Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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wenn es dir Spaß macht!» antwortete Severin.

      Fred setzte sich abseits in den bequemsten Stuhl, streckte seine langen Beine aus und verfolgte schmunzelnd die Vorbereitungen zum Quartettspiel, die in ihrer ernsthaften Umständlichkeit ihn immer belustigt und zugleich erwartungsvoll gestimmt hatten. Er verstand nichts von Musik, was er gelegentlich betonte, aber er konnte zwei Stunden lang hingegeben und mausestill zuhören. Er vernahm jetzt, daß die Spieler mit dem Quartett opus 64 Nr. 5 von Haydn beginnen wollten und freute sich darauf. Lächelnd sah er zu, wie sie die Instrumente stimmten. Paul gab den Ton an und Severin strich ein paarmal energisch über die Bratsche, während Junod, die Linke an der Schnecke seines Cellos, den Kopf mit dem gepflegten weißen Spitzbart horchend ein wenig zur Seite geneigt, die Brauen mit gespanntem Ausdruck hochgezogen, leise den Bogen über die Saiten führte. Albin Pfister wurde mit seiner Geige zuletzt fertig und schien sich dann etwas rasch zufrieden zu geben, aber Severin, der ihm aufmerksam zuhörte, sagte mit nachsichtiger Milde: «Das E ist zu tief.» Endlich waren sie bereit.

      Die zweite Geige und die Bratsche setzten piano mit den Achteln des einfachen Begleitmotivs ein, und das Cello antwortete, aber schon nach den ersten drei Takten unterbrach Severin das Spiel, das gewiß von selber in den rechten Fluß gekommen wäre, mit der lauten Bemerkung: «Ja, aber wir wollen das doch miteinander machen … noch einmal, bitte!» Sie fingen zum zweitenmal an, und als die erste Geige einsetzen sollte, gab Severin mit dem Kopf ein Zeichen, was offenbar ganz unnötig war und Paul nur ärgerte. Trotzdem setzte Paul rechtzeitig ein und ließ noch warm beseelt das Thema mit dem innigen Aufschwung erklingen. Aber gleich darauf rief Severin laut «piano, piano», und schon bei den ersten Triolen unterbrach er das Spiel abermals: «Paul, du drängst fürchterlich. Es ist doch ein moderato, nicht wahr … ja, wollen wir nicht lieber noch einmal von Anfang an …?»

      Fred runzelte die Stirn und dachte, während sie noch einmal anfingen: «Severin ist ekelhaft!»

      Indessen kam das Spiel etwas in Fluß, und Severin unterbrach es nicht mehr, doch immer wieder verlangte er mit dringlicher Stimme ein piano, ein crescendo, bis plötzlich Paul noch mitten im ersten Satz nun seinerseits aufhörte und gereizt erwiderte: «So spiel doch du die erste Geige!» Severin antwortete sachlich, ohne sich im geringsten aufzuregen: «Ich bin sehr einverstanden, daß du die Führung übernimmst, aber du hast bis jetzt noch kein Wort zu äußern geruht, nicht wahr, und einer muß es halt schließlich tun. Ja, also was wollen wir jetzt … wir können ja meinetwegen bei E weiterfahren … übrigens, bitte, Paul!»

      Sie fuhren bei E weiter, führten den Satz zu Ende und begannen gleich mit dem Adagio cantabile, aber sie hatten die innere Fühlung miteinander verloren, das Adagio erblühte nicht, und vor dem Menuett hielt Severin wieder einen Vortrag über das Tempo, in dem es gespielt werden sollte.

      Fred erhob sich laut gähnend und schlenderte mit langen, dröhnenden Schritten hinaus.

      10

      Paul trat vor den Spiegel und kämmte sich das lange wellige Haar über den Kopf zurück, in unbestimmten Gedanken an Papas neuen Vorschlag, der ihn dauernd beschäftigte. «Ich bin ja beinah einverstanden, wenn ich ganz ehrlich sein will», dachte er, legte den Kamm beiseite und schaute fragend sein Spiegelbild an, zuerst noch, ohne es recht zu gewahren, dann genau und neugierig forschend. Das Gesicht gefiel ihm; es war länglich, doch nicht zu schmal, und hatte ein kräftig entwickeltes Kinn, wurde aber ganz von der Stirne beherrscht, der ausgeprägten, wohlgeformten Stirne des vorwiegend intellektuellen, um nicht zu sagen geistigen Menschen, während der weiche, volle Mund und die etwas tiefliegenden Augen den skeptisch müden Ausdruck besaßen, den er auch in seiner Haltung ein wenig hervorkehrte. «Bist du ein Journalist? Sieht ein Journalist so aus?» fragte er und begann sich über diese offenbar eitle Bespiegelung sogleich selber lustig zu machen, indem er an der Nasenwurzel die Haut runzelte, die Augen zukniff und bleckend die gepflegten Zähne entblößte: es war das lautlose, sarkastisch heitere Grinsen, mit dem er so manches zu verlachen pflegte.

