Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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Erdgeschoß den Gang durchschreiten. Sie würde ihn an seinem lässig taktmäßigen, fest auftretenden Schritte unter Hunderten erkannt haben. Auf der Treppe ließ er, wie sie es erwartete, die Spitze der Säbelscheide zwei-, dreimal gegen die Stufen klopfen, dann schritt er etwas gemächlicher, doch immer noch genau so fest auftretend, zum Garderobenständer; jetzt hing er den Säbel auf und stülpte mit einem leichten Schlag die Mütze darüber, jetzt stand er vor der Tür, zog sich auf beiden Seiten die Bluse herunter und drehte im engen Kragen kurz den Hals hin und her. Sie sah ihn vor sich, noch eh er eintrat, sie kannte die geringste seiner Bewegungen und wußte voraus, wie er sich nun beim Eintritt verhalten würde.

      Er trat ein, ein großer, kräftig schlanker Mann von dreiundvierzig Jahren, in dunkler Reithose, tadellos sitzenden Stiefeln und eng anliegender blauer Uniformbluse, mit einem gesunden, von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, dessen Ausdruck in seiner Mischung von sportlicher Derbheit, herrischer Kühle und männlicher Intelligenz nicht nur von guter Abkunft, sondern von wirklicher Rasse zeugte. Mit einem leisen, überlegenen, ironisch forschenden Lächeln näherte er sich gelassen seiner Frau, nickte leicht, als er ihre gleichgültige Miene gewahrte, und lachte dem Albrechtli zu, der ihm entgegenlief.

      «Pape, i ha schon en Sumervogel gseh», plauderte der Kleine lebhaft und schloß sein Fäustchen fest um den Karabiner des Säbeltragriemens, der von Papas linker Hüfte herabhing.

      «Soo?» machte Papa teilnehmend und strich ihm über das dunkelblonde Haar, dann fragte er schon etwas gleichgültiger, während er beiseiteblickend die eingegangenen Briefe und Zeitungen musterte: «Ja und dänn? Häsch en gfange?» Ohne sich um die Antwort zu kümmern, nahm er am Tische Platz, ließ den Knaben, der den Tragriemen nicht freigab, auf seinem Knie reiten und entfaltete eine Zeitung.

      Gertrud ging schweigend hinaus. Sie suchte immer von neuem, ihren Widerwillen gegen diesen Mann zu unterdrücken und hoffte jedesmal irgendeine freundliche Änderung an ihm wahrzunehmen, aber bei seinem Anblick fühlte sie sich unweigerlich immer wieder abgestoßen. Sie gab sich Mühe, ihn nur von seiner besten Seite zu sehen, weil sie friedlich mit ihm auskommen wollte, aber sie bemerkte mit einer Schärfe, die ihr selber nicht geheuer vorkam, seinen hintersten Fehler, ja sie wurde gegen ihren guten Willen schon durch Nichtigkeiten gereizt, an denen er, wie sie genau wußte, unschuldig war. Das ironischüberlegene Lächeln, das seine schmalen, kühlen Augen besonders dann umspielte, wenn sie ihre Abneigung nicht zu verbergen wußte, und die beständige unerschütterliche Sicherheit seines Auftretens empörten sie. Nach den peinlichsten Vorfällen benahm er sich so, als ob alles in Ordnung wäre, und nie zeigte er vor ihr die geringste Verlegenheit, auch wenn er unmittelbar Grund dazu hatte. Oft wünschte sie, ihn richtig böse zu sehen, ihn schimpfen und fluchen zu hören, aber er beherrschte sich, und dieser Beherrschung gegenüber war sie machtlos.

      Hartmann hatte bei seinem Eintritt auf den ersten Blick erkannt, daß Gertruds «Verstimmung» nicht gewichen war, und infolgedessen hatte auch er die Haltung nicht geändert, die er seiner Frau gegenüber seit Monaten einnahm. Über den eigentlichen Grund dieser Verstimmung war er sich nicht klar. Nach seiner Meinung hing sie mit Gertruds gegenwärtiger Vorliebe für Dinge und Anschauungen zusammen, zu denen er kein Verhältnis gewinnen konnte, für das «Innenleben», für Musik, schöngeistige Bücher, Gedichte. In einer der selten gewordenen Aussprachen hatte sie erklärt, daß sie ihm nicht entgegen zu kommen vermöge, wenn er so gar keine Beziehung zu ihrem innern Leben finde, und daß der Weg zu ihr nicht über den Körper, sondern über die Seele führe. «Warum versuchst du nicht wenigstens, mich zu verstehen? Du hast keine Ahnung, wie es in mir drin aussieht, du lebst in deinem alten Tramp weiter, und ich kann verhungern neben dir.» Das waren ihre Worte gewesen, ziemlich dunkle und etwas prätentiöse Worte. Er hielt das für eine Laune, für eine Art von persönlicher Mode. Das einzig Rätselhafte daran schien ihm ihre dauernd und hartnäckig verstimmende Wirkung, im übrigen aber waren Launen eine allgemein weibliche Schwäche, gegen die man mit Vernunft und Logik nichts ausrichten konnte. Schließlich mußte dies alles ein Ende nehmen oder doch seine Vorherrschaft verlieren, und dann würde Gertrud wieder mit ihm ausreiten, an Pferden und Hunden Freude haben, Rennen besuchen und die forsche, frische Frau sein, für die er sie im Grunde hielt. Er war entschlossen, bis dahin auszuharren, sich keine Blöße zu geben, der Sache nicht mehr Gewicht zu verleihen als sie besaß und, die «kritischen Augenblicke» ausgenommen, Gertrud ruhig ihrer Laune zu überlassen.

