Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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etc. Helikialekte diagenerationell altersspezifisch Gerontolekt (Sprache der Senioren) Neotolekt (Sprache der Kinder und Jugendlichen) Sexolekte diasexuell geschlechtsspezifisch Androlekt (Sprache der Männer) Gynaikolekt (Sprache der Frauen)

      Abb. 3: Das Diasystem des Lateinischen

      Diese hier präsentierte Idee einer Architektur des Lateinischen als lebende Sprache in der Antike ist natürlich insofern defizitär, als die diachronische Entwicklung und die sich daraus ergebenden Verschiebungen bzw. Nuancierungen – wie oben beschrieben – nicht abgebildet sind. Es bleibt weiterhin in vielerlei Hinsicht hypothetisch, da wir aus der historischen Konstellation heraus rein auf schriftsprachliche Zeugnisse angewiesen sind, die nicht nur die Frage nach der Mündlichkeit schwer beantwortbar machen, sondern jede Art der diasystematischen Variation nur fragmentarisch hinter der weitgehend standardisierte Schriftlichkeit sichtbar werden lassen. Insofern beruht das obige Schema zwar durchaus auf Studien und Belegmaterial, welches vorsichtige Rückschlüsse auf eine bestimmte Varietät zulassen, sie vollständig zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Es sollte dabei jedoch im Anschluß an die neuere Forschung deutlich werden, daß das Lateinische der Antike eine vollausdifferenzierte Sprache war, deren Heterogenität sich eben nicht wie bisher üblich auf zwei oder drei Begriffe reduzieren läßt.

      5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt

      Bei einer Darstellung, die der Frage nachgeht, wie ein tiefergehendes Verständnis für das Latein der Antike entstanden ist und wie Sprachentwicklung in das Bewußtsein der Gelehrten rückte, ist es unumgänglich den zentralen Begriff des Vulgärlateins zu betrachten. Dieser Terminus ist insofern entscheidend, als hierin zum Ausdruck kommt, daß es noch eine andere Form des Lateins gab, die nicht den gleichen Grad an Normiertheit und Invariabilität aufwies wie die Schriftsprache im Allgemeinen bzw. das sogenannte Klassische Latein im Besonderen. Dieser Unterschied wird bereits bei den antiken Autoren greifbar, die wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, verschiedene Arten des Lateins unterschieden, wie auch immer die jeweilige diasystematische Abgrenzung gedacht war.

      Wenn man sich nun – wie hier vorgesehen – mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire, it. latino volgare).

      Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht.259

      Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866–1868). Bereits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Ausschreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006:9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet gesehen werden.

      Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo, der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium (IV, 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero (Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizierung von Sprachstilen häufig verwendet wurde.

      Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. (Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994:316–318)

      […] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990:272)260

      Bei Kiesler (2006:7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Verweis auf Geckeler/Dietrich (2003)261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition gemutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsichtige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ettmayer (1916:231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch – Französisch – Deutsch‘.

      Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die allgemeine Begriffsgeschichte von lat. (lingua) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220–1294; Li livres dou tresor, ca. 1265: vulgar parleure) über Dante Alighieri (1265–1321; De vulgari eloquentia, 1302–1305: vulgaris locutio; Convivio, 1306: volgare) und Joachim du Bellay (1522–1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, 1549: vulgaument) zu Johann Gottfried Herder (1744–1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste, 1794–196: Vulgar- und Pöbelsprache) führt (cf. Ueding 2009:1245–1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) untersuchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392–1463; De verbis romanae locutionis, 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553–1627; Trattato della vera origine, 1601: latino volgare) präzisere Form gewinnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF, hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475–1539) verbirgt,262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694–1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains, 1751)263 und Claude Fauriel (1772–1844; Histoire de la poésie provençale, 1846),264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes französischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert.265

      Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu entstandenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wissenschaft institutionalisieren.

      Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute