Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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hilfreich. Diese unterscheidet prinzipiell drei Ausdrucksweisen bzw. Stilarten (genera dicendi), und zwar den niederen Stil (genus subtile oder genus humile), den mittleren Stil (genus mediocre) und den hohen Stil (genus sublime oder genus grande). Diese drei Arten der Redeweise werden dabei den entsprechenden Absichten der Kommunikation zugeordnet, wobei für die Belehrung (docere) das genus humile geeignet sei, für die Unterhaltung (delectare) das genus mediocre und für die Rührung (movere) das genus grande (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:273). Diese kanonisierte Form der Unterscheidung von Sprachregistern in Anwendung je nach Kommunikationssituation gibt dennoch Hinweise auf Stilebenen bzw. diaphasische Register, über die innerhalb der lateinischen Sprache die Sprecher verfügen konnten.245 Hinzu kommt der bereits in der Rhetorica ad Herennium belegte Begriff des cotidianus sermo (4, 14, 2) oder der consuetudo cotidiana (4, 17, 22) und des sermo vulgaris (4, 69) sowie der bei Cicero verwendete Terminus des sermo familiaris (Cic. Caecina orat. 52, 2), der jedoch keine wesentliche Fortsetzung findet. Des Weiteren ist für den Superstandard, also die sehr gehobene Sprache, der auch diatopisch markierte Begriff des sermo urbanus in Betracht zu ziehen sowie der mit einer Konnotation von Norm und Korrektheit versehener Begriff des sermo latinus. Angesichts dieser metasprachlichen Zeugnisse von Bezeichnungen für verschiedene stilistisch bedingte Sprechweisen, die aufgrund der dominanten Stellung der Rhetorik viel zahlreicher sind als diatopische oder diastratische Markierungen, stellt sich nun die Frage, inwieweit hiermit gesellschaftliche Realitäten abgebildet werden und wenn ja welche.

      Um Aussagen über verschiedene Ebenen der gehobenen oder niederen Sprechweise treffen zu können, sei zunächst der unmarkierte Gebrauch definiert. Müller (2001:209–213), der die fragliche Begrifflichkeit in der Rhetorica ad Herennium, bei Cicero, Horaz und Quintilian untersucht, sieht in dem bei Cicero und anderen späteren Autoren (nicht Quintilian) verwendeten sermo usitatus (Cicero, Brut. 259 (74); 1990:196) eine Bezeichnung für eine Standardvarietät bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch. Damit einher gehen die Begriffe usus und consuetudo, die nicht selten weitgehend deckungsgleich246 verwendet werden und in der ein oder anderen Form bei den meisten Rhetorikern bzw. in sprachtheoretischen Betrachtungen vorkommen. Insbesondere bei Quintilian wird dabei deutlich, daß auch die Norm sich am Gebrauch ausrichtet, der als solcher durchaus positiv konnotiert ist (cf. Müller 2001:211–212). Ebenfalls zur Bezeichnung eines allgemein üblichen Sprachgebrauchs wurde der Begriff des sermo communis verwendet. Während bei Varro mit communis vor dem Hintergrund einer consuetudo recta vs. einer consuetudo depravata bzw. mala auf den Sprachgebrauch des maßgeblichen Teils der Bevölkerung bzw. der periti referiert wird und dieser somit eher als gehoben zu charakterisieren ist, stuft Cicero die consuetudo communis als usuellen Standard unterhalb des Ideals des sermo urbanus ein. Quintilian, der wohl erstmals diese Ebene als sermo communis bezeichnet, zielt ähnlich wie Varro auf eine Sprechweise der eruditi. In der Spätantike bei den christlichen Autoren umfaßt diese Bezeichnung jedoch den Sprachgebrauch des gesamten Volkes (cf. Müller 2001:215–217).

      Eine diaphasisch neutrale, unmarkierte Redeweise zu definieren, ist auch für lebende Sprachen nicht immer ganz einfach. Geht man jedoch davon aus, daß im Lateinischen ähnlich wie in seinen heutigen Nachfolgesprachen sich der stilistisch unmarkierte Standard prinzipiell am Sprachgebrauch der oberen Gesellschaftsschicht in eher informeller Situation orientiert – schriftlich tendenziell höher verortet als mündlich (cf. Koch/Oesterreicher supra) –, so dürfte dies mit der antiken Interpretation des sermo communis recht adäquat umrissen sein, der mit dem sermo usitatus korreliert, mit dem jedoch mehr der normative Aspekt im Vordergrund steht. Die Tatsache, daß am sermo communis in einer späteren Zeit eine breitere Bevölkerungsschicht partizipiert, ist womöglich den gesellschaftlichen Veränderungen geschuldet, die zwar keine Abschaffung von Eliten bedingte, aber womöglich ein Partizipieren breiterer Bevölkerungsschichten an der römischen (Stadt-)Kultur:

      Die Romanisierung des Reichs und die als deren Konsequenz anzusehende Übertragung des römischen Bürgerrechts an immer mehr und schließlich fast alle Reichsbewohner führte zu einer starken Homogenisierung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Überall im Reich wurde nun als Muttersprache lateinisch bzw. griechisch gesprochen; der Götterhimmel war seiner Mannigfaltigkeit und Gebrochenheit in jedem Landstrich gleich oder ähnlich; das Bild der Städte wurde uniformer, ebenso die benutzten Gerätschaften, die Festlichkeiten und die Bibliotheken. (Bleicken 1994:45)

      Durch diese Homogenisierung der Gesellschaftsschichten ergibt sich auf sprachlicher Seite eine weniger deutliche Trennung von Diaphasik und Diastratik.