      «Na ja … ich werde mich aber doch nur mit dem Feuilleton beschäftigen, vielleicht läßt sich da etwas machen», dachte er, verlor das Gesicht wieder aus den Augen und trat weg. Er ging aus, ohne Hut und Schirm, nur im Regenmantel, obwohl ein feuchtes Geflock, halb Regen, halb Schnee, schräg zwischen den Häuserfronten herabglitt; auf der Rathausbrücke querte er die Limmat und stieg in die engen Gassen der Altstadt hinauf, wo Albin Pfister mit seiner Mutter den Dachstock eines schmutziggrauen Hauses bewohnte.

      In Albins Zimmer, einem niedern Raum mit offenen Bücherregalen, warf sich Paul in einen alten Lehnstuhl und hatte nichts dagegen, daß Albin die schon benutzte Kaffeemaschine noch einmal in Betrieb setzte. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortete er achselzuckend, mit einem trüben Lächeln: «Hm … ich wollte, ich wäre in München geblieben. Aber als folgsamer Sohn bin ich heimgekehrt, nicht wahr … und jetzt bin ich lackiert, wie das vorauszusehen war. Erst steckt mich der Herr Oberst unter die Soldaten, und nun kommt selbstverständlich der Beruf dran, für den uns der liebe Gott erschaffen haben soll …»

      «Höre, Paul, du solltest doch etwas veröffentlichen … auf mich hin, du darfst es wagen! Und wenn’s noch kein Meisterwerk ist, so wird es doch eine sehr, sehr achtbare Legitimation sein, nicht nur den Eltern gegenüber.»

      Paul winkte ab und schwieg ein paar Sekunden mit einem bittern Ausdruck. «Was meinst du», fragte er dann zögernd, «wieviele dichten, bevor sie in einem bürgerlichen Berufe landen? Es gibt tausende allein im deutschen Sprachgebiet … und es gibt tausende von unveröffentlichten Manuskripten, an denen die Verfasser mit Herz und Seele hangen, obwohl niemals ein Hahn danach krähen wird. Es ist vermutlich schlimm für mich, daß mich das bedenklich stimmt …»

      Albin schüttelte erheitert den Kopf. «Du hast das gefährliche Alter längst hinter dir. Du bist doch kein Gymnasiast mehr … Ich habe dieselben Zweifel durchgemacht und habe mich bis jetzt der öffentlichen Fron doch nicht unterworfen, obwohl bekanntlich auch noch kein Hahn nach mir kräht. Aber ich werde nicht unterkriechen.»

      «Du hast gut reden, dir sitzt keiner auf dem Nacken, du bist unabhängig und kannst tun, was du willst, aber ich …» Er stockte und spürte beschämt, daß er gerade dies nicht hätte sagen dürfen.

      Albin schwieg, mit einer kaum merklichen Vertiefung des traurig-heitern Ausdrucks, der seine ehrlichen Augen umlagerte. Er hatte nicht gut reden, ihm saß mehr auf dem Nacken als dem empfindsamen und übersättigten Sohne wohlhabender Eltern.

      Albin Pfister tat das Hoffnungsloseste, was man in dieser nüchtern betriebsamen Welt tun konnte, um den allgemeinen Kampf ums Dasein mit Ehren zu bestehen, er beschränkte sich auf sein inneres Leben, und er dichtete. Er war überzeugt, daß ihm nichts anderes übrig blieb, er hatte sich nicht nur zu einem der üblichen Berufe untauglich erwiesen, er hatte schon unter der Notwendigkeit, nebenbei ein wenig Geld zu verdienen, auf eine scheinbar ganz unangemessene, fast krankhafte Art gelitten. Seit dem Tode seines Vaters, eines bescheidenen Antiquars, lebte er, die verständnislose und dennoch verehrte Mutter als beständigen Vorwurf neben sich, in diesem Dachstock, verzichtete auf Theater, Konzert und Kaffeehausbesuch, sparte sich die Zigaretten vom Munde und tat, was er mußte. Eine fragwürdige Haltung in den Augen der Welt, da kein sichtbarer Erfolg sie öffentlich rechtfertigte! Albin Pfister hatte mit einem schmalen ersten Gedichtband und ein paar Legenden, die in einer Zeitschrift erschienen waren, zu einem solchen Erfolg noch wenig Anlaß gegeben. Er vermied nach außen hin denn auch jede Andeutung seiner besonderen Lage. Von sich und seiner Arbeit sprach er kaum je aus eigenem Antrieb, und jenen sonst achtbaren Leuten, die ihn wohlwollend nach seinem Heimlichsten zu fragen pflegten, wich er entschlossen aus. Ein solcher Mensch hat nicht gut reden.

      «Entschuldige, ich schwatze Kohl …» fuhr Paul leise fort und legte sich gequält die Rechte auf die Stirn. «Ich sollte es ja wissen … du hast’s viel schwerer …»

      Albin winkte unwillig ab.

      «Na ja … übrigens, um offen und ehrlich zu sein … was nun mich betrifft … ich habe jetzt das fatale Gefühl, daß ich im Begriffe bin, zu kapitulieren. Ich will jetzt … bitte, halte dich an der Stuhllehne …» Er wandte den Kopf ein wenig beiseite und deckte mit der Hand ironisch beschämt die Augen. «… ich will jetzt Journalist werden.»