich der Großvater nicht vorstellen konnte, dass es sich bei ihr um die Verlobte eines Offiziers handelte, wurden sie wie Mätressen behandelt und in einem Nebengebäude untergebracht, während man den beiden Männern Zimmer im Haupthaus zuwies.

      Die Dunkelheit fiel wie das Tuch des Häschers unversehens aus dem Himmel und brachte die Vögel zum Verstummen. An ihrer Stelle lärmten jetzt die Baumzikaden und übertönten jedes Geräusch außer dem gurgelnden Quieken des für das Festmahl bestimmten Ferkels, das neben dem Stall mittels eines Dreibeins an den Hinterläufen hochgezogen wurde und noch mit durchgeschnittener Kehle heftig über der Zinkwanne zappelte, in die sich sein Blut ergoss.

      Die Schläge der Köchin gegen eine grobe, vom Hufschmied verfertigte Triangel riefen die Gäste, die sich nach der langen Fahrt und einer unter den gegebenen Umständen eher oberflächlichen Wäsche auf ihren Zimmern ausgeruht hatten, in den Speisesaal, der bereits von Dutzenden Kerzen an den Wänden und auf der langen Tafel erleuchtet wurde. Massige, aus dunklem Holz gefertigte Möbel standen im Halbdunkel. Die Mutter hatte ein Kleid angezogen, in dem sie deutlich jünger wirkte als noch vor zwei Stunden bei der Begrüßung der Gäste; der Vater war von seinem Ausritt zum Vieh zurück. Sein Gesicht war von der Sonne gerötet, die Brauen so schwarz wie die Augen, das restliche Haar grau meliert. Der Kragen seines weißen Hemds wurde von einer Kordel und einem großen, aus einem Jadestein geschnittenen Stierkopf zusammengehalten, der ihm direkt unter dem Adamsapfel saß. Er empfing die Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und stellte ihnen seinen ältesten Sohn vor, eine etwas größere, dunklere Version Bernardos. Die Gesellschaft nahm Platz und begann schweigend mit dem Mahl, zu dem in schweren Kristallkelchen schwerer Wein aus Spanien gereicht wurde. Und als das über offener Glut gegrillte Schwein mit Süßkartoffeln und Bohnen verzehrt worden war, erzählte Bill den staunenden Eltern, wie er zusammen mit Bernardo während eines Sturms ein Fischerboot aus höchster Seenot gerettet hatte, und strich die Rolle seines Kameraden ganz besonders heraus.

      „Ein Held!“, entfuhr es der Mutter. Ihr Mann wiegte den Kopf, als wolle er sich dieser Einschätzung nicht vorschnell anschließen.

      „Ganz richtig!“, bestätigte Bill entschieden.

      Pierre wandte sich ab und versuchte, den taxierenden Blick des Großvaters zu ignorieren. Ihm war die ganze Angelegenheit längst peinlich. Er war empört über die Kälte, mit der Marianna und Isabella behandelt wurden. Er murmelte eine undeutliche Entschuldigung, als Bill mit Begeisterung zu einem längeren Bericht über ein Feuergefecht zwischen ihrem Kutter und einem schmuggelnden Schnellboot ausholte, ließ den eben servierten Karamellpudding im Stich und schlich nach draußen.

      Fledermäuse wischten an den beiden Petroleumlampen vorbei, die den Hauseingang markierten. Es schien, als wären die Zikaden die Stimme der Stille. Je mehr sie lärmten, desto deutlicher wurde das allgemeine Schweigen, eine tiefe, allumfassende Gleichgültigkeit.

      Mindestens ein Dutzend alter Seekoffer steht neben ein paar Paravents voll Drachen, Vögeln und asiatischen Frauen, einem Holzständer für Samurai-Schwerter, Teekisten, in die chinesische Schriftzeichen eingebrannt sind, einem Haufen Speere und Masken, Regale mit langen Reihen zu Jahrgangsbänden zusammengefasster Fachzeitschriften, darunter die Far East Studies und die Nautical Review, Fotolampen, Leinwände, riesige Plattenkameras samt Zubehör, ein Korb voll Hundeleinen und Halsbändern und außerdem Berge von Pappkartons: manche alt und verquollen, andere ganz neu und jungfräulich weiß. Ein diffuses Licht liegt über allem, das milde Licht der Erinnerung, sagte er, als wenn die Vergangenheit etwas wäre, was man wegpacken könnte, dabei ist sie nicht einmal vergangen, sie ist hier und jetzt und ein ständiger Schmerz, und es soll sich bloß keiner täuschen lassen von dieser scheiß milden Atmosphäre hier oben.

      Ich reiße den Deckel vom nächstbesten Karton auf. Es sind alte Schulhefte, alle aus der Zeit, als Großvater mich unterrichtet hat, und sie sind voll lateinischer und deutscher Vokabeln und Aufsätzen über Geschichten, die er mir vorgelesen hatte, und über Fragen, die ihn interessiert haben wie: Wo wohnt das Bewusstsein? Was sehe ich wirklich? oder Die Pflanzen des westlichen Himalaja und ihre Pflege, und dann bin ich auf die Schule gekommen und wusste nichts und konnte es zumindest sagen, während die anderen es noch nicht einmal ahnten und noch viel weniger formulieren konnten, und ich mache noch ein paar Kartons auf mit einem Jahrzehnt Garden Journal oder Photographer’s Monthly, vor allem aber vergilbten Kontoauszügen und sonstigen Dokumenten finanziellen Ruins. Ich wirble jede Menge Staub auf, der das milde Licht trübt und in den Bronchien klebt, und stoße endlich auf mehrere Schachteln mit Briefen, aber es sind meist Geschäftsbriefe, die an meinen Großvater adressiert sind. Und dann ein Packen Briefe von Mutter, an die ich mich gar nicht mehr erinnere. Ich nehme sie und stelle mich unter eines der Dachfenster. Sie muss schon über dreißig gewesen sein, aber ihr Handschrift war immer noch die eines jungen Mädchens, sauber und schnörkelig.

      Mein lieber, nun schon so riesengroßer William,

      wie sicher auch bei euch hält hier jetzt der Frühling Einzug, und es wird Zeit, die Ski ein letztes Mal zu wachsen und dann bis November in die Ecke zu stellen. Wie sehr ich sie vermissen werde! Ich würde dir so gerne Unterricht geben, denn ich glaube, du bringst das nötige Körpergefühl mit. Vielleicht fehlt es dir an Verwegenheit, aber auch die lässt sich lernen, ob du es glaubst oder nicht.

      Franzl hat mit seinem Hubschrauber-Geschäft ziemlichen Erfolg und schon lange nicht mehr von Österreich geschwärmt, was aber vielleicht auch daran liegt, dass ich mein Bestes gebe, um ihn und die kleine Amy mit Mehlspeisen nach den Rezepten seiner Mutter - diesem grünen Loden-Drachen, aber das muss unter uns bleiben! - zu verwöhnen und mit Lake Tahoe zu versöhnen. Die Mehlspeisen, die Amy ähnlich viel bedeuten wie ihrem Vater, verwandeln sie allmählich selbst in eine, denn sie wird kugelrund und schrecklich süß wie die Germ-Knodels, die sie auf den Hütten in seiner Heimat servieren. Und er ist sich immer noch nicht bewusst, was das auf Englisch heißt! Noch ein Geheimnis, versprochen? Und verrate auch Großmutter nichts davon, denn die macht sich sonst wieder Sorgen und schickt uns Desinfektionstücher und eine Packung Instant-Toddy.

      Wir hatten jedenfalls einen guten Winter, und jetzt bleibt