      Versucht man sich von dieser Ausgangsbasis den Substandardregistern zu nähern, so sind in der antiken Literatur Begriffe wie sermo cotidianus, sermo familiaris, sermo humilis und sermo vulgaris in Betracht zu ziehen bzw. potentiell zu hierarchisieren.

      In der Rhetorica ad Herennium werden Bezeichnungen wie cotidiana locutio, cotidianus sermo oder consuetudo cotidiana verwendet, bei Cicero unter anderem sermo cotidianus, usus cotidianus und consuetudo sermonis cotidiani und bei Quintilian, der ebenfalls terminologisch variiert, wird der alltägliche Sprachgebrauch präferentiell mit cotidianus sermo charakterisiert. Müller (2001:167–178), der die Verwendung der Begrifflichkeiten vergleichend analysiert, kommt zu dem Schluß, daß es sich hierbei um ein Register handelt, welches unterhalb des Standards auf der ersten Stufe des Substandards anzusiedeln ist. Die Einschätzungen der einzelnen Rhetoriker sind dabei, wie Müller darlegt, nicht völlig kohärent. Der Anonymus der ersten Rhetorica sieht vor dem Hintergrund seiner Stilanalyse das niedrigste genus in zumindest partieller Korrelation mit der Alltagssprache, charakterisiert beispielsweise durch Wörter, die bei der Mehrzahl der Sprecher frequent sind, also der consuetudo cotidiana entsprechen. Cicero betont zudem die notwendige Aktualität der Lexeme, d.h. sein cotidianus sermo soll vor allem den zeitgenössischen Sprachgebrauch widerspiegeln und hat u.a. die Funktion innerhalb der öffentlichen Gerichtsrede Tatbestände und Sachverhalte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er sieht dieses Stilregister aber auch als angemessen für die Textgattung des Briefes (Epistulae ad familiares, 9, 21). Quintilian betont hingegen, daß die alltägliche Redeweise nicht ausreiche, rhetorische Zwecke zu erfüllen. Gemeinsamkeiten bezüglich der Charakterisierung eines sermo cotidianus sind auch unter Einbeziehung späterer metasprachlicher Zeugnisse darin zu sehen, daß es um einen schlichten Stil geht, ohne ornatus, mit einer knappen Satzgestaltung und gängigem Wortschatz, so daß eine allgemeine Verständlichkeit gewährleistet wird.

      In ähnlicher Funktion wie sermo cotidianus wird von Cicero der Terminus sermo familiaris eingeführt, allerdings mit Betonung auf dem engen Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern in Anlehnung an lat. familia, die römische Hausgemeinschaft. Im Weiteren bleibt die Verwendung dieses Begriffs jedoch marginal, dabei aber weiterhin mit der Konnotation der Nähe und Vertrautheit belegt (cf. Müller 2001:179–182).247

      Der sermo humilis erscheint als mehr oder weniger fest umrissenes Konzept erstmals bei Cicero, der allerdings im Rahmen seiner rhetorischen Abhandlungen (Orator, De oratore, Brutus) in seinen Bezeichnungen nicht konsequent ist. Eindeutig handelt es sich dabei in Variation mit Beschreibungen wie tenuis, subtilis oder calidus um die Charakterisierung der untersten Stilebene der genera dicendi bzw. figurae orationis. In diesem Kontext ist der sermo humilis nicht unbedingt negativ konnotiert, hat er doch seinen festen Platz im Gefüge der Stilarten und ihren je spezifischen Anwendungen. Die davon unabhängige Verwendung von humilis bezeichnet hingegen eine niedrige und ärmliche Redeweise. Letztere Bedeutung übernimmt im Wesentlichen auch Quintilian, der im Gegenzug humilis nicht als Teil der drei Sitilregister sieht (genus subtile, genus medium, genus grande) und damit den Antagonismus von Cicero vermeidet. Eine dezidierte Aufwertung des sermo humilis ist seit Augustinus zu verzeichnen, der in Anlehnung an Cicero zwar ebenfalls drei Stilarten entwirft (submisse, temperate, granditer), jedoch deren Anwendung nicht abhängig vom darzustellenden Stoff macht. Ihm geht es allein um die Vermittlung der doctrina christiana, eine Abstufung ist nicht nötig, was die Regeln der Rhetorik und des situationsbedingten