Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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der erste Teil der italienischen Sprachenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der italienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde.

      Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d.h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike angeregt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte.4 Schon 1345 entdeckte Francesco Petrarca (1304–1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Verona Briefe Ciceros,5 1392 stieß Coluccio Salutati (1331–1406) auf weitere Cicero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini (1380–1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009:150–157; Sandys 1915:166–168). So konnte nicht nur der Kanon der lateinischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese intensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Auseinandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatursprache gestellt wird.

      Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten verstärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleichzeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte.6

      Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des Lateinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind – wie die Untersuchung zeigen wird – die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety7 und der italienischen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low variety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen questione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation.

      Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen – eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde – und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volkssprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Literatursprache gesehen werden.

      Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnittpunkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Latinistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht.

      1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen

      Die sich oft auch im mündlichen Streitgespräch herauskristallisierenden Positionen sind uns vor allem durch eine reichhaltige Traktatsliteratur überliefert oder in Form von theoretischen Überlegungen in anderen literarischen Werken (z.B. literarischer Brief, humanistischer Dialog, Apologie). Dabei können aufgrund der Vielzahl der Texte, die sich entweder vorrangig mit dieser Thematik beschäftigen oder aus denen sich zumindest diesbezügliche Stellungnahmen herauslesen lassen, nicht alle Eingang in die Analyse finden, sondern es seien hier nur solche berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag in dieser Diskussion leisten. Die Selektion der Autoren und Texte richtet sich dabei im Wesentlichen nach denen bereits in der Forschung kanonisierten und sowie danach, ob ein Autor bzw. Text maßgeblich in der zeitgenössichen Rezeption ist und/oder inhaltlich das Thema um neue Aspekte bereichert (cf. Kap. 6.2).

      Der zeitliche Untersuchungsrahmen ergibt sich aus den maßgeblichen Traktaten, die den Umbruch in der Auffassung des Lateins bzw. der Volkssprache markieren. Aus diesem Grund läßt sich ein Beginn dieses neuen Bewußtseins durch Dante Alighieri (1265–1321) mit seiner Schrift De vulgari eloquentia (1303/4–1307/8) fixieren (cf. Kap. 6.2.1). Diese Abhandlung – obwohl zeitlich sehr viel früher gelegen als die eigentliche Diskussion – ist insofern von zentralem Interesse, als hier einerseits die mittelalterliche Auffassung von Latein als einer unveränderlichen gramatica nochmals synthetisiert wird, aber andererseits Dante hierbei auch der Volkssprache einen wichtigen Stellenwert zuerkennt. Diese wiederum stellt er äußerst differenziert dar und bringt gleichzeitig die Idee der diasystematischen Diversität (Architektur) einer Sprache mit ins Spiel sowie den Gedanken der Wandelbarkeit einer Sprache.

      Der tatsächliche Beginn der Diskussion, die um die Frage der antiken Sprachensituation kreist bzw. im Speziellen um die Frage, welche Sprache die Römer gesprochen hatten und wie daraus das Italienische entstehen konnte, ist hingegen durch Leonardo Bruni (1369/70–1444) und Flavio Biondo (1392–1462) markiert (cf. Kap. 6.2.2), die mit einem zunächst mündlich ausgetragenen Disput im Vorzimmer des Papstes letztlich die gesamte questione della lingua wenn nicht eröffneten, dann doch zumeist grundlegend anregten. Zudem werden in den dann bald darauf entstandenen Schriften – Bruni: An vulgus et literati eodem modo per Terentii Tuliique tempora Romae locuti sint (1435); Biondo: De verbis romanae locutionis (1435), Italia illustrata (1448–1458/1474) – zum ersten Mal einige wichtige Positionen dieser Diskussion fixiert, darunter auch das Argument der Korrumpierung des Lateins, die als corruptio-These in der heutigen Forschung geführt wird (cf. Kap. 6.1.1).

      Im Folgenden werden dann zwei Perioden dieser Sprachdiskussion um die Antike unterschieden, und zwar mit Humanisten, die hier, in Anlehnung an bereits in der Forschung üblichen,8 aber chronologisch leicht anders verwendeten Begriffe, als prima generazione und als seconda generazione klassifiziert werden. Die erstere bezieht sich auf die Protagonisten des 15. Jhs., zu denen neben den Initiatoren der Debatte, Bruni und Biondo, Leon Battista Alberti (1404–1472), Guarino Veronese (1374–1460), Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380–1459), Francesco Filelfo (1398–1481) und Lorenzo Valla (1407–1457) gehören, denen je eigene Kapitel gewidmet sind (cf. Kap. 6.2.4–6.2.8). Diesen folgen in einer kürzeren synoptischen Darstellung einige Autoren, die das vorliegende Thema weniger ausführlich behandeln oder weniger innovative Beiträge in die Debatte miteinbringen und die hier im Gegensatz zu den Protagonisten der Debatte, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist und die deshalb als auctores maiores klassifiziert werden, als auctores minores benannt werden (cf. Kap. 6.2.9). Die zweite Generation der Gelehrten im 16. Jh. ist durch die maßgeblichen Vertreter Pietro Bembo (1470–1547), Baldassare Castiglione (1478–1529), Claudio Tolomei (ca. 1492–1556), Ludovico Castelvetro (1505–1571), Bendetto Varchi (1503–1565) und Celso Cittadini (1553–1627) repräsentiert. Neben diesen Protagonisten, die durch ihren allgemeinen Wirkungsradius und/oder die neuen Details, die sie zur Diskussion beisteuerten, als solche für eigene Kapitel ausgewählt wurden (cf. Kap. 6.2.11–6.2.16),