Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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als diastratisch.

      Aus der Sicht der traditionellen Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian) ist dem sicherlich beizupflichten; begreift man jedoch diesen Stil, der sich durch eine Syntax mit vorwiegend parataktischem Satzbau und zahlreichen Gräzismen (sowie einigen Hebraismen) auszeichnet, gerade ab der Spätantike als etwas typisch Christliches, so ist der gruppensprachliche Charakter doch ebenfalls recht deutlich. In diesem Kontext referiert dann sermo humilis zwar vorwiegend auf die medial schriftlichen Texte, könnte aber in einem modernen Verständnis durchaus auch auf die Mündlichkeit angewandt werden, z.B. bei Predigten. Löst man also den Begriff aus seiner frühen Interpretation der rhetorischen Stilebenen und legt man den Schwerpunkt auf die augustinischen Neubelegung (v. infra), so kann man ihn durchaus sinnvoll zur Kennzeichnung diastratischer Gegebenheiten verwenden, ohne der antiken Auffassung entgegenzustehen.238

      In Bezug auf die Soldatensprache sind einige Ergänzungen zur Struktur der römischen Armee sinnvoll. Diese war prinzipiell den freien römischen Bürgern vorbehalten, Sklaven und Freigelassene wurden nur im Krisenfall mitherangezogen. Attraktiv war der Militärdienst vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch für Römer, aber in erster Linie für die Provinzialen, die dadurch am Ende der Dienstzeit, die in der Kaiserzeit zwischen 16 und 26 Jahren schwankte (je nach Dienstgrad und Bereich), das Bürgerrecht erwerben konnten. Aus diesem Grund waren Zwangsrekrutierungen eher selten und die im Prinzipat fortbestehende Wehrpflicht aus Zeiten der Republik wurde oft nicht eingefordert, da die Legion ausreichend Sold und Perspektiven bot. Der privilegierte Stand der Senatoren (ordo senatorius) und der der Ritter (ordo equester) besetzten in der Regel die Offiziersämter in der Armee und wechselten häufig, zumindest in den höchsten Rangstufen, d.h. bei den Tribunen (tribuni) und Legionskommandanten (legati). Kontinuität und Verbundenheit mit der Truppe gewährleisteten der meist dem Ritterstand zugehörige Lagerkommandant (praefectus castrorum) sowie die einzelnen Zenturionen (centuriones) und deren ranghöchster, der primus pilus. Es gab in der römischen Armee nicht nur eine vertikale Schichtung nach Dienstgraden, sondern auch eine horizontale nach militärischen Einheiten. So war die überkommene traditionelle Grundeinheit der römischen Wehr die aus Fußsoldaten bestehende Legion (legio), deren 4000–5000 Mann in Kohorten (cohortes), Manipel (manipuli) und Zenturien (centuriae) gegliedert waren. Sie bestand zunächst meist aus Angehörigen der plebs rustica, später dann auch zunehmend aus Provinzialen. Ab der Kaiserzeit wurde das Heer (exercitus) durch Hilfstruppenverbände (auxilia) verstärkt, die mitunter komplett aus ethnisch geschlossenen Einheiten bestanden, mit denen ein Klientelvertrag bestand, die im Laufe der Zeit dann aber durch andere Soldaten ergänzt wurden und nur noch den Namen beibehielten (z.B. cohors II Raetorum).239 Weiterhin gab es Reitereinheiten verschiedener Stärke (ala quingenaria, ala miliaria), gegliedert in turmae sowie gemischte Kavallerie- und Infanterieeinheiten (cohortes equitatae). In der Spätzeit etablierten sich am Limes zudem sogenannte Benfiziarierstationen mit Soldaten (beneficiarii) in Vertrauensstellung und eher polizeidienstlicher Funktion. Nicht den gleichen Stellenwert wie der Dienst in der Legion hatte der in der römischen Flotte, die im Wesentlichen aus Trieren bestand. Neben den Ruderern und Matrosen, die meist aus Provinzialen bestand, gab es die Decksoldaten, einen Kapitän (trierarchus) pro Schiff sowie den Kommandantenn (nauarchos), der über eine Flotilleneinheit (classis) gebot und zunächst oft ein qualifizierter Freigelassene war, später jedoch meist aus dem Ritterstand kam. Die Seestreitkräfte hatten demgemäß eine andere soziale Stratifikation als die Legion. Nicht zu vergessen ist auch, daß die römische Armee auch zahlreiche zivile Dienste verrichtete wie Landvermessung und Baumaßnahmen jeglicher Art (Wasserleitungen, Tunnel, Häfen, Lager), für die technische Spezialisten zur Planung und Ausführung nötig waren (cf. Christ 2002:410–423).

