Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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damit die aptum-Regel der Rhetorik und Poetik außer Kraft gesetzt. Statt des Gebots, das Stilniveau dem Gewicht des Stoffes und dem Rang der zur Sprache kommenden Person anzupassen, ging seine Lehre zur Forderung über, das Sprachniveau allein im Hinblick auf den beabsichtigten Publikumseffekt zu bestimmen und zu variieren. Das stilästhetische Prinzip hatte hinter dem stilpragmatischen, also hörer- und leserorientierten, zurückzutreten. Für die Gesamtarchitektur der lateinischen Sprache ergab sich eine folgenreiche Neubewertung. Der bis dahin selbstverständliche Prioritätsanspruch des gehobenen Lateins über die einfacheren Varietäten war fortan in der christlichen Welt aufgehoben. (Müller 2001:113)248

      Diese Neuorientierung hängt auch damit zusammen, daß die Sprache der Bibel nicht den üblichen gattungsbedingten Registern gehorchte. Vor diesem Hintergrund erfährt der sermo humilis eine Aufwertung im Sinne eines klaren unprätentiösen Stils, der von jedem verstanden wird und damit den obersten Zweck der christlichen Autoren, den der Verständlichkeit, am ehesten erfüllt (cf. Müller 2001:97–104, 111–116).

      Die aus heutiger Sicht wohl prominenteste Stilmarkierung ist der sermo vulgaris. Müller-Lancé (2006:58) führt diese Ebene jedoch nicht als solche an, sondern behandelt diese diaphasisch-diastratische Einordnung unter einem Sonderkapitel zum Vulgärlatein. Für eine Charakterisierung der Architektur der lateinischen Sprache soll aber hier genau nicht eine Vermischung mit der Problematik dieses modernen, daraus abgeleiteten Begriffs stattfinden, sondern der Fokus soll auf der antiken Sprachsituation liegen mit – soweit möglich – zeitgenössischer Terminologie, um andere Implikationen zu vermeiden (zur Problematik ‚Vulgärlatein‘ v. infra).

      Bereits bei Plautus sind laut Müller (2001:118–120) die frühesten Belege zu vulgatus zu verzeichnen und schon dort ist die Konnotation der als volgata verba bezeichneten Lexeme negativ, und zwar in dem Sinne von zwar verbreitet, aber unspezifiziert niederen Ursprunges (cf. dt. gemein). In der Rhetorica ad Herennium, in der erstmals die Wendung vulgaris sermo zu finden ist (4, 69), wird damit die allgemeine Sprache, die der breiten Masse, von derjenigen der Redner und Dichter abgegrenzt. Bei Cicero schließlich häufen sich verschiedene Kennzeichnungen in Zusammenhang mit vulgaris, so beispielsweise vox vulgaris, oratio vulgaris, vulgaris sermo, verbum vulgi oder vulgare orationis genus. Semantisch wird dabei meist auf das Allgemeine, Verbreitete, Übliche referiert, d.h. vielleicht nicht wertneutral, aber akzeptabel, während mit vulgaritas eindeutig nicht hinnehmbares niedriges Sprachniveau thematisiert wird – Cicero bleibt hier gewissermaßen ambig. Quintilian folgt ihm hier weitgehend, so daß vulgaris im Rahmen der rhetorischen Notwendigkeiten durchaus auch positiv konnotiert sein kann. Erst ab Gellius beginnt eine überwiegend negative Verwendung der von vulgus abgeleiteten Begriffe, wobei zunehmend die ursprünglich eindeutig diaphasische Bezeichnung eine diastratische Dimension bekommt und in die Nähe des sermo plebeius gerückt wird, was auch mit den in der späten Kaiserzeit sich verändernden gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen zusammenhängt,249 so daß nur noch zwischen normiertem Standard im Sinne einer latinitas und dem nicht-konformen Sprechen unterschieden wurde (cf. Müller 2001:155–160).

      Das Konzept der latinitas im Sinne einer überprüfbaren Sprachrichtlinie ist bei Varro, überliefert durch Diomedes (fragm. gramm. I, 439, 17; GLK 1857 I:439), näher erläutert, und zwar mit den Kriterien natura, analogia, consuetudo und auctoritas und auch bei Quintilian (Inst. orat. I, 6, 1; 2001 I:160–184), der als Kriterien ratio (analogia u. etymologia), vetustas, auctoritas und consuetudo zugrunde legt (cf. Siebenborn 1976:53). Das sich ab dem 2. Jh. v. Chr. konstituierende Sprachideal der latinitas, beruhend auf einem Kanon von auctores, den classici, grenzt sich gegenüber diatopischen Varietäten (cf. sermo rusticus, agrestis) und diastratisch niedrig markierten Varietäten ab (cf. sermo vulgaris, cotidianus, familiaris, plebeius) und ist gleichzeitig gekoppelt an ein gesellschaftlich als vorbildlich angesehenes Verhalten (cf. recte vivere) und Denken (cf. recte sentiendi et cogitandi), was sich letztlich auch auf die Bereiche der Philosophie (cf. vere loqui), der Rhetorik (cf. bene loqui) und der Grammtik (cf. correcte loqui) ausdehnt; d.h. Teil eines gesamtgesellschaftlichen Ideals ist (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:401–403).

