Amerikanische Odyssee. E.R. Greulich

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Название Amerikanische Odyssee
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847686415



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Hesse sahen, dass sie heute nicht in aller Ruhe einkaufen konnten, und wandten sich ab vom Getümmel. Vor der Baracke Kresserts sagte Hesse impulsiv: "Du wirst es erleben, dass du zu schwarz siehst."

      "Hoffentlich." Kresserts rundes Gesicht unter dem hellblonden Haar sah nicht hoffnungsvoll aus.

      Der Lagerbibliothekar Kuhn begrüßte Hesse am nächsten Morgen herzlich. Kuhn gehörte wie Ede zum Jahrgang neunzehnhundertneun. In seiner langsamen, bedachten Sprache war das harte R der Wasserkante unüberhörbar. Vom Tag der ersten Ausleihe an gehörte Hesse zu den Stammkunden der Bibliothek. Bei Literaturgesprächen waren sie sich nähergekommen. Kuhn bedauerte es nicht, dass ihm Shelter indirekt den Gehilfen Hesse beschert hatte. Eine Bücherkartei musste angelegt werden, ebenso eine Leserkartei. Kuhn hatte sofort nach dem Eintreffen der ersten Bücherkiste mit dem Ausleihen begonnen. Der Buchbestand war inzwischen beachtlich gewachsen. Der YMCA, der christliche Verein junger Männer der USA, nahm die kulturellen Belange der Kriegsgefangenen ernster als Captain Shelter. Für jede Bücherkiste bedankte sich Kuhn mit einem Brief, nörgelte nicht, sondern machte behutsam auf die Besonderheit des Lagers aufmerksam. So kam auch langsam ein Bestand zusammen, den Kuhn den "Schatz" der Bibliothek nannte. Es waren Werke, in der Aurora-Bücherei erschienen, von antifaschistischen Autoren wie Weiskopf, Seghers, Kisch und Balk. Außerdem wurden für deutsche PWs Lizenzausgaben des Querido-Verlages und des Verlages S. Fischer gedruckt, Bücher von Autoren wie Thomas Mann, Brecht, Werfel sowie Übersetzungen von Hemingway, Steinbeck, Saroyan und einer Reihe anderer amerikanischer Schriftsteller.

      Eine rote Sonne stand im kalten Winterdunst, ihre sanften Strahlen glitten über Reihen von Bücherrücken, ließen Stäubchen in ihrer Bahn tanzen, hellten dunkle Ecken auf. Im Lager war es still. Die Arbeitskommandos befanden sich außerhalb des Zauns. Erst nach dem Abendappell begann die Ausleihe.

      Corporal Trailshag kam. Er begrüßte die beiden salopp und so unbefangen, dass es den Anschein haben konnte, der Corporal wisse nichts von der Affäre Hesse-Shelter. Kuhn und Trailshag sprachen ungezwungen miteinander.

      Der Corporal berichtete amüsant von seinen Jobs an Theatern des New Yorker Broadway als Hilfsinspizient, Beleuchter und allerhand hinter den Kulissen. Mehrere Aufführungen der Theatre Workshop Piscators in New York hatte er gesehen. Er gab Kritiken über Brechts "Galileo Galilei" wieder, der mit Charles Laughton in der Hauptrolle in Kalifornien uraufgeführt worden war.

      Aufpassen, warnte sich Hesse, der Boy wirkt so natürlich. Seine Kunstbegeisterung scheint echt, aber seine freimütige Art dürfte Masche sein, mich auszuholen. Wir könnten Brüder sein, wäre er nicht um einiges rundlicher. Er ist höchstens fünf Jahre älter als ich, hat aber schon amerikanischen Speck angesetzt. Fehlte nur noch, dass sein Haar von gleicher Farbe wie das meine und etwas gewellt wäre.

      Trailshag richtete seine munteren Augen auf den Schweigsamen. "Zufrieden mit dem neuen Job?"

      "Ohne Frage." Je kürzer ich antworte, desto weniger kann ich mich verquatschen, dachte Hesse.

      "Ein neuer Job - aber unter dem alten Vorgesetzten", bemerkte Kuhn vielsagend.

      Trailshag winkte ab. "War die Semmel schon ein einziges Mal in der Bibliothek?"

      "Noch nie", sagte Kuhn.

      Trailshag schlug sich auf die Schenkel. "Vor Büchern graust es ihm noch mehr als vor dem Theater."

      Hesse wehrte sich gegen die aufkeimende Sympathie für den Corporal. Doch er ließ sich hinreißen zu sagen: "Sie haben eine hohe Meinung von Captain Shelter."

      Der Corporal sah ihn aufmerksam an. "Kennen Sie die Geschichte vom King Midas? So einer ist die Semmel. Ob Potato-Chips, Rasierklingen, Autos oder Feuerzeuge, alles muss in ihren Händen zu Gold werden. Da dies mit der Kunst etwas umständlicher ist, gibt es für diese Sorte nur eins, entweder auch zu Gold oder totmachen."

