Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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mehr zu tun, als man sich vorstellt. Die Komitees sind schon lang an der Arbeit. Ich habe zwar vorläufig noch nicht viel zu tun, ich bin beim Schießkomitee, aber … es gibt doch Sitzungen, und … schließlich muß alles klappen.»

      «Wie manches Komitee gibt es denn da? Ich habe keine Ahnung, wie so etwas zustande kommt.»

      «Ja … an der Spitze steht das Organisationskomitee, nicht wahr … und dann gibt es also ein Schießkomitee, das den Plan aufstellen, das eigentliche Schießen durchführen und die Abrechnung machen muß … dann ein Baukomitee, das jetzt eben an der Arbeit ist … hinter dem Stand wird noch eine Festhütte für etwa dreitausend Personen gebaut, damit fangen sie nächstens auch an … die Budenstadt kommt auf beide Straßenseiten. Dann gibt es noch ein Komitee für die Sammlung von Ehrengaben, ein Dekorations-, ein Empfangs- und ein Pressekomitee, ein Wirtschafts- und ein Unterhaltungskomitee, ein Finanzkomitee, ein Komitee für den Sanitätsdienst, für Unterkunft, Polizeiaufsicht, Verkehr …»

      «Hör auf!»

      «Jaja, das muß so organisiert sein, sonst geht’s schief. Wir rechnen mit einer Beteiligung von viertausend Schützen, bei einer Plansumme von zweihunderttausend Franken. Das Fest dauert zehn Tage …»

      Fred hörte aufmerksam zu, wunderte sich, stellte Fragen und zeigte eine Anteilnahme, die ihm eben noch fern gelegen hatte. Ein Schützenfest war für ihn bis jetzt höchstens ein patriotischer Rummel gewesen wie alle derartigen Anlässe, ein Ausdruck jener plebejischen Betriebsamkeit, die von intellektuellen und höher gebildeten städtischen Kreisen als «schweizerische Festseuche» verurteilt und verspottet wurde. Jetzt, da er Christian ernsthaft und einsichtig davon reden hörte, begann auch er das kommende Fest unmerklich für eine große und wichtige Aufgabe zu halten.

      Christian war ein einfacher und tüchtiger junger Mann, der mit seinem Vater zusammen die Landwirtschaft betrieb. Obwohl er, von den Schulen abgesehen, nie eine andere als bäuerliche Tätigkeit ausgeübt hatte, unterschied er sich doch von den ganz ursprünglichen Bauern der Landkantone, er war im sozialen Sinne geweckter, im Auffassen rascher und im Denken beweglicher, er war loser in der Erde verwurzelt als jene und stand schon auf der Schwelle zum Bürgertum. Seinesgleichen gab es unter kleinen Handwerkern, Arbeitern und im Umkreis der Städte auch unter Bauern zu Tausenden; sie fielen nicht auf und traten persönlich nur wenig hervor, aber sie bildeten eine für die Zukunft des Volkes entscheidende Schicht, sie stellten eine von der Erde nicht mehr gebundene und von Vorurteilen noch nicht ernstlich gehemmte Kraft dar, mit der alles möglich schien. Die tüchtigsten Handwerker, Aufseher, Vorarbeiter, die zuverlässigsten Eisenbahner, die brauchbarsten Soldaten und Unteroffiziere stammten aus der jungen Generation dieser Mittelschicht, wie denn übrigens auch Christian als einer der fähigsten Korporale seiner Kompagnie galt. Er war ein wenig kleiner als Fred, doch stämmiger, ein gesunder, kräftig gebauter Bursche mit krausem dunkelblondem Haar, gleichmütig blickenden Augen und leicht hervortretenden Backenknochen. Seinem Wesen nach schien er nicht eben heiter, er besaß einen ernsten, manchmal fast mürrischen Ausdruck und lachte selten laut, obwohl er sich über nichts zu beklagen hatte und allerdings auch kaum jemals klagte. Im Wagen neben Fred taute er nun etwas auf oder er verbarg doch die verhältnismäßig gute Laune nicht, die ihn im Grunde erfüllte.

      Als sie plaudernd die halbe Höhe erreicht hatten, stand der Wallach plötzlich still. «Hü!» rief Christian, schüttelte das Leitseil und griff nach der Geißel, aber Fred hielt ihn zurück. «Laß ihn doch ein bißchen stehen!» bat er. Er fand es lustig, daß Sepp aus eigenem Ermessen hier anhielt.

      «Er probiert nur etwas, der faule Hagel, er hat schon ganz andere Fuder da hinaufgezogen», sagte Christian, doch fügte er sich und zog die Bremse an, worauf Sepp befriedigt den Kopf senkte und aufwarf.

      Sie saßen im Schatten der Berglehne, nahe am Waldrand, während die auslaufenden Hänge unter ihnen und das weite Land zu ihrer Rechten im klaren Licht der Frühlingssonne lagen.

      «Weißt du, mir ist sauwohl, trotzdem ich gestern beinah einen Klapf hatte», gestand Fred und blickte seinen kurz und trocken auflachenden Vetter vergnügt an. Christian war für ihn die Hauptperson im Rusgrund. Das Schlichte, Anständige und Echte an ihm war ihm sympathisch, in seiner Nähe pfiff er auf das städtische Gehaben, und sein geringster Freundschaftsbeweis ging ihm näher als die lauteste Kameradschaftsbezeugung seiner Studiengenossen.

