Amerikanische Odyssee. E.R. Greulich

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Название Amerikanische Odyssee
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847686415



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Städte. Unter den missmutigen Flüchen der Posten hatten sie sich zur Kolonne formiert. Sie marschierten ohne Tritt. Die Gespräche tröpfelten schläfrig.

      In der zweiten Reihe, neben Walter Bauer, trottete Heinz Hesse, und hinter ihnen kamen Necke, Buschinski, Hellmann, Dieck und alle anderen, die sich vorgenommen hatten, wie in McLoin auch im neuen PW-Camp wieder zur Kompanie Wuntrams zu gehören.

      Melancholisch schaute Hesse der kleiner werdenden Wagenschlange nach. Man war also in Massachusetts. Der Name erinnerte an Indianergeschichten. Sanfte Bodenwellen, mit Tannen und Mischwald bestandene Hügel in der Ferne ließen an Deutschland denken. Doch voraus, wohin sich der Heerwurm der achthundert Kriegsgefangenen auf der glitschigen Asphaltstraße bewegte, da lag ein Stück Amerika, wie sie es bis zum Überdruss kannten, eines der tausend Army-Camps, eine kleine Stadt für sich, bis auf wenige Gebäude aus Holz gebaut, auf dem Reißbrett entworfen und wie von Mister Fords Fließband gespuckt. In der Sonne mochten die Baracken weiß strahlen. Der trübe Novembertag gab ihnen die Farbe des grauen Schnees.

      "Weihnachten vierundvierzig also in Fort Heaven", nörgelte Necke, "ich lach' mich tot, wenn wir Weihnachten fünfundvierzig auch noch hier sitzen."

      Keiner antwortete. Sie nahmen ihm das Gerede übel.

      "Seht mal den da", Buschinski wies nach rechts, wahrscheinlich einer von der Army-Zeitung, Stars and Stripes, der unseren glorreichen Einzug filmt."

      Fünfzig Schritte entfernt, stand ein amerikanischer Offizier im schnittigen olivfarbenen Wintermantel. Mit einer Schmalfilmkamera visierte er den Zug der Kriegsgefangenen an. Sie konnten das leise Sirren nicht hören, aber sie sahen den Blick des Objektivs ihre Reihen entlangwandern und Bild um Bild schlucken. Irgendwann würden sie nun in Zeitungsspalten erscheinen oder über eine helle Wand marschieren.

      Einige PWs winkten. Der Offizier machte eine abweisende Geste, lief auf steifen Beinen ein Stück voraus und wiederholte die Aufnahme.

      Aufmerksam äugend, zogen sie in den Ort ein. Trotz des grämlichen Wetters wirkte er sauberer als McLoin mit seinen schwarzen Dachpappebaracken und den Flocken der Fettkohle, die in der Luft tanzten.

      Dieck prophezeite: "Auf uns warten Zelte hinter Stacheldraht."

      "Antinazilager hinter Stacheldraht?" Hellmann hob die Augenbrauen. "Schlechter Beginn einer besseren Zusammenarbeit."

      Sie hatten zwei Kirchen hinter sich gelassen, das Einkaufshaus, die Feuerwehrstation, das Theatergebäude aus rotem Backstein und den villenartigen Offiziersklub; der Ort lichtete sich. Enttäuschtes Murren durchlief die Reihen. Wahrscheinlich würden sie irgendwo in den Hügeln kampieren müssen.

      Dieck sah sich ärgerlich um. "Wann begreift ihr endlich. Versprechungen gehören zur Politik der Amis."

      Über Wuntrams Nasenwurzel zeigten sich zwei senkrechte Falten. Er entgegnete nichts, presste den schmallippigen Mund fester zusammen.

      "Na bitte!" Dieck wandte sich in pessimistischer Genugtuung an Hellmann. Sie marschierten einem hohen Drahtzaun entgegen, der hier und dort von rohgezimmerten Wachtürmen überragt wurde. Das Tor öffnete sich, Posten mit der Aufschrift Military-Police auf dem blauen Ärmelband hatten sich zu beiden Seiten aufgestellt und zählten die Einmarschierenden.

      Die Asphaltchaussee setzte sich als Lagerstraße fort. Der vorausmarschierende Sergeant bog rechts ein und auf dem großen Platz neben einer Spielhalle für Basketball hieß es: Seesäcke absetzen. Fluchend trieben die Posten einige PWs zurück, die sich davonstehlen wollten, um in den verlassenen Barackenstraßen Umschau zu halten.

      Wuntram wurde in die Halle gerufen, dann Buschinski und Kressert, die beide ebenfalls gut englisch sprachen.

      Hellmann betrachtete die Baracken, sein Optimismus schien berechtigt. "Wenigstens keine Zelte."

      "Und den Stacheldraht siehst du nicht, wenn du nicht hinschaust", höhnte Dieck.