      Hesse seufzte übertrieben. "Jetzt weiß ich noch genauer, weshalb ich für Shelter ungeeignet war."

      Todernst widersprach Trailshag. "Nicht wegen Ihrer Kunstbegeisterung - sondern weil Sie es ihm offen gesagt haben."

      In edler Selbsterkenntnis entgegnete Hesse: "So mutig bin ich gar nicht. Ich habe nur nicht immer "yes, Sir" genickt."

      Trailshag lachte jungenhaft. "Ein Hasenherz freut sich, wenn es ein anderes findet. Sage ich ihm etwa meine Meinung ins Gesicht? Das hatte ich mir schon am Broadway abgewöhnt." Plötzlich schwand das Lachen aus seiner unbekümmerten Miene. "Ich hätte ihm längst mal eingeheizt, um versetzt zu werden. Aber hier sind zu feine Boys an der Arbeit. Dieser Ede Nemlich mit seinem Team ... Wenn alle so wären ... "

      "Ich hoffe, Sie sind mit Bibliothekar und Bibliothek auch nicht unzufrieden", scherzte Hesse.

      Trailshag nickte bestätigend. "Aber so andere ... Nominieren den Klee zum Lagersprecher. Brrr. Die Deutschen sind unbelehrbar."

      "Bauer würde sagen, das ist weniger eine Nationalitäten-·als eine Klassenfrage", warf Hesse ein.

      Nachdenklich wiegte der Corporal den Kopf. "Sehr bestechend, ein bisschen was habe ich auch von Marx gelesen. Um Gods sake, kolportieren Sie es nicht. Dann bin ich hierzulande ein Kommunist, dabei bin ich wirklich keiner. Das steht nicht in Amerika. Der Wohlstand ist zu groß. Gegen den Kommunismus wurde das Land kolonisiert. Die Indianer lebten noch in brüderlicher Urgemeinschaft. Ihre Anspruchslosigkeit und Primitivität waren wenig attraktiv."

      "So an den Kommunismus heranzugehen finde ich ebenfalls primitiv", sagte Kuhn.

      Unwillkürlich dämpfte Trailshag die Stimme. "Eines ist nicht abzustreiten, nur in den weniger zivilisierten Ländern ist der Kommunismus an die Macht gekommen. Russland ist das beste Beispiel. Das nächste Große wird China sein. Wo die Leute hungern, ist was zu machen. Doch wo die Arbeiter gebrauchte Autos fahren, wollen sie sich fabrikneue kaufen können, aber nicht die alten Chaisen auch noch verlieren."

      Hesse fand es überzeugend, aber er erinnerte sich an Gespräche mit Bauer. Deshalb wagte er den Einwurf: "Ist das nicht so etwas wie diese - diese Elendstheorie?"

      "In der Tat." Trailshag sah Hesse amüsiert an, als wollte er sagen: Hast auch schon von dieser Verführung genascht. "Die Communists sind nie verlegen um Antworten. Aber in ihrer Art sind sie genauso unbelehrbar wie die Klee-Männer. Den Beweis liefert Zecke. Ich kenne ihn nicht, aber bin überzeugt, charakterlich steht er höher als Mister Klee. Trotzdem macht er so was. Glaubt Zecke wirklich, die Mehrzahl im Lager sind Communists? Selbst wenn er gewählt würde, das lässt sich kein amerikanischer Camp-Häuptling bieten, nicht mal unser Colonel."

      Fast ungläubig stieß Hesse hervor: "Ist es denn endgültig heraus?"

      Der Corporal blickte erstaunt. "Heute früh Morgengespräch im Headquarter. Was meint ihr, wie sich da einige die Hände gerieben haben."

      "Sie müssen aber zugeben", Kuhn wandte sich an Trailshag, "dass nicht alle Kommunisten im Lager so sind."

      Trailshag lächelte geringschätzig. "Warum sind sie nicht so schlau wie Wuntram? Selbst der ist einigen Herren im Headquarter zu links und dem liberalen Stircke gerade noch tragbar."

      Kuhn war dem Corporal dankbar. "Wuntram hätte die beste Chance gehabt."

      Hesse schwieg vor Zorn. Er empfand Hochachtung vor Leuten wie Zecke. Dass sie ihn derart enttäuschten, war zum Heulen. Es war eben doch so: Wer sich mit der Politik befasste, machte sich zum Narren.

      Der Mittagsgong erklang. Trailshag sprang auf. "Bye, bye!" An der Tür legte er den Finger auf den Mund. "Please, Guys, dieses Literaturgespräch bleibt unter uns."

      Fast bewundernd sah ihm Hesse nach. Warum ist er nur Unteroffizier und nicht Offizier? Wie viel mehr könnte er dann für uns ausrichten. Wenn wir uns erst näher kennen, ob er für mich etwas über Eliza ermitteln würde, vielleicht einen Brief an sie hinausschmuggeln? Hesse erschrak über sich. Diesen Gedanken gibt mir die Sehnsucht nach Eliza ein. Eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als den anständigen Burschen damit zu belästigen.

      Wer die Wahl hat ...

      Darüber