      Die römische Armee spiegelt insofern ein Stück weit die komplexe Gesellschaftsstruktur wider, mit verschiedenen sozialen Schichtungen und Gruppierungen, Römern, Provinzialen und foederierten Fremden, war aber dahingehend etwas Besonderes, als sie eine Einheit bildeten mit starker Integrationskraft, ohne deshalb die Pluralität ihrer Partizipanten völlig zu homogenisieren.240

      Es ist insofern deshalb wohl anzunehmen, daß die Soldatensprache eine Gruppensprache (cf. diakoinonisch, Kap. 3.1.3) war, an der prinzipiell alle sozialen Schichten partizipierten und dies vor allem anhand einer spezifischen Lexik deutlich wurde, darüberhinaus ist aber zu differenzieren, welchen gesellschaftlichen Status einzelne Subgruppen innerhalb des Militärs innehatten. Dies gilt vor allem bezüglich der höhergestellten Offiziere gegenüber der Masse der Legionäre oder der Hilfstruppen, aber auch innerhalb der einzelnen Einheiten konnten Unterschiede bestehen, wie Müller (2001) dies exemplarisch verdeutlicht:

      Der sermo castrensis beispielsweise verband Caesar mit dem einfachen Soldaten der Auxiliartruppe, freilich bei großem Abstand zwischen der hochspezialisierten militärischen Fachdiktion des einen und der banalen kriegshandwerklichen Redeweise des anderen; überlagert wurde jedoch die punktuelle Gemeinsamkeit von der Zugehörigkeit des Aristokraten zum diastratischen Sprachniveau des sermo urbanus und der des unfreien miles zu einer günstigenfalls dem niederen sermo vulgaris zurechenbaren Ausdrucksebene. Das Beispiel macht überdies klar, daß auch Fachsprachen je nach Spezialisierungsgrad der Sprecher in sich gestuft waren (Müller 2001:275).

      Bei Müller (2001:274) wird die Soldatensprache aufgrund der spezifischen Begrifflichkeit als Technolekt klassifiziert. Sicherlich sind die militärtechnische Fachtermini prägend, allerdings scheint es aber wohl eher so, daß mit sermo castrensis vor allem auf den Soldatenjargon in der mündlichen Alltagskommunikation abgehoben wird.

      Weitere gruppensprachliche Differenzierungen sind die nach Alter sowie diejenige nach Geschlecht. Diese Tatsache, daß es solche diasystematisch erfaßbare Ausdruckweisen im Lateinischen gegeben haben muß, zeigen konkrete Hinweise bei Terenz und metasprachliche Kommentare von Cicero (De orat. III, 45 (12); 2007:330),241 die Rückschlüsse auf ein bestimmtes sprachliches Verhalten bei Frauen zulassen.242 Was das altersspezifische Sprechen anbelangt, so gibt es schon seit langem Studien zur Kindersprache, seit neuerer Zeit auch zur Seniorensprache und anderen Altersgruppen (cf. Müller 2001:275; Willms 2013:230).243

      Insgesamt ist demgemäß davon auszugehen, daß das Lateinische als eine Sprache, die von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen in den verschiedensten Regionen mit unterschiedlich tradierten Gesellschaftsstrukturen gesprochen wurde, im Hinblick auf die diastratische Ebene nicht viel weniger ausdifferenziert war als heutige internationale Standardsprachen. Nicht wenige dieser gruppensprachlichen Merkmale wurden bereits von den Zeitgenossen identifiziert und metasprachlich kommentiert bzw. terminologisch kategorisiert (v. supra). Gerade letzteres gilt zwar nicht für alle gruppensprachlichen Bereiche, dennoch ist deren Existenz mehr als wahrscheinlich.

      4.1.2.3 Die diaphasische Ebene

      Im Zuge der Betrachtung der Diaphasik geht Müller-Lancé (2006:55–57) auch der Frage nach, inwieweit hier die diamesische Dimension zu berücksichtigen wäre, und diskutiert die Anwendbarkeit der Kategorien von Söll (1985), also Konzeption und Medium, sowie die von Koch/Oesterreicher (2011), d.h. Nähe und Distanz. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß dies womöglich schwierig einzuschätzen sei, ob allein ein reiner Medienwechsel wie im Französischen schon nachweisliche Auswirkungen auf die Versprachlichung habe oder ob im Lateinischen nicht immer auch die Ebene der Stilregister eine Rolle spielen würde (Müller-Lancé 2006:57). Entsprechend den in vorliegender Arbeit bereits dargelegten kritischen Überlegungen zur Möglichkeit der Integration der Söll’schen Kategorien in das System von Koch/Oesterreicher (v. supra) und der Tatsache, daß wir zwar einige Hinweise auf die Aussprachegewohnheiten der Römer haben, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um voll umfänglich die medial und konzeptionell gesprochene Sprache zu charakterisieren, erscheint es sinnvoller, die diamesische Ebene als eigene Dimension im Coseriu’schen Diasystem auszuklammern. In Bezug auf historische Sprachformen ist es zwar unter Umständen erlaubt, aus einer überlieferten Schriftlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf eventuelle mündliche Realisierungen zu ziehen, die Rekonstruktion der kompletten Ebene der Mündlichkeit bleibt aber hoch spekulativ.

      Konzentriert man sich auf die sprachlichen Register innerhalb der diaphasischen Ebene,244