      Beim Nachtessen, während sie sich wie immer mit dem Kleinen beschäftigte, saß er in seiner gewohnten Haltung, die ihm auch zu Hause keine Nachlässigkeit erlaubte, an der obern Schmalseite und richtete bald ein mahnendes Wort an Albrechtli, bald ein höfliches an seine Frau.

      Gertrud sah ihn, ohne besonders nach ihm hin zu blicken, sie sah, wie er sich mit der breiten Brust in der eng anliegenden Bluse leicht nach vorn neigte und sorgfältig einen Bissen zum Munde führte, sie sah sein gesundes, sicheres, im Lampenschein rötlich braun schimmerndes Gesicht, das auch jetzt mit keiner Miene die Unerträglichkeit dieser Lage zugestand, und sie blieb kalt wie immer. Heimlich wünschte sie wohl, daß er mit der Demut des Leidenden, die das heillose Zerwürfnis ihn doch gelehrt haben müßte, ihre Hand ergreifen und sagen würde, daß er es nicht länger ertrage und daß er versuchen wolle, sie zu verstehen. Aber sie wußte, daß er höchstens auf eine unverschämt mannhafte Art zärtlich werden konnte, um etwas zu erlangen, was ihm nicht zukam, aber niemals imstande war, mit jenem menschlichen Zugeständnis ihr Inneres anzurufen.

      «Iß jetzt, Schatzi, gäll!» mahnte sie den Kleinen, dessen Gegenwart bei Tisch ihr die gemeinsamen Mahlzeiten allein noch erträglich machte.

      Albrechtli löffelte etwas eifriger in seinem Brei, aber da er genug hatte, begann er bald wieder gruchsend hin und her zu rutschen, faßte den Löffel falsch an und schielte zum Papa hinüber.

      «Männchen! Stillsitzen und ausessen!» rief Hartmann in einem scherzhaften hochdeutschen Befehlston.

      Gertrud fand das lächerlich, und als er ihr gleich darauf mit der Frage «Butter?» höflich die Schale anbot, nahm sie daran Anstoß, daß er nicht das schweizerdeutsche Wort «Anke» brauchte. «Er verfälscht alles, es ist alles gemacht an ihm, seine Haltung, sein Standesbewußtsein, seine Ausdrücke, er ist nicht einmal mehr ein rechter Schweizer.» Daß eben diese Haltung ihr einst Eindruck gemacht hatte, davon wußte sie nichts mehr.

      Als er sich vom Tische erhob, klingelte sie dem Mädchen, und als er zur Türe schritt, sagte sie gleichgültig: «Du bist dann auf übermorgen bei Mama zum Nachtessen eingeladen.»

      Er hielt an und richtete einen erstaunt fragenden Seitenblick auf seine Frau.

      «Wir spielen Quintett, nicht wahr», erklärte sie, um einen Ton zu heftig. «Severin und Professor Junod bringen ihre Frauen zum Nachtessen mit … und dann kommt noch ein Herr Pfister … nachher spielen wir bis mindestens um elf Uhr.»

      «Hm … was habe ich dabei zu tun?» fragte er, unwillig über diese offenbar nur halbe Auskunft, und schüttelte knapp den Kopf.

      «Mach ganz wie du willst, es zwingt dich niemand!» antwortete sie achselzuckend und hob den Knaben vom Stuhl.

      «Ich würde mich schwerlich zwingen lassen», erwiderte er. «Aber das dürfte etwas anders gemeint sein, vermute ich. Wegen der Musik wird Mama mich nicht einladen …»

      Das Mädchen kam, um das Geschirr abzuräumen.

      Hartmann wartete, auf- und abgehend, bis es fertig war, dann trat er vor Gertrud hin, die Hände in den Seitentaschen der Bluse, und erklärte mit spöttischer Ruhe: «Schön, wir werden übermorgen zusammen hinfahren.»

      Sie wandte sich schweigend von ihm ab und begann ein paar Dinge vom Eßtisch zu versorgen, während er gelassen hinausging.

      13

      Frau Barbara wollte ihre Gäste nicht, wie es üblich war, vor dem Essen im Salon einpferchen, um sie dort ohne rechten Anschluß unter gezwungenen Gesprächen auf den Ruf zu Tische wie auf eine Erlösung warten zu lassen, sondern sie hatte von Anfang an die Tür zum Eßzimmer weit geöffnet, auf dem Büffet hinter der festlich gedeckten Tafel für die Herren eine Reihe von Schnäpsen bereitgestellt und Fred mit der Bedienung beauftragt. Fred stand nun verschmitzt lächelnd vor diesen Flaschen und schien