      Im Bereich der Stilregister oberhalb des Standards sind aus der antiken metaprachlichen Reflexion im Wesentlichen zwei Markierungen überliefert, und zwar die des sermo urbanus sowie die des sermo latinus mit den jeweils dahinterstehenden Konzepten der urbanitas und der latinitas. Beides sind keine diaphasischen Einordnungen sui generis, sondern je anderer Provenienz. Die Bezeichnung sermo urbanus ist erstmals bei Livius belegt, und zwar im Sinne der diatopischen Abgrenzung gegenüber rusticus, d.h. es wird auf das stadtrömische Leben, der damit zusammenhängenden Kultur und der entsprechenden sprachlichen Ausdrucksweise abgehoben (cf. die urbs ‚Stadt‘ schlechthin: Rom). Dies bedeutet auch, daß diese Kennzeichnung von Anbeginn neben einer rein lokalen Komponente eine dezidiert positive Konnotation hatte, und zwar im Sinne eines gehobenen Registers. Bei Cicero gewinnt letzterer Aspekt zunehmend an Gewicht, wobei er beispielsweise vage von einem urbanitas color spricht, ohne dies an sprachlichen Einzelelementen festzumachen; es sei jedoch ähnlich dem des ἀττικισμὸς im Griechischen. Quintilian schließlich schärft hier das Verständnis, indem er die Redeweise nicht nur mit der stadtrömischen Bevölkerung in Verbindung bringt, sondern auch mit entsprechender Bildung der Sprecher, so daß der sermo urbanus zumindest in partieller Korrelation mit der conversatio doctorum steht. Eine ursprüngliche diatopische Markierung verschiebt sich hier demgemäß zu einer diastratisch-diaphasischen, ohne die lokale Komponente ganz zu verlieren, denn im Laufe der Zeit überträgt sich das Konzept der urbanitas von Rom auch auf die Metropolen der Provinz, wobei die Abgrenzung zur Sprechweise auf dem Land (rusticus) erhalten bleibt.250 Stilistisch wird mit dem sermo urbanus somit letztendlich das gute, (haupt)städtische Sprechen ausgedrückt, welches sich von der mit sermo latinus gekennzeichneten Redeweise dadurch unterscheidet, daß bei letzterer eher die regelkonforme Korrektheit im Vordergrund steht und bei der als urban gekennzeichneten Redeweise, die damit verbundene Eleganz und Kultiviertheit zum Ausdruck gebracht wird (cf. Müller 2001:219–230; Lüdtke 2019:450–452).

      Es stellt sich nun die Frage, wie diese vornehmlich im Zuge der antiken Rhetoriktheorien entstandenen Begrifflichkeiten zu bewerten sind. Dabei ist prinzipiell zu berücksichtigen, daß die Verfasser der Rhetoriken oder andere Autoren, die metasprachliche Betrachtungen anstellten, weniger die Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit zum Ziel ihrer Abhandlungen hatten, sondern die jeweilige Sprechweise auf ihre Funktionalität hin für öffentliche Reden untersuchten. Nichtsdestoweniger ist darin in gewissem Grad ein Spiegelbild tatsächlicher diaphasischer Ebenen zu erkennen. Allerdings stellt sich wie bei der Beschreibung moderner, lebender Sprachen auch das grundsätzliche Problem der Abgrenzung von diaphasischer und diastratischer Ebene, da diese eng zusammenhängen. Zusätzlich kommt angesichts der Ausdehnung des römischen Reiches der diatopische Aspekt zum Tragen. Auch dies ist grundsätzlich nicht anders als bei aktuellen, diversifizierten Sprachen, allerdings mit dem Unterschied, daß die Standardsprache aufgrund geringerer Verbreitung von Schulbildung, niedrigerer Alphabetisierungsrate und dem Fehlen der modernen Medien als Katalysator von Standardisierungsprozessen weniger präsent war als heutzutage bei den großen Nationalsprachen. Es bleibt als Parallele zu heute aber auch die Schwierigkeit der Bestimmung der Anzahl der diaphasischen Ebenen, die oft nicht scharf getrennt voneinander sind. Versucht man nun die Ergebnisse aus der metasprachlichen Analyse von Müller (2001) auf eine mögliche Sprachrealität anzuwenden, so scheint es neben einem Standard, der als sermo usitatus oder communis gekennzeichnet ist, zumindest zwei Substandardregister gegeben zu haben, d.h. einerseits den sermo familiaris oder sermo cotidianus und andererseits niedrig markierter den sermo humilis oder sermo vulgaris. Im Bereich des Superstandard ist mit sermo urbanus oder sermo latinus der gehobene Sprachgebrauch anzusetzen. Es ist wahrscheinlich, daß sich auch der schriftliche und der mündliche Gebrauch nochmal unterschieden, ganz nach dem von Koch/Oesterreicher (2011:12) formulierten Diktum der jeweiligen Affinitäten von phonischem Code zu Nähesprache und graphischem zu Distanzsprache (v. supra).