Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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und den jüngsten Krieg auf dem Balkan beherrscht.

      «Ach, jedes zweite oder dritte Jahr einmal, solang ich mich erinnere, redet man davon, daß es Krieg geben werde», sagte Klara, die Frau des Professors, nachdem schon die verschiedensten Ansichten geäußert worden waren. «Die Männer sind immer gleich Feuer und Flamme, aber … ich sehe nicht ein, warum es ausgerechnet dieses oder nächstes Jahr Krieg geben soll.» Sie war mit der lockeren Fülle ihres angegrauten Haares, den lebhaften Augen und ausgeglichenen Zügen eine noch immer schöne, an Gestalt ebenso stattliche Frau wie ihre Schwägerin, doch weniger herb, lässiger in der Haltung und im ganzen liebenswürdiger.

      Ihrer friedlichen Meinung widersprachen sofort drei oder vier Stimmen, wobei Severins laute und klare Belehrung den Sieg davontrug. «Tatsache ist», sagte Severin, «daß Rußland mit der Mobilisation begonnen hat. Ein Staat wie Rußland aber mobilisiert nicht zu seinem Vergnügen oder nur so probeweise, wie es allerdings behauptet wird, eine Riesenarmee. Und daß Deutschland zuschaut, bis es angegriffen wird, ist auch nicht denkbar.»

      «Denkt über den Krieg, wie ihr wollt», erklärte Frau Barbara, «aber mir will es nicht in den Kopf, daß in unserm Zeitalter noch zivilisierte Völker übereinander herfallen könnten.»

      «Aber Mama», widersprach Severin, «was meinst du denn, warum diese Völker Millionen um Millionen für Kriegsrüstungen ausgeben, und …»

      «Die Völker? Ich denke die Regierungen!» warf Paul ein.

      «… und warum zum Beispiel Frankreich jetzt die dreijährige Dienstzeit einführt, das zivilisierte Frankreich?» fuhr Severin fort, ohne Pauls Einwurf zu beachten.

      In diesem Augenblick begann Professor Junod zu reden, der sich an der einen Schmalseite des Tisches bisher schweigend über seine Suppe gebeugt und sorgfältig Löffel um Löffel zwischen Spitzbart und Schnurrbart hineinbefördert hatte. «Frankreich kann nicht ruhig zusehen, wie man es in Berlin treibt, das ist ganz klar», sagte er mit seiner trockenen Stimme so ungewohnt laut, daß alle hinsahen. «Frankreich befindet sich in der Verteidigung. Das französische Volk aber wird von sich aus niemals Krieg anfangen.»

      «Jaa, Gaston …» rief Ammann von der anderen Schmalseite her zweifelnd und durch Junods Eifer belustigt, «ich weiß nicht … das Volk möchte für 1870 im Grunde doch Revanche haben …»

      «Und nachher müssen die Deutschen wieder Revanche haben», sagte Frau Barbara, ehe Junod antworten konnte, und bewegte entschieden den Kopf hin und her. «Ich finde es einfach unwürdig, daß man sich nicht friedlich verständigen kann.»

      «Die Deutschen werden nach einem Kriege kaum in den Fall kommen, Revanche zu verlangen», bemerkte Hartmann lächelnd.

      «Ah voilà!» rief Junod mit einer knappen Handbewegung gegen den Oberstleutnant und schien nun fortan auf jede weitere Bemerkung verzichten zu wollen. Aber im nächsten Augenblick behauptete er, daß die angebliche russische Mobilisation von den Deutschen erfunden worden sei, die einen Vorwand für ihre eigenen militärischen Machenschaften brauchten.

      «Aber Gaston!» rief Ammann ernsthaft. «Man gibt es ja in Rußland offen zu, daß mobilisiert wird. Die Verstärkungen der russischen Armee an den Westgrenzen haben nichts mehr mit Manöver zu tun; man baut die rückwärtigen Verbindungen aus, Eisenbahnen werden angelegt und so weiter … nein, nein, Erfindungen sind das nicht.»

      «Es läßt sich in der Presse genau verfolgen», sagte Severin mit einem Achselzucken. «Die ‹Germania› hat vorgestern wieder klipp und klar erklärt, was jetzt in Rußland geschieht; die Meldung ist auch von unserer Agentur gebracht worden.»

      «Übrigens», fuhr Ammann fort, «was man von diesem Herrn Suchomlinow hört, dem russischen Kriegsminister, klingt deutlich genug. ‹Wir sind bereit!› erklärt der Kriegsminister, und das russische Heer ist nach seiner Überzeugung ganz einfach unüberwindlich …»

