Название | Russische Freunde |
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Автор произведения | Barbara Lutz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919299 |
Beim Polizeiposten in Leukerbad handelte es sich genaugenommen um zwei Räume im Gemeindehaus. Durch eine Glastür betrat ich den Posten, die beiden Schreibtische hinter der Schranke waren verwaist, und der Raum war leer. Auf der Besucherseite stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Korbstühlen, ich setze mich, bereit zu warten. Zwei Männer sprachen im Nebenraum.
«Vorläufig haben wir ja nicht viel gegen Pereira in der Hand. Er behauptet steif und fest, Salnikow nicht gekannt zu haben. Das heisst, gekannt schon, ein einziges Mal seien sie sich in einer Bar begegnet. Aber er habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Vielleicht können wir ihm das Gegenteil nachweisen. Vielleicht melden sich ja noch Zeugen, die die beiden zusammen gesehen haben.»
«Er lügt natürlich. Aber was hat er denn genau ausgesagt? Immerhin hat er doch zugegeben, dass er sich nach Badeschluss mit einem Besucher herumgetrieben hat?»
Beide Männer sprachen in breitem Walliser Dialekt, ein älterer und ein jüngerer Mann, der jüngere sprach viel schneller und selbstbewusster.
«Ich kann dir schon sagen, was in seiner Aussage steht.»
Ich hörte wie eine Schublade aufgezogen und wieder zugestossen wurde, dann das Rascheln von Papier.
«Bei Badeschluss, das Putzpersonal war schon weg, wollte er die vorgeschriebene Kontrollrunde machen, sagt er.»
Es war wieder die ältere Stimme, die sprach, und ich stellte mir einen behäbigen, lokalen Polizeibeamten vor, der sonst mit Diebstählen beschäftigt war.
«Ein junger Bursche sei vor dem Eingang gestanden und habe dort gegen die Scheibe geklopft. Weil er ganz durchnässt und verfroren ausgesehen habe, habe er ihn hereingelassen, sagt Pereira. Ein knapp zwanzigjähriger junger Bursche, etwas ungepflegt, nur in einem T-Shirt, ohne Jacke, so beschreibt ihn Pereira. Er habe ihm ein Handtuch gebracht und ihm angeboten, sich drinnen aufzuwärmen. Später hat er ihm einen heissen Tee gemacht, den sie zusammen im Massageraum getrunken haben. Das alles soll eine Stunde gedauert haben, höchstens.»
«Und was wollte dieser unbekannte Bursche in Leukerbad?»
«Er habe zu Pereira gesagt, er sei im Regen zu Fuss von Leuk heraufgelaufen, weil seine Tante hier eine Ferienwohnung habe. Er sei ein Schweizer, der aber in Frankreich lebe. Er habe kein Geld und sei per Autostopp unterwegs. Die Wohnung der Tante sei verschlossen gewesen, niemand da. Als er gesehen habe, dass im Bad noch Licht sei, habe er sich gedacht, mindestens ein Handtuch würde man ihm dort vielleicht geben. Das soll er so dem Pereira erzählt haben.»
«Und dann?»
«Pereira ging raus, um – verspätet – seine Kontrollrunde zu machen und um das Bad abzuschliessen. Da habe er dann gemerkt, dass seine Schlüssel weg waren. Er ging zurück ins Massagezimmer, und der junge Bursche war verschwunden.»
«So ein Quatsch. Gibt es irgendwelche Zeugen, dass es den Jungen überhaupt gibt? Ist er gesehen worden?»
«Nein, gesehen hat ihn niemand. Wer die Tante mit Ferienwohnung sein könnte, haben wir auch nicht herausgefunden. Aber Pereira behauptet steif und fest, er sei mit diesem Tramper zusammen gewesen. Und er sagt, es sei gut möglich, dass ihm der Kerl die Schlüssel gestohlen habe, zum Beispiel, als er zum Automaten ging, um Tee zu holen.»
«Du glaubst dem Pereira doch nicht, oder? Das klingt alles sehr an den Haaren herbeigezogen», die jüngere Stimme war befehlsgewohnt, «ich bin überzeugt, Pereira hat Salnikow ins Bad geholt. Ein schwules Paar, das sich nachts ein Rendezvous gab. So war das doch. Was dann passiert ist, ob es ein Unfall war oder mit Absicht geschah, das werdet ihr schon noch herausfinden. Eifersucht, ein Liebesspiel, was weiss ich, vielleicht ja auch ein Missverständnis.»
Es klang fast nach einer Anweisung, wie der Fall zu lösen sei.
«Wir können nicht einmal beweisen, dass Pereira von Salnikows Anwesenheit im Bad wusste. Er wird heute Nachmittag freigelassen, vorläufig jedenfalls.»
«Was habt ihr denn übrigens bei Juri Salnikow gefunden, in seinem Zimmer? In der Pension Cordula war das, nicht wahr? War da nichts Auffälliges? Ihr habt doch das Zimmer durchsucht. Habt ihr etwas gefunden, Geld zum Beispiel?»
