Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Bewegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866:VII)

      Die Aufgabe266 ist – abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft – allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schriftdenkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begründung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schriftlichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866:IX-X)

      Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine eingehende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht,267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische Forschung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Sprachen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Perspektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben.

      Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wissenschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zusammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen verwiesen (cf. z.B. Reichenkron 1965:1–4; Herman 2003; Kiesler 2006:3–13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hofmann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spanisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann/Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilensteine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Introduction to Vulgar Latin; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferenciaciones romances;268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar; Löfstedt (1959), Late Latin; Väänänen (11963, 42002), Introduction au latin vulgaire; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins; Herman (1967), Le latin vulgaire.269

      Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateinischen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus, Iliescu/Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Literarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgärlateinische Alltagsdokumente, aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-altromanische Grammatik.270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Übergang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z.B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den romanischen Sprachen, Herman (1990), Du latin aux langues romanes, Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino, Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen, Herman (2006), Du latin aux langues romanes II, Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France, der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte.

      Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut publizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammelbände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins (latin vulgaire – latin tardif) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu/Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann/Kettemann (1999), Solin/Leiwo/Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli/Cuzzolin/Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik, des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics.271

      Durch die zunehmende Beschäftigung mit dem Sujet ‚Vulgärlatein‘ ergab sich auch eine Aufsplitterung des Begriffsinhaltes, so daß man sich heutzutage einer Vielzahl von Interpretationen gegenübersieht, was darunter genau zu verstehen sei. Auch wenn Kernelemente der Definition von Schuchardt bestehen bleiben, so ist die Frage, welcher Sprachzustand zu welcher Zeit damit bezeichnet werden soll, relativ umstritten, so daß sich hinter der Begriffsverwendung in einer aktuellen Publikation tendenziell immer zahlreiche Forschungsmeinungen verbergen können und der gemeinsame Nenner einer communis opinio sich denkbar klein ausnimmt, was nicht ganz unproblematisch im Sinne einer für alle praktikablen Begrifflichkeit ist.

      Es seien im Folgenden nun einige voneinander abweichende Positionen herausgegriffen, um diese Diskrepanz deutlich werden zu lassen:

      Das Vulgärlatein ist das gesprochene Latein. Es könnte auch Romanisch heißen. Die einzelnen rom. Sprachen sind nicht die Töchter des Vlt., sondern selbst Vlt., d.h. seine Spielart. Sie sind das Latein von heute. […]

      Vlt. hat es zu allen Zeiten gegeben. Auch ist das Vlt. nicht ohne weiteres als die Sprache der niederen Klassen anzusehen und das Schriftlatein nicht ohne weiteres als die Sprache der Gebildeten. Im täglichen Verkehr haben sich zweifellos auch die Gebildeten nicht in kunstvollen Perioden ausgedrückt. Freilich mag die Sprache der Gebildeten nicht ganz dieselbe gewesen sein wie die des niederen Volkes. Zwischen dem höchsten und kunstmäßigsten Latein und dem rohesten Vulgärlatein gab es eine Masse von Mittelstufen – wie es deren auch heute gibt. […]

      Der größte Teil der gesprochenen lat. Alltagsrede ist verhallt, für immer verhallt und verschollen. Man muß sich die Quellen für die Kenntnis des Vlt. erst mühsam zusammensuchen. (Voßler 1922:48–49; Hervorhebungen im Original)

      Für Voßler ist ‚Vulgärlatein‘ demgemäß gleichzusetzen mit der gesprochenen Sprache, und zwar vor allem auch in konzeptioneller Hinsicht. Diese ist dabei zeitlich nicht limitiert bzw. an eine bestimmte Sprachstufe gebunden, also nicht etwa auf die spätlateinische Phase beschränkt, wie er eigens betont (cf. Voßler 1922:49). Er sieht das Vulgärlateinische als diastratisch nicht strikt an eine Sprecherschicht gebunden und betont das diaphasisch-diastratische Kontinuum. Mit der begrifflichen direkten Gleichsetzung von Vulgärlatein und Romanisch (cf. Zitat supra) ist implizit auch die diatopische Variation des Vulgärlateins postuliert. Das konzeptionell und gesprochene Latein ist schließlich nur in Ausnahmen in medial schriftlichen Kontexten zu finden, und zwar „aus dem einfachen Grunde, weil man sich in der Schrift immer oder meistens eines grammatisch und stilistisch gereinigten, eines mehr oder weniger klassischen Lateins bediente“ (Voßler 1922:49).

      Ebenfalls den Aspekt der Mündlichkeit betont Battisti (1949) in seiner Definition, grenzt die Epoche, in der das Vulgärlatein sich äußert, jedoch relativ deutlich ein:

      Intendiamo con questa voce non una fase dialettale, ma la lingua normalmente parlata nel mondo latino dalla maggioranza della classe media nei due ultimi secoli della repubblica e