Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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Serviette als Schurz und begann den Ruf nachzuahmen, der in Bahnhöfen den Zügen entlang erschallt. «Büffet!» rief er mit verstellter, hoher Stimme und blickte in den Salon hinein, wo sich die kleine Gesellschaft nach den ersten Begrüßungen noch unentschieden durcheinander bewegte.

      Oberstleutnant Hartmann trat dort, nachdem er seine Runde beendet hatte, lächelnd wieder zu seinem Schwiegervater. Er trug zur schwarzen Gehhose den dunklen Waffenrock mit den zwei schimmernden Knopfreihen und dem roten Kragen, der mit dem winzigen weißen Saum des darunter verborgenen Leinenkragens seinen gebräunten Hals hoch und eng umschloß. Mit einem leisen, freundlich ironischen Lächeln trat er auf Ammann zu.

      Ammann, seit Neujahr sein Vorgesetzter, blickte ihm mit einem ähnlichen Lächeln entgegen, dessen Ironie freilich an Spott grenzte, da ihn sein höherer Grad der Rücksicht enthob, die Hartmann dem Brigadier immerhin schuldete. «Du bist ein eleganter Kerl», sagte dies Lächeln, «ein Berufssoldat, ein schneidiger Offizier, während ich in deinen Augen nur ein militärischer Laie und heraufgekommener Bürger bin, aber bilde dir ja nicht ein, mein Lieber, daß die militärische Tätigkeit und das Führertalent mit der Eleganz, dem Schneid und dem Beruf zusammenhängen; indessen fühle ich mich durch deinen Hochmut nicht betupft, er läßt mich im Gegenteil völlig kalt, und außerdem bin ich überlegen genug, deine wirklichen guten Eigenschaften anzuerkennen.»

      Hartmann las dies alles im Gesicht seines Vorgesetzten, und seine eigene Miene enthielt schon die Antwort darauf. «Ich weiß, daß du so über mich denkst», sagte diese Miene, «und es tut mir leid, daß du ein so dicker, schwerfälliger Kerl bist, daß ich dir den Beruf und manches andere voraushabe, und daß du dich deshalb ein wenig verteidigen mußt, aber ich kann mich nicht ändern, lieber Schwiegerpapa, und im übrigen bin ja auch ich bereit, dich anzuerkennen.»

      Während dieser stummen Auseinandersetzung wechselten sie ein paar scherzhafte Worte, und erst als sie auf eine städtische Angelegenheit zu sprechen kamen, begannen sie ernstlich und unbefangen miteinander zu reden.

      In ihrer Nähe standen Severin und Professor Junod vor ihren Frauen, die sich nebeneinander auf das Sofa gesetzt hatten. Severin sprach in seinem belehrenden Tonfall auf Junod ein, der mit schief gesenktem Kopf und emporgezogenen Brauen ungläubig lächelnd Severins breite Füße betrachtete. Die Frauen hörten einen Augenblick zu, dann setzten sie, noch eh er zu Ende war, ihr eigenes Gespräch über irgendeinen häuslichen Gegenstand fort.

      Indessen führte Albin Pfister seinen Freund am Arm von den Schnäpsen weg zur nächsten Fensternische. «Wenn ich das vorausgesehen hätte, würdest du mich nicht erwischt haben», sagte er mißmutig.

      «Was, erwischt!» widersprach Paul. «Ich habe dir gesagt, du sollest bitte auch gleich zum Nachtessen kommen …»

      «Das ist eine ausgewachsene Soiree, die Damen sind in Toilette, die Herren im Smoking. Ich bin der einzige, der keinen Smoking trägt, und du hättest wissen können, daß ich keinen habe.»

      «Du mein Gott, das ist doch alles so furchtbar gleichgültig!» erwiderte Paul gequält, mit einer wegwerfenden Handbewegung.

      Albin schwieg trübe lächelnd, er fühlte sich nicht verstanden und fand es daher sinnlos, länger zu streiten; als aber Paul fortfuhr, sich zu verteidigen und diese ganze Veranstaltung als Komödie zu bezeichnen, versuchte er noch einmal, sich begreiflich zu machen. «Gewiß, es ist an und für sich ganz gleichgültig», sagte er ruhig. «Ein Smoking imponiert mir vielleicht noch weniger als dir. Aber ich bin gewohnt …»

      «Gertrud, komm, hilf mir!» rief Paul seiner Schwester zu, die durch das Eßzimmer ging. Er nahm mit einer versöhnlichen Gebärde Albins Arm und erklärte, als Gertrud vor ihm stand: «Albin ist unglücklich, daß er keinen Smoking trägt, und läßt’s mich entgelten, weil ich daran schuld bin. Bitte beurteile das Verbrechen!»