      «Hü!» rief Christian nach einer Weile und löste die Bremse, worauf Sepp sich mit einem Ruck ins Geschirr legte und sogleich rüstig ausschritt. Vor der etwas steileren Strecke durch den Wald aber stiegen die Vettern aus und gingen neben dem Wagen bis auf die Höhe, wo sie von der breiten Straße bald in einen leicht abfallenden Fahrweg einbogen. Auf diesem noch morgenfeuchten, von hohen Böschungen gesäumten Weg, über dem die Tannäste sich oft von beiden Seiten her zusammenschlossen, begann der Gaul zu traben. «Jetzt will er heim», sagte Christian und drehte die Bremse fester an.

      Es war denn auch die letzte Strecke, es war der Heimweg. Als sie zum Waldrand hinausfuhren, öffnete sich wie ein großer grüner Mutterschoß eine weite Mulde vor ihnen, und mitten darin eingebettet, von Bäumen halb verdeckt, lagen Haus und Stall. Fred stieß vor Übermut einen Laut aus, der ein Jauchzer sein sollte, aber nur ein heiserer Schrei war; er konnte gar nicht jauchzen. Christian lächelte über die freudige Erregung seines Vetters still vor sich hin, doch Fred bemerkte es nicht; während sie in die Mulde hineinfuhren, saß er, die Hände vergessen zwischen den Knien, mit kindlich strahlendem Gesicht aufrecht und schweigend da.

      In der Nähe des Gehöftes war vorerst kein anderes Lebewesen zu entdecken als ein Huhn, das sich von seiner Schar zu weit entfernt hatte und beim Nahen des Einspänners wackelnd davonrannte. Gleich darauf aber meldete sich drüben beim Stall mit kräftiger Stimme Plutus, ein Appenzeller Sennenhund, und als sie vor dem mächtigen Riegelhaus anhielten, kam wirklich Fineli dahergetrabt, eine weiß und gelb gefleckte Schweizer Laufhündin. Fineli begrüßte ihren Herrn mit ein paar Trillern, dann schwieg sie und musterte aufmerksam den Gast; sobald aber Fred sie anrief, erkannte sie ihn und schwang freudig die Rute.

      Tante Marie, die Hausfrau, kam zum Empfang herab und hieß den Gast willkommen, mit dem freundlich offenen Lächeln, mit dem sie ihn immer empfangen hatte, das aber nach seiner Erfahrung rasch und endgültig wieder hinter einer bald herben, wachen, bald mütterlich besorgten Miene zu verschwinden pflegte. Es war eine etwas untersetzte, noch kaum recht ergraute Frau, die nicht eben viel vorstellte, aber «Haare auf den Zähnen» hatte und ziemlich scharf, doch gerecht und ohne Launen regierte.

      Unter einem offenen Fenster des ersten Stockes stand gerötet und lachend Lisi, ihre jüngere Tochter, und winkte scherzhaft ausgelassen mit einer Küchenschürze.

      «Jaja! Gib du auf die Suppe acht!» rief die Frau, während sie Fred zur Haustür begleitete.

      Im dritten Stock beugte sich die etwas blassere Martha über eine Fensterbrüstung und schaute unbemerkt mit einem stillen Lächeln auf den Vetter hinab.

      Nachdem Fred die Hausinsassen kurz begrüßt und in seinem Zimmer auf Tante Maries Verlangen seine Kleider aus dem Koffer genommen hatte, damit sie keine Falten bekämen, begab er sich schmunzelnd zum Mittagessen in die große Stube. Hier richtete er seine Grüße aus und beantwortete eine Menge Fragen, bis Lisi die Suppenschüssel hereintrug und die Familie sich um den Tisch versammelte. Der Augenblick kam, wo das Gespräch plötzlich verstummte und alle Tischgenossen mit gesammelter Miene ein wenig den Kopf senkten, ein kurzer, stiller Augenblick, dem Fred sich ernsthaft fügte, obwohl er wußte, daß sie diesen Brauch nur der Frau zuliebe noch beibehielten. Dann aber wurde das Gespräch sofort wieder lebhaft aufgenommen, und Fred mußte nach allen Seiten hin alle möglichen Auskünfte erteilen. Man wollte wissen, wie es bei der Zügleten zugegangen sei, ob es ihnen in der neuen Wohnung gefalle, was mit den Möbeln geschehen sei, was Mama zum Verkauf gesagt habe, ob sie auf das Schützenfest hin wohl einmal alle zusammen hieher kämen, und dergleichen mehr.

      «Hast du den Karl am Bahnhof noch gesehen?» fragte Onkel Robert, der durch seine mächtige Gestalt, seine Haltung und die Art seines Essens den Tisch durchaus beherrschte. Er saß in Hemdärmeln an der obern Schmalseite und ließ sich in seiner Beschäftigung, die ihn sehr in Anspruch nahm, nicht ernstlich stören. Ab und zu warf er eine Frage hin oder hörte mit halbem