      Die ersten dreihundert PWs durften im Gänsemarsch in die Sporthalle. Auf dem hohen Podest an der Rückfront trauerte ein schwarzes Klavier. Die PWs standen in Gruppen herum oder hockten auf ihren Seesäcken. Der aufsichtführende Captain gab sich leutselig. Bald wussten alle, er heiße Shelter, sei der Recreations-Officer und werde also für die Lagerkultur und die Kantine verantwortlich sein. Er war groß und rotblond. Unter den farblosen Augenbrauen blitzten pfiffige Augen in einem breitflächigen Gesicht. Betriebsam kamen und gingen GIs, Corporals und Sergeants, übergaben Shelter Zettel und Listen. Alle trugen den Schlips unter dem zweiten Knopf in die sauber gebügelten Kakihemden gesteckt. Verdrossen warteten die PWs. Unvermittelt rief jemand: "Los, Manne - hau mal in die Tasten!"

      Manfred Schlitt, ehemals Schauspieler am Stadttheater Magdeburg, schaute fragend zu dem Captain hin. Der nickte gnädig. Schlitt stellte seinen Seesack ans Klavier. Ehe er sich setzte, reckte er sich in selbstironischer Künstlerpose und warf die blonden Haare zurück. Dann entlockte er dem schwarzen Kasten die Rhythmen des Chattanooga-chu-chu. Dankbar für die Abwechslung, applaudierten und pfiffen die PWs. Auch der Captain klatschte. Unermüdlich hämmerte Schlitt amerikanische Schlager. In der Halle schien es wärmer und heller geworden zu sein.

      "Jazzt wie ein junger Gott und kann keine Note", sagte Hellmann zu Bauer und Hesse. Hellmann drängte sich zum Podest. Hesse blickte ihm nach. "Typisch Schauspieler - Neid verpacken sie in Lob."

      Bauer sah Hesse nicht an. "Ein bisschen sehr verallgemeinert, hm?"

      Hesse wurde kratzbürstig. "Hellmann geht mir auf die Nerven. Auf der Bühne spielt er besser als im Leben."

      Bauers Lächeln ließ die vom zu wenigen Schlaf geröteten Lidern über den hellen Augen, die strengen Linien seines Gesichts vergessen. "Du selbst hast mir erzählt, was er im Camp Grobber unter den Nazis ausgestanden hat."

      "Mehr aus Dummheit und Schwatzsucht."

      "Andere sprechen zu wenig."

      "Fängst du schon wieder an?" Trotz spiegelte sich im Gesicht Hesses. Er beugte sich nieder und zurrte eigensinnig die Schnur seines Seesacks fester.

      Bauer blieb beharrlich. "Ich wette um eine Stange Camel, dass dir irgendetwas passiert ist, womit du nicht fertig wirst."

      "Achtung!" rief Wuntram, und die PWs in der Halle nahmen Haltung an. Durch die Seitentür in der Nähe des Podiums war ein Oberst eingetreten. Die PWs erkannten in ihm jenen Offizier mit dem Filmapparat. Captain Shelter machte Meldung, dann wandte er sich an die PWs, Camp-Commander Colonel Stircke wolle sie begrüßen.

      Der Oberst las bedächtig vom Blatt. Wuntram übersetzte. Stircke drückte die Überzeugung aus, dass sie sich um eine gute Zusammenarbeit bemühen würden, denn "good will" erzeuge "good feeling". Wohlmeinend erläuterte er, dass er alle PWs als deutsche Soldaten betrachte und demgemäß Disziplin und soldatischen Gehorsam erwarte. Bei der Abreise von McLoin, Mississippi, sei ja wohl darauf hingewiesen worden, dass hier im Nordosten der Vereinigten Staaten ein neues Lager aufgebaut werde, und deshalb sei alles noch ein wenig provisorisch. Sicherlich hätten sich schon die meisten für bestimmte Kompaniesprecher entschieden, deren endgültige Wahl in demokratischer Abstimmung erfolgen werde.

      Nun beginnt der Wirbel des Lageraufbaus, dachte Bauer, und da werden Wochen vergehen, bis ich mit Hesse wieder einmal in Ruhe reden kann. Wenn mich nicht alles täuscht, hängt seine flaue Stimmung mit der Quetschmühle zusammen. Von dort ist er nach McLoin gekommen. Schorsch Buschinski hat mir von diesem Fragelager bei Washington erzählt. Aber Hesse spricht nicht darüber. Schade, es würde ihm helfen - bestimmt könnten wir ihm helfen.

      Hesse mochte Bauer, doch dessen väterliche Art reizte ihn immer wieder. Die Bemerkung des Älteren führte Hesses Gedanken weit fort von der Ansprache des Colonels. Wenn ich reden würde, dann nur mit Bauer. Aber ich kann es nicht. Ich wäre für ihn erledigt. Er hält etwas von mir. Das ist so seit damals auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Bauer hat einen guten Riecher, und er hat schnell gespürt, dass mich nichts so ankotzt wie Arschkriecherei, wozu einzige Söhne gut situierter Eltern oft neigen. Bauers Offenheit hat mich überrannt. Was ich mir unter einem Kommunisten vorgestellt habe, trifft auf ihn nicht zu. - An die schrecklichen Untermenschen, wie die Nazis sie malten, wollte ich nie so recht