Welches Geld? Was weisst du vom Geld? Bei den letzten Sätzen sass ich kerzengerade. Der Mann hatte die Frage nicht zufällig gestellt. Sein Tonfall, irgendetwas verriet es mir. Ich war alarmiert.
«Bist ja gut informiert, Lothar, es stimmt, er hat in der Pension Cordula gewohnt», antwortete der ältere Polizist. «Aber in seinem Hotelzimmer war nichts, was uns weiterbringen würde, kein Geld, nur eine Kreditkarte. Ein paar Kleider, dann noch Prospekte, die er sich hier im Reisebüro besorgt hat. Nichts Auffälliges. Im Bad haben wir übrigens seine Kleidung im Gang gefunden, an einer Garderobe. Normalerweise hängen die Leute dort nur ihre Badetücher auf. Er muss sich also direkt im Gang umgezogen haben, aber das Bad war ja vermutlich auch schon lange leer zu dem Zeitpunkt», der ältere Mann stockte, «trotzdem, vielleicht hatte er ja auch noch einen Garderobekasten. Das werden wir prüfen.» Seine Stimme verriet, dass er sich bewusst war, etwas versäumt zu haben.
«Das mache ich», die Reaktion des jüngeren Mannes kam schnell, zu schnell. «Das kann ich für dich erledigen. Wenn ich im Bad bin, frage ich Frau Walser wegen dem Garderobekasten. Ich informiere dich dann», schob er, wie wenn er sich mässigen wollte, betont ruhig nach. «Und passt auf, dass der Pereira nicht verschwindet, wenn ihr ihn jetzt freilasst. Ich muss zurück ins Büro. Du hältst mich aber auf dem Laufenden, Karl? Rufst mich an, wenn du etwas Neues hast. Wir wollen den Ruf unserer Bäder und unserer Gemeinde nicht aufs Spiel setzen. Der hat in der Vergangenheit schon genug gelitten. Wir müssen sorgfältig überlegen, was an die Öffentlichkeit geht.»
Erst jetzt wurde mir klar, dass der jüngere Mann gar kein Polizist war. Im gleichen Moment trat er aus dem Nebenzimmer. Ein einflussreicher, lokaler Geschäftsmann, vermutete ich, vielleicht der Bürgermeister, vielleicht der Geschäftsleiter des Bades. Sehr gepflegt, wellig geföhnte graumelierte Haare. Nervös. Mit einem misstrauisch abschätzenden Blick musterte er mich: «Warten Sie schon lange?»
«Nein, nein, kein Problem. Noch keine Minute, ich bin grad hereingekommen und sowieso, ich bin nicht pressiert. Mindestens in den Ferien sollte man doch Zeit haben», ich lächelte ihm vertrauensvoll in die Augen. Inzwischen war auch der ältere Polizist aufgetaucht und sah mich an.
«Ich wollte bloss schauen, aber vielleicht bin ich gar nicht richtig hier», ich stockte, immer noch auf der Suche nach einer Ausrede, «verkauft die Polizei nicht manchmal auch Fahrräder, solche, die gefunden wurden und nie abgeholt worden sind? Wir wollten mal schauen, ob wir nicht ein paar alte, gebrauchte Fahrräder finden könnten für unser Ferienhaus.»
Ich hatte kein Vertrauen in den Polizisten, nein, besser gesagt, ich traute seinem Besucher nicht. Da ging ich lieber zu Ricklin. Nachdem der Polizist meine Frage bedauernd verneint hatte, verliess ich den Posten. Das Geld knisterte in meiner Hose.
Immerhin hatte ich erfahren, dass Alexandre Pereira am Nachmittag freikommen würde. Ich ging auf die Suche nach der Portugiesin, und sie verriet mir seine Adresse. Direkt neben Pereiras Wohnblock fand ich ein Restaurant mit Terrasse. Jetzt, am späten Vormittag, erlaubte es die Sonne sogar, draussen zu sitzen. Das einzige, was den unerwarteten Sonnentag trübte, war ein Anruf von Petar, Juris russischem Freund aus Bern. Ich brachte es nicht über mich, ihm von Juris Tod zu berichten, nicht hier, nicht jetzt. Ich sagte ihm nur, dass ich gerade keine Zeit hätte zum Sprechen.
Insgesamt wartete ich beinahe vier Stunden auf Pereira. Deshalb bestellte ich mir, nach mehr als zwei Stunden Warten, ein Mittagessen. Wohl wissend, dass ich nur mit Juris Geld bezahlen konnte. Aber auf das musste ich sowieso zurückgreifen, auch für die Nächte in der Pension. Später nahm ich ein üppiges Dessert, zwei Cafés und wieder Wein. Womit ich auch den Kellner besänftigte, bevor ich ihm zum Zahlen einen Tausendfrankenschein entgegenhielt. Es war ja nicht viel, was ich mir vorübergehend ausborgte, höchstens dreihundert Franken, beruhigte ich mich, als mir der Kellner das Wechselgeld in die Hand drückte.
Gegen