Название | Schweizerspiegel |
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Автор произведения | Meinrad Inglin |
Жанр | Языкознание |
Серия | Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919954 |
Die Anfangsfigur erklang, ein leises, schmerzliches Aufatmen und ergebenes Hinsinken, ein paar Noten nur, die doch das ganze Adagio im Kern zu enthalten scheinen; die erste Geige erweiterte sie zum Thema und sang sie schon heimlich verklärt zum Grundton zurück.
In diesem Augenblick trat Frau Barbara ein. Sie kam aus einer lärmigen Unterhaltung über den schweizerischen Generalstab, die von den zwei Männern unter dem Einfluß des Weines in einem merkwürdigen Wechsel von unnachgiebiger Überzeugung und lauter Fröhlichkeit geführt wurde, während die verlassenen, müde plaudernden Frauen wiederholt mit unterdrücktem Gähnen nach der Uhr geblickt hatten. Sie war über das lange Ausbleiben der Musikanten entrüstet. Mit grollender Miene trat sie ein, entschlossen, dem eigenmächtigen Gebaren ein Ende zu machen.
Gertrud beugte sich erschrocken vor, hob wie zur Abwehr die verschlungenen Hände vor die Brust und schaute Mama flehend an. Fred runzelte mit einem bösen Ausdruck die Stirn.
Frau Barbara warf den ersten Blick auf Gertrud, den zweiten auf Fred, dann stutzte sie, sah nach den Spielern hin und stand, ihren Groll beherrschend, mit gekränkter Miene da. Die Anfangsfigur erklang jetzt wehmütig aufatmend in der Oktave, und gleich darauf begann das allen Schmerz verklärende Singen der ersten Geige.
Frau Barbara setzte sich auf den nächsten Stuhl. Eine Weile saß sie noch sehr aufrecht, aber ihre Miene entspannte sich, und als die Geige das Thema wieder aufnahm, neigte sie mit gesenktem Blick ein wenig den Kopf.
Beruhigt spielten die Streicher den Satz zu Ende, mit aller Hingabe an seine unbeschreibliche Innigkeit und im mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, daß die Seele des Meisters hier zum letztenmal in einem Raume sang, der ihr bei aller Unvollkommenheit der Musikanten doch eine bescheidene Heimat gewesen war.
II
1
Fred erwachte in der neuen Wohnung an der Dufourstraße zur gewohnten Zeit mit schwerem Kopf und einem faden Geschmack im Munde. Sogleich trat ihm das wüste Bild einer Studentenkneipe vor Augen, an der er teilgenommen hatte. «Es ist gewiß schon Mittag», dachte er, blinzelte argwöhnisch in die graue Helle des Zimmers und tastete nach der Taschenuhr. Der Zeiger stand auf sieben. Erschrocken hielt er die Uhr ans Ohr, denn entweder war sie stehengeblieben oder es mußte sieben Uhr abends sein. Die Uhr tickte regelmäßig. Er begann angestrengt darüber nachzudenken, ob es Morgen oder Abend sei, bis er die ihm schon wohlbekannten Geräusche des Milchwagens und den Pfiff des kursmäßig von der nahen Schifflände abgehenden Dampfers hörte. Es war sieben Uhr morgens. Er wunderte sich, daß er trotz seinem Bierdusel so früh erwacht war, aber plötzlich fiel ihm der Grund ein, und in diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Es war die Abschiedskneipe gewesen, an der er aus lauter Freude über den Schluß des Wintersemesters, eines unerquicklichen, sehr zweifelhaften Semesters, sich beinahe betrunken und dabei doch den Entschluß nicht aufgegeben hatte, am nächsten Morgen früh aufs Land zu fahren. Dieser Entschluß hatte ihn geweckt, und der Gedanke an die unmittelbar bevorstehenden Ferientage beim Onkel Robert im Rusgrund durchfuhr ihn jetzt aufheiternd wie ein unverhoffter Sonnenstrahl. Schmunzelnd sprang er aus dem Bett, und eine gute Stunde darauf, nachdem er gebadet und gefrühstückt hatte, stieg er am Stadelhofer Bahnhof schon völlig frisch und unternehmungslustig in den Zug.
Auf der ganzen Fahrt dachte er nur noch daran, ob ihn Christian wohl am Bahnhof erwarte und ob im Rusgrund alles beim alten geblieben sei. Er sah sich mit dem Vetter beim Haus vorfahren, die Laufhündin Fineli trabte wedelnd um das Gefährt, Martha und Lisi kamen herbeigelaufen, vor dem Haus hing Wäsche, der Knecht Bärädi sah neugierig vom Stall herüber, und die Sonne schien, wie sie in der Stadt nicht scheinen konnte. Gegen das Ende der Fahrt erkannte er eine alte Eiche wieder, die nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt war, und als das Stationsgebäude selber in Sicht kam, entdeckte er, den Kopf unter dem offenen Fenster, Christians Einspänner. Den Vetter sah er dort neben einem großgewachsenen Mann, den er erst in der Nähe als Christians älteren Bruder Karl erkannte. Er stieg aus und schüttelte beiden kräftig die Hand.