      Auf diese Art ging es noch eine Weile fort, aber schließlich kamen zwischen einzelnen Tischnachbarn wieder friedlichere Gegenstände zur Sprache. Ammann gab sich, strahlend vor Zufriedenheit, bei aller Teilnahme an der Unterhaltung doch in behaglicher Breite dem Genuß der guten Dinge hin, und gelegentlich, während er verständnisvoll kauend die mächtigen Kinnladen bewegte, nickte er seiner Frau anerkennend zu. Frau Barbara saß zur Rechten ihres Mannes, oder vielmehr thronte sie dort, aufrecht, wachsam und immer bereit, das Gespräch zu lenken, dem Aufwartmädchen einen Wink zu geben, einen Gast zu ermuntern. Nichts entging ihr, und was sie besonders zu sehen wünschte, zeigte ihr der hohe, in einen schmalen Goldrahmen gefaßte Wandspiegel, dem sie schräg gegenüber saß. Gertrud, fand sie, brachte ihre Gestalt in dem einfachen blauen Abendkleid mit dem breiten, nicht sehr tiefen Ausschnitt anständig zur Geltung; dieser Ausschnitt entsprach ihren geraden, breiten Schultern, die zum kräftig schlanken, bestimmt ansetzenden Hals beinahe im rechten Winkel standen. So etwas durfte man zeigen. Das Haar trug sie wie immer in mäßig hohen, lockern Wellen, die beide Schläfen frei ließen. Sie sah hübsch aus neben ihrem Mann, der seinerseits jeden Vergleich aushielt, und zwar nicht nur hier. Mama war überzeugt, daß es in der ganzen Stadt Zürich ein so vornehmes, stattliches Paar nicht zum zweitenmal gab, und sie wäre zuversichtlich, ja glücklich gewesen, wenn sie die sichern Anzeichen des Unheils jetzt nicht mit eigenen Augen wahrgenommen hätte. Hartmann benahm sich hier seiner Frau gegenüber so liebenswürdig, wie man es nur wünschen konnte, aber Gertrud schien das kalt zu lassen, sie sprach mit ihm offenbar kein Wort mehr als nötig war. Auf ihrem sympathischen, nicht ganz vollkommenen Gesichte lag, durch ihre angeregte Lebhaftigkeit und das vielfach gespiegelte Licht hervorgerufen, ein lebendiger Glanz, der es schön machte, aber wenn sie ihrem Mann antworten mußte, wich dieser Glanz für Augenblicke einer kühlen Gleichgültigkeit. Sobald sie sich dann wieder mit Albin Pfister unterhielt, ihrem Nachbarn zur Rechten, strahlte sie vor liebenswürdiger Anteilnahme, ja vor Herzlichkeit.

      Dies war immerhin kaum auffallend in einer Gesellschaft, die den Mangel an Liebenswürdigkeit zwischen Ehegatten mit der abstumpfenden Gewohnheit des täglichen Umganges aus eigener Erfahrung zu entschuldigen vermochte. Für die Mutter aber war es von schmerzender Deutlichkeit; sie fand Gertruds Benehmen unpassend und grollte beinahe auch diesem jungen Pfister noch, den sie als klugen, bescheidenen, durchaus ehrenhaften Mann kennengelernt hatte.

      Der Abschluß befriedigte sie nicht, sie hatte mehr erwartet. Aber der eigentliche Grund ihrer Unzufriedenheit bestand in der Tatsache dieses Abschlusses selber. Sie hatte gehofft, der gesellige Abend werde ihr darüber hinweghelfen, wie eine Leichenfeier dem Trauernden vom blinden Schmerz zur Einsicht in das allgemein Gesetzmäßige seines Verlustes hinüberhilft; doch das Gegenteil war der Fall. Niemand erwähnte den Anlaß der Veranstaltung, obwohl jedermann wußte, daß in vierzehn Tagen das Haus erbarmungslos niedergerissen wurde. «Es ist ihnen gleichgültig, sie wissen, was wir dafür gelöst haben», dachte sie. «Was aber in Wirklichkeit niedergerissen wird und was wir alles verlieren, das wissen sie nicht.»

      Sie täuschte sich, es war ihnen nicht gleichgültig; das Bewußtsein, daß man hier in einem dem Untergang geweihten Hause zum Abschied um die gemeinsame Tafel versammelt war, lagerte vielmehr über der ganzen Runde, und am Ende, als Champagner eingeschenkt wurde, kam es denn auch zur Sprache. Professor Junod setzte zu einem kleinen Toast an, in dem er Frau Barbara als die Spenderin des festlichen Mahles ehrte und sie hochleben ließ als die Seele dieses Hauses, das nun wie eine überreife Schale von ihr abfallen werde. «Die Form zerfällt, wie alle Form», schloß er, «aber der gute Geist, der sie beseelt hat, lebt unverändert weiter in der Herrin, die auch in Zukunft die Hausherrin sein wird.»

      Bald nach ihm sagte Hartmann ein paar Worte; im Gegensatz zu Junod, der mit schüchtern verbindlichem Lächeln unter wiederholten leichten Verbeugungen sich während der ganzen Rede an Frau Barbara gewandt hatte, schaute er, ohne seine Haltung zu ändern, mit sachlich ernster Miene ungezwungen vor sich hin. «Das Haus Ammann», fuhr er nach einer knappen Einleitung fort, «ist mir immer als eine Verkörperung des guten schweizerischen Bürgertums erschienen, zu dem wir schließlich alle gehören. Seine Tugenden haben sich in diesem Hause bewährt, und bewähren sich immer noch. Das Kleinbürgerliche, das ihm gelegentlich anhaftet, ist hier überwunden. Dieses Bürgertum ist heute der sichtbarste Ausdruck der Nation. Manche schweizerische Tradition ist im Absterben.