Russische Freunde. Barbara Lutz

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Название Russische Freunde
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919299



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Mann, den er selbst nicht kannte, und bei dem es sich nicht um den Toten handelte. Die beiden Männer hatten sich während einer Stunde in einem der Massageräume unterhalten, und sie hatten einen Tee getrunken. Als Pereira schliesslich abschliessen wollte, stellte er fest, dass er seinen Schlüsselbund nicht hatte. Er suchte ihn an allen möglichen Orten, im Bad, in den Massageräumen und in seinem persönlichen Schrank. Schliesslich hatte er resigniert und die restliche Nacht beim Eingang auf den Morgendienst gewartet. Er sagte, er habe den Verstorbenen weder tot noch lebendig gesehen noch überhaupt bemerkt, dass jemand im Bad war.

      Die Portugiesin hatte die erlaubte Mittagszeit längst überschritten und wollte nun gehen. Sie stand bereits, als ihr etwas einzufallen schien und sie sich wieder hinsetzte. Sie sah mich an.

      «Der Verstorbene, dein Freund, hat vor ein paar Tagen einen Garderobekasten gemietet. Ganz hinten gibt es ein paar Kästen für Kurgäste, die mehrere Tage bleiben. Ich kann mich daran erinnern, weil er Probleme hatte, den Schrank zu finden. Ich musste ihm helfen. Als ich heute in der Zeitung das Foto sah, habe ich gedacht, das ist dieser Mann, den kenne ich. Ich kann dir den Kasten zeigen, vielleicht willst du seine persönlichen Sachen mitnehmen. Ich weiss nicht, wer sie sonst will. Bisher hat sich niemand gemeldet.»

      Offensichtlich kam sie nicht auf die Idee, dass sich die Polizei für den Schrank interessieren könnte. Sie ging, um einen Ersatzschlüssel zu holen. Ich versprach, ihn ihr anschliessend zu bringen, denn sie musste dringend zur Arbeit.

      Die Garderoben im Kurbad sind gemischt. Ich wartete, während ich an meinen Haaren herumrubbelte, bis sich die Garderobe geleert hatte. Die Portugiesin hatte mir den Schlüssel in bester Absicht gegeben, ich aber war mir sicher, dass es sich um eine Angelegenheit der Polizei handelte. Nicht nötig also, dass andere beobachteten, wie ich mich an dem Kasten zu schaffen machte. Obschon die Familie, die sich umständlich darum bemühte, alle ihre Kleinkinder wieder in Kleider und Schuhe zu stecken, ganz offensichtlich mit anderem beschäftigt war.

      Sobald ich allein war, öffnete ich Juris Schrank. Duschmittel, Badeschlappen, ein russischer Roman. Zwei Toilettentaschen im oberen Fach, in der ersten befanden sich wie erwartet Badeartikel. Im zweiten Beutel fand ich nichts ausser einem robusten braunen Briefumschlag. Ich warf einen Blick hinein und hielt die Luft an. Das Couvert war mit Geld gefüllt. Prall gefüllt. Mit Tausendfrankenscheinen.

      Die Garderobe war immer noch leer. Reflexartig schob ich das Couvert in mein feuchtes Handtuch. Kaum hatte ich den Schrank wieder geschlossen, wurde plötzlich die Tür aufgestossen, und zwei jüngere Männer kamen herein. Ich sah sie nur aus den Augenwinkeln, als ich den Raum verliess, das feuchte Handtuch mit dem Couvert gegen die Brust gedrückt.

      Ich suchte die Portugiesin und fand sie in der Damensauna, wo sie mit einem Gummischrubber Wasserpfützen Richtung Ausguss beförderte. Ich gab ihr den Schlüssel zurück und sagte, dass sich nur Toilettenartikel im Schrank befänden, nichts wirklich Persönliches. Dann erklärte ich ihr, dass wir besser abwarten sollten, ob die Polizei den Schrank sehen wollte. Sie nickte mir zu, und ich ging. Um das Bad zu verlassen, schloss ich mich einer grösseren Gruppe an. Die Dame an der Kasse war zu beschäftigt, um zu sehen, wie ich mich durch die Absperrung drückte. Zwei Männer, vielleicht die beiden aus der Garderobe, beobachteten mich bei meinem Manöver, sagten aber nichts.

      Es war etwas wärmer geworden, und die Sonne schien blass durch die Wolken, als ich ins Freie trat. Ich brachte das alles nicht auf die Reihe. Das Geld befand sich jetzt in meiner Plastiktasche, neben dem feuchten Handtuch und dem nassen Badeanzug. Ich hatte instinktiv gehandelt und einen Blödsinn gemacht, das wusste ich. Es war beunruhigend, aber es fühlte sich auch gut an, das Geld. Trotzdem musste ich mir überlegen, was ich nun unternehmen wollte.

      Manchmal hilft es, wenn ich mich bewege. Ausserdem wollte ich alleine sein und das Couvert untersuchen. Ich studierte die gelben Wanderschilder in der Dorfmitte und lief dann los in Richtung Thermalquellenweg. Auf wackeligen Metallbrücken und über Holzstege führte er in eine Schlucht. Ich begann zu rennen, plötzlich süchtig nach Bewegung, es tat so gut. So stürmte ich in die Schlucht, unter mir toste ein Bach. Bis ich ausser Atem stehen bleiben musste. Ich stützte mich auf das Geländer und starrte auf die Wassermassen unter mir. Der Lärm des stürzenden Wassers schluckte alle Geräusche, das Rauschen tat mir wohl. Was blieb, war eine diffuse Angst. Ich hatte Angst. Etwas mir völlig Unverständliches spielte sich ab.