«So, wieder ein Semester erledigt?» fragte Karl, während Christian sich um Freds Koffer bekümmerte.
Karl erwartete einen in wenigen Minuten fälligen Zug, um in die Stadt zu fahren. Er war ein dreißigjähriger, großer, grobschlächtig gebauter Mann in soliden Schuhen, mit einem weißen Kragen über dem farbig gestreiften Hemd und einer peinlich geknüpften bunten Krawatte. Er hatte dem Bauerngewerbe den Rücken gekehrt, weil es «keine Aussichten» bot, und sich nach einem kaufmännischen Examen allmählich «in den Handel hineingearbeitet». Dabei war er eifrig bestrebt, seine allgemeine Bildung zu fördern, er besuchte Hochschulkurse, lernte Sprachen und verfolgte in den Zeitungen aufmerksam den Lauf der Welt. Er wollte vorwärtskommen. Seine Beziehungen, besonders die verwandtschaftlichen zum Nationalrat und Brigadekommandanten Ammann, nützte er anständig, aber entschlossen aus, er besaß einflußreiche Freunde unter den liberalen Parteigenossen und war Offizier, Hauptmann in einem Landbataillon, das er in zwei, drei Jahren zu befehligen hoffte.
Fred war sich nicht ganz klar, wie er ihn zu beurteilen hatte, er schätzte ihn als ehrlichen und anständigen Menschen, fand aber seinen Bildungseifer und seine Strebsamkeit unsympathisch. Im Verkehr mit ihm beschränkte er sich auf einen freundlich ironischen Ton, den Karl ebenfalls ironisch beantwortete, obwohl er vor dem gesellschaftlich gebildeten Stadtbürger, dem Akademiker, dem Sohne seines einflußreichen Onkels im Grunde eine naive Hochachtung hegte.
«Ja, unsereiner muß an die Arbeit, wenn andere Leute in die Ferien fahren», sagte Karl, wobei er über diese Tatsache nicht eben unglücklich aussah.
«Dafür bringst du es auch zu etwas!» erwiderte Fred mit geheuchelter Achtung.
«Jaja, schon recht, du wirst ja auch nicht im Rusgrund hängen bleiben.»
«Das wär’ mir noch lang nicht das Letzte. Ich habe genug von der Stadt.»
«In den Ferien! Wir werden uns aber am Ende doch häufiger in der Stadt treffen als auf dem Lande … Im Sommer rückst du in die Aspirantenschule ein, nicht?»
«Es scheint!»
«Das wird ein anderer Betrieb als in den Wiederholungskursen, du wirst schon sehen. Wenn Hartmann Schulkommandant ist …» In diesem Augenblick fuhr der Zug ein, aber Karl schien ihn gar nicht zu beachten, er sprach ruhig weiter, indessen ein paar Fahrgäste aus- und einstiegen, dann streckte er plötzlich seine breite Rechte aus, drückte Fred sehr bestimmt und kräftig die Hand, nickte Christian flüchtig zu und bestieg ohne Hast ein Abteil, dessen Tür der Zugführer bereits geschlossen hatte.
Fred und Christian gingen zum Einspänner und fuhren sogleich los, eben als sich der Zug nach der entgegengesetzten Richtung ebenfalls in Bewegung setzte. Karl stand am Fenster und winkte maßvoll mit der flach erhobenen Hand, Fred winkte auch, aber ausgelassen, indem er aufstand und den Arm schwenkte, dann verloren sie einander aus den Augen.
Die Straße zog sich außerhalb der Ortschaft zwischen Wiesen und jungbelaubten Obstbäumen gegen einen langgestreckten, oben bewaldeten Höhenzug hin, den sie in einer weit ausgreifenden Schleife gemächlich erklomm. Die zwei Vettern saßen bequem zurückgelehnt nebeneinander; den Koffer hatte Christian hinten aufgeschnallt, und über den Bock hinweg lenkte er «Sepp», einen braunen Wallach, der hier auf ebener Strecke einen stampfenden Trab angeschlagen hatte. Zu beiden Seiten der Straße waren Arbeiter damit beschäftigt, hohe Stangen aufzustellen. Fred erfuhr, daß die Straße auf ein Schützenfest hin mit Wimpeln versehen werde, und als sie den Fuß der Höhe erreichten, bemerkte er, daß auch am nahen Schießstand Leute an der Arbeit waren.
«Wir müssen den Stand erweitern», erklärte Christian, «es ist ein kantonales Fest, wir würden da mit unsern zehn Scheiben bei weitem nicht auskommen.»
«Jaso, da bist du natürlich