      Albin empfing von Gertrud sofort wieder den Eindruck, den er bei der Begrüßung empfangen hatte und den fast alle Menschen kannten, die mit ihr in Berührung kamen, den Eindruck einer frischen, offenen und warmherzigen jungen Frau, der man schon nach dem ersten kräftigen Händedruck Vertrauen und Sympathie unmöglich versagen kann. «Ich bin nicht unglücklich», erklärte er lächelnd und blickte in ihre freundlich teilnehmende Miene, «aber man soll sich den Formen einer Gesellschaft, in der man verkehren will, anpassen, sonst bleibt man besser zu Hause …»

      «Aber», warf Paul ein, «es wird dir hier doch kein Mensch übelnehmen, daß du …»

      «Ja, gewiß, man wird Rücksicht nehmen, aber das ist es ja eben! Daß man gerade auf den Gast Rücksicht nehmen muß, der nicht zur Familie gehört, das ist für diesen Gast doch einigermaßen peinlich, oder er müßte in gesellschaftlicher Beziehung eine dicke Haut haben; ich habe aber eine dünne, leider, sonst käme ich vermutlich über die Nichtigkeit hinweg. Du hättest es mir beizeiten mitteilen müssen.»

      «Das finde ich auch», sagte Gertrud ernsthaft. «Herr Pfister hat ganz recht.»

      Paul, der überzeugt gewesen war, daß Gertrud seinen Freund lachend beruhigen werde, blickte sie mit betontem Erstaunen an, dann verbeugte er sich plötzlich mit einem müde ergebenen Lächeln und schlenderte weg.

      «Übrigens», fuhr Gertrud fort, «in diesem Fall, glaube ich … Sie sind doch hier kein Fremder. Papa, Mama und meine Brüder kennen Sie so gut …»

      «Ja … aber wir wollen nicht mehr davon reden, ich bin schon beruhigt, daß mich wenigstens jemand begreift …»

      «Paul ist manchmal etwas unberechenbar», sagte sie heiter verurteilend und wollte noch etwas hinzufügen, als beim Büffet eine laute Bewegung entstand. Fred schlug dort knallend die Absätze zusammen und meldete sich dem Oberstleutnant, der neben Ammann aus dem Salon herüberkam, mit gespannter Miene als Schnapswache an. Gertrud betrachtete ihn lachend.

      «Unser neuer Regimentskommandant!» sagte Albin leise und blickte mit einem schwankenden Lächeln auf Hartmann.

      «Sind Sie denn auch beim Militär?» fragte Gertrud.

      Albin nickte bedauernd. «Übrigens nur als gewöhnlicher Füsilier», sagte er. «Paul und ich gehören zur selben Kompagnie.»

      «Merkwürdig! Ich kann Sie mir nicht bewaffnet vorstellen.»

      «Soo …?» sagte er scherzhaft beleidigt.

      «Ich meine …» erklärte sie heiter und ein wenig verlegen, «trotzdem Sie …»

      Er kam ihr rasch zu Hilfe. «Ja, ich bin gesund und besitze den nötigen Brustumfang. Aber … es ist wirklich kein Vergnügen für mich.»

      «Das kann ich mir denken!»

      In diesem Augenblick bat Frau Barbara die Gesellschaft zu Tische, nicht allzu freundlich, eher mit der leicht besorgten Miene einer Hausfrau, die bis zuletzt an den Vorbereitungen zum Essen teilgenommen und gewiß noch etwas Ärgerliches erlebt hat. Sie trug ein unauffälliges dunkles Kleid und als einzigen Schmuck eine alte silberne Filigrankette im Halsausschnitt, aber das vornehm Würdige ihrer Erscheinung kam dabei vollkommen zum Ausdruck. Während sie mit kaum merklichen Hinweisen jedem der Gäste seinen Platz andeutete, bat Fred feierlich um seine Entlassung als Schnapswache und machte, nachdem er sich abgemeldet hatte, militärisch rechtsumkehrt. «Mach keine Faxen, Fred!» sagte sie halb unwillig, halb belustigt, und schob ihn zu seinem Stuhl.

      «Man muß sich üben», antwortete Fred, immer mit einer Spitze gegen Hartmann, der als scharfer Drillmeister bekannt war. «Es gibt ja nächstens Krieg, nicht wahr, und wenn wir die Drehungen nicht können, sind wir verloren.»

      Diese Bemerkung entfachte sofort ein allgemeines, lebhaftes Gespräch, wie es zu dieser Zeit überall entstand, wo das Wort Krieg fiel. Man lebte im Frühling 1914, die Öffentlichkeit in ganz Europa wurde von der wachsenden Spannung offen oder heimlich ergriffen, und die Presse war voll von Gewitterzeichen. Dabei kam den meisten Menschen der Gedanke an die Möglichkeit eines «großen Weltkrieges» ungeheuerlich, ja verrückt vor. Die bürgerlichen Realpolitiker, die das Unheil fast mit offenen Augen kommen sahen, glaubten an keine Gefahr, sie waren trotz den wirtschaftlichen Nöten noch immer blind vor Stolz auf den Fortschritt und die Sicherheit ihrer