      Hinter dem Wasserfall am Ende der Schlucht weitete sich das Bergtal. Die Bewegung hatte meine Anspannung ein wenig gelöst, die Wildheit der Umgebung hatte mich beruhigt. Ich suchte mir abseits des Weges einen einsamen Platz. Ein paar Meter oberhalb des ausgeschilderten Wanderpfads fand ich, umgeben von Tannen und Gestrüpp, eine flache Mulde. Dort wickelte ich den etwas feucht gewordenen braunen Umschlag aus dem Badetuch.

      Es war viel Geld. Ich hatte ungefähr die Hälfte gezählt und war schon bei fünfzigtausend Schweizer Franken angelangt. Woher hatte Juri bloss das Geld? Da sind hunderttausend drin, dachte ich gerade, als ich unter mir auf dem Weg eine leise Stimme hörte. Auf dem Wanderweg unter mir standen die beiden Männer, die mich beim Badausgang beobachtet hatten. Ich hatte sie nicht kommen hören, und auch jetzt bewegten sie sich leise und vorsichtig wie Tiere und beobachteten die Gegend. Sie gingen ein paar Schritte weiter, dann trennten sie sich, einer blieb circa zehn Meter von mir entfernt stehen, der andere ging den Weg entlang weiter. Ich blieb erstarrt sitzen.

      «Die sind hinter mir her.»

      Mein Hirn war über diesem Satz eingerastet, ich atmete flach, kämpfte gegen eine unerträgliche Nervosität in meinen Handflächen und Beinen, fast schon ein ziehender Schmerz. Falls sie mich hier fanden, brauchte ich gar nicht erst davonzulaufen. Weil ich nicht in die Schlucht zurückwollte. Und am Berghang würden sie mich früher oder später einholen. Ich bewegte mich nicht, atmete kaum. Eine Ameise hatte sich an meinem Hals verirrt, sie krabbelte verzweifelt an meinem Schlüsselbein entlang und suchte einen Ausgang. Ich empfand eine tiefe Sympathie für sie, ich hoffte für sie, dass sie ihn fand.

      Irgendwann kam der zweite Typ zurück, breitete ratlos die Arme aus und deutete gestikulierend in ein paar Richtungen. Die Männer blieben noch einen Moment lang stehen und kontrollierten wachsam die Gegend. Ich duckte mich noch tiefer, das Gesicht nach unten gesenkt, wie wenn mein Blick den ihren anziehen könnte, dann entfernten sie sich. Ich dankte nachträglich der Verkäuferin im Sportgeschäft, die mir die erdfarbene, hässliche Wanderkleidung verkauft hatte.

      Viel später sah ich die beiden Männer auf der gegenüberliegenden Talseite, sie beobachteten immer noch die Gegend, waren nun aber zügiger unterwegs. Der Rundweg führte von dort aus wieder hinunter ins Dorf. Ich wartete, bis sie verschwunden waren. Dann versteckte ich meine Tasche unter ein paar Tannenzweigen, entnahm ihr nur das Geldcouvert und mein persönliches Portemonnaie mit Ausweisen. Ich beschloss, die Dämmerung abzuwarten. Erst als das Licht schwächer wurde, ging ich auf dem gleichen Weg, den die Männer gewählt hatten und der nicht durch die Schlucht führte, zurück ins Dorf. Am Anfang schlich ich noch stückchenweise vor und hielt mich möglichst abseits vom Spazierweg. Aber je näher ich dem Dorf kam, desto sicherer fühlte ich mich. Ich bezweifelte inzwischen, dass die Männer hinter mir her gewesen waren. Als ich mich der Pension Cordula näherte, war ich sicher, dass mir niemand folgte. Ich war meiner eigenen Panik erlegen. Vielleicht eine Form von schlechtem Gewissen. Wegen des Geldes.

      Ich wollte die Pension am Abend trotzdem nicht mehr verlassen. Ich blieb in meinem Zimmer. Auf dem Boden und auf allen verfügbaren Flächen breitete ich Geldscheine zum Trocknen aus. Sie gemeinsam mit dem Badeanzug in ein feuchtes Tuch zu wickeln, war nicht schlau gewesen. Es handelte sich um hunderttausend Franken, das wusste ich jetzt. Die Summe war so abstrakt, dass sie mich kalt liess, und überraschenderweise schlief ich tief und traumlos. Als ich am Morgen aufstand, um den Vorhang aufzuziehen, musste ich über das Geld laufen, die Scheine blieben an meinen Fusssohlen kleben.

      7

      Beim Frühstück in der düsteren Gaststube, wiederum als einziger Gast, traf ich den Entschluss, zur Polizei zu gehen. Ich hatte mich noch einmal mit der Serviceangestellten von vorgestern unterhalten. Juri hatte weder Besuche gehabt, noch war er angerufen worden. Er hatte ein paar Nächte in der Pension geschlafen und war tagsüber unterwegs gewesen. Mehr wusste man nicht über ihn. Ich würde mich